Elf
Kate konnte nicht länger bleiben als die ursprünglich geplanten zwei Wochen, und der 22. Mai stand vor der Tür. Mit all den Briefen, die sie in Somerville zu lesen hatte, und den Romanen der Whitmore, die Somerville vollständig besaß, und den Hutchins-Romanen in der Bodleian-Bibliothek – ganz zu schweigen von den Gesprächen und Spaziergängen mit Phyllis – würde Kate kaum rechtzeitig fertig werden. Sie mußte aber unbedingt zu Leos letzten Baseballspielen wieder zurück sein. Die Krise am St. Anthony’s schien einen Stillstand erreicht zu haben, jedenfalls für den Augenblick. Währenddessen war Kate in Oxford, was Max anging, zu alarmierenden Schlußfolgerungen gekommen. An einem Abend gelang es ihr, alles als dumme Phantastereien abzutun, am nächsten Abend kamen sie ihr höchst vernünftig vor. Wahrscheinlich hätte sie zwischen diesen beiden Möglichkeiten endlos geschwankt, hätte sie nicht eines Abends gegen halb zehn in ihrem Hotel die Nachricht vorgefunden, sie möge Mr. Reston anrufen.
Kate wählte die Nummer auf dem Zettel und fand sich mit dem Merton College verbunden. »Mr. Reston bitte«, sagte sie und fragte sich, was passiert sein mochte, wie Max dorthin gekommen war und warum. Aber als sich dann ein Mr. Reston meldete, war es nicht Max, sondern Herbert Reston.
»Ich hoffe, ich rufe nicht zu spät an«, sagte Kate.
»Ganz und gar nicht. Ich bin erst heute morgen angekommen und habe mich kurz mit Hugh unterhalten. Er schlug vor, daß wir uns vielleicht treffen. Und da Sie die Gärten der Colleges so lieben, meinte er, daß wir das hier in unserem Garten tun sollten. Ich komme vorbei und hole Sie ab.«
»Das ist nicht nötig«, sagte Kate. »Wir treffen uns in ein paar Minuten an der Pförtnerloge, falls Sie so spät am Abend nicht zu müde sind für ein Gespräch.«
»Keineswegs. Ich bedaure nur, daß uns keine Zeit bleibt, etwas Zivilisierteres zu arrangieren, aber leider muß ich morgen wieder in London sein. Ich bin nur für eine Nacht hier. Also dann in ein paar Minuten.«
In England bleibt es natürlich im dort so genannten Sommerse-mester bis zehn Uhr abends hell. Man vergißt, dachte Kate, wie weit nördlich England liegt und wie angenehm es von diesem wunderba-117
ren Golfstrom erwärmt wird. Herbert Reston war schon da, erwartete sie an der Pförtnerloge, und als erstes fiel Kate auf, wie wenig er Max ähnelte.
Sie gingen zusammen in den Garten, von dem man bis zum Christ Church Meadow sehen konnte. Es war das Schönste, was Kate sich im Zusammenhang mit England vorstellen konnte. »Man hat mich noch nie zu einem Dinner im Speisesaal eingeladen«, sagte sie zu Herbert Reston, »und ich brenne auch nicht besonders darauf. Ich glaube nämlich fast, daß das hier viel schöner ist, vor allem, weil Besucher das College gar nicht betreten dürfen.«
»Der Garten ist wunderschön, aber ich weiß trotzdem, was Sie denken, nämlich daß ich Max überhaupt nicht ähnlich sehe. Ich bin kahl, pummelig und ein umgänglicher Mensch, Max dagegen groß, schmal und lässigelegant. Ich fühle mich immer ein wenig wie auf dem Prüfstand.«
»Max sagte mir, Sie lebten in Amerika.«
»Ich verbringe viel Zeit in Amerika, bin aber auch oft hier. Die Medizin ist heutzutage zum Glück ein internationales Geschäft.
Wollen wir uns setzen?«
»Verzeihen Sie«, sagte Kate und ließ sich äußerst damenhaft auf einen Sitz fallen, damit auch er sich setzen konnte. »Ich war mit meinen Gedanken woanders. Es ist nett von Ihnen, daß Sie sich einen Moment Zeit genommen haben.«
»Sie sind eine Frau, der es seit Jahren gelingt, einen äußerst starken Eindruck auf Hugh zu machen. Das ist in der Tat etwas Einmaliges. Er ist nämlich normalerweise nicht der Mann, der leicht zu be-eindrucken wäre. Einer der Mängel wissenschaftlich geschulter Köp-fe, fürchte ich, und er wird immer dann sichtbar, wenn so ein Wissenschaftler mit einer Persönlichkeit konfrontiert ist statt mit einem Theorem. Max hat das oft beklagt.«
»Waren Sie als Jungen gute Freunde?«
Falls Reston die Frage seltsam fand, ließ er sich das nicht anmerken. »O ja, bevor wir zur Schule gingen, ganz gewiß, und auch in der Grundschule, wo wir der große und der kleine Reston waren, obwohl der große von Anfang an viel kleiner war als der kleine – eine Tatsache, mit der ich, der größere, mich seit langem abgefunden habe.
Max ähnelt unserem Vater, der groß und schlank war, ich unserer Mutter, die klein war und in ihren späteren Jahren eher tonnenför-mig. Wahrscheinlich wäre sie immer schon rundlich gewesen, aber junge Frauen wissen zweifellos, wie sie diese Neigung unter Kon-118
trolle halten können. Dabei fällt mir ein: Meine Schwester sieht mir ähnlicher als Max, aber sie ist bis heute längst nicht so rund. Eine meiner ersten Erinnerungen an Max ist, daß wir aus dem Kinder-zimmer ausziehen und unserer Schwester Platz machen mußten, und Max sagte: ›Es macht mir nichts aus, mit Bertie ein Zimmer zu teilen, solange ich lesen darf, wenn er schnarcht.‹ Max war damals ein Kleinkind und konnte überhaupt noch nicht lesen. Wir waren alle der Meinung, daß er schrecklich arrogant war, und wie ich höre, ist er das heute noch. Nicht, daß ich ihn nicht mögen würde, damals wie heute.«
»In Oxford würde Max wahrscheinlich nicht weiter auffallen, aber in Amerika hebt er sich ziemlich ab. Haben Sie ihn nicht vor kurzem gesehen?«
»Da ich hauptsächlich in Chicago arbeite und Max nicht zur Hochzeit unseres Neffen gekommen ist, habe ich ihn schon länger nicht mehr gesehen. Max mag keine Hochzeiten. Er schickt immer ein aufwendiges Geschenk, und deshalb verzeiht man ihm nicht nur seine schlechten Manieren, sondern bestärkt ihn sogar darin.«
»So hat er es mir auch erklärt. Mr. Reston, ich fürchte, diese Unterhaltung kommt Ihnen reichlich seltsam vor, aber da Sie morgen schon wieder fahren… Also, ich interessiere mich brennend für die beiden Freundinnen Ihrer Mutter aus Somerville, Dorothy Whitmore und Cecily Hutchins. Vielleicht hat Hugh Ihnen davon erzählt.
Könnten Sie mir wohl von Ihrer Mutter erzählen? Irgendwie ist mein Bild von ihr etwas verschwommen im Vergleich zu den beiden anderen. O je, ich hoffe, das klingt jetzt nicht unhöflich. Natürlich bin ich keiner von ihnen jemals begegnet, aber die Briefe der beiden anderen sind nur dank der Freundlichkeit Ihrer Mutter in Somerville.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich glaube, die Zeit in Oxford und London waren die glücklichsten Jahre im Leben meiner Mutter. Sie wissen ja, kurz nach dem Krieg kam mein Vater und zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Ich glaube, es ist ihr nie in den Sinn gekommen, sich zu fragen, was sie in den folgenden zwanzig Jahren überhaupt getan hat. Inzwischen war Tante Dorothy tot – wir haben sie immer so genannt –, und Cecily Hutchins lebte in Amerika und schrieb Romane. Oh, ich glaube schon, daß sie ihre Freude an uns Kindern hatte, als wir noch klein waren. Und mein Vater und sie führten, wie wohl in den Zwanzigern so üblich, ein sehr fröhliches Leben. Ich erinnere mich, daß Tante Dorothys postum veröffentlichter Roman so um 1938 verfilmt wurde. Max und ich bekamen schul-119
frei und durften zur Premiere nach London fahren. Mutter kümmerte sich um die Stipendien, die Dorothy in ihrem Testament Somerville hinterlassen hat.« Reston seufzte. »Als Heranwachsender redet man nicht wirklich mit seinen Eltern, obwohl Max das ein bißchen mehr getan hat, glaube ich. Aber ich hatte das Gefühl, daß sie bald nach Dorothys Tod irgendwie auflebte, als sie das literarische Erbe zu verwalten hatte. Dorothy hat Max Erstausgaben von all ihren Romanen hinterlassen und mir Geld für ein Motorrad. Ich erinnere mich, daß ich ein bißchen beleidigt war, obwohl ich natürlich ganz wild auf ein Motorrad war. Ich wußte auch, daß ich über ihren Tod eigentlich hätte trauriger sein sollen, als ich war. Jugendliche sind so egozentrische Bestien. Heute wünschte ich, ich hätte sie besser gekannt.«
»Hat sie Sie oft besucht?«
»O ja. Wir sahen sie ziemlich oft, nachdem Cecily Hutchins nach Amerika gegangen war. Aber irgendwie hat sie sich immer mit Max unterhalten. Außerdem liebten beide Pferde, ich aber nicht. Ich bin immer im Sattel hin und her gerutscht, und bei der ersten sich bie-tenden Gelegenheit warf mich das Pferd ab. Wissen Sie, Max ist erwachsen zur Welt gekommen, genau wie sein Namensvetter Beerbohm.«
»Hat man ihn nach Beerbohm benannt?«
»Also, das habe ich immer vermutet, aber meine Mutter hat es geleugnet. Sie sagte, es sei ein alter Name in unserer Familie, aber ich bin kein einziges Mal auf ihn gestoßen. Tante Dorothy fand den Namen perfekt.«
Es war Abend geworden. Zwar sah Kate noch den Himmel, der sich hell von den Zweigen der hohen Bäume absetzte, doch der Tag war vorbei. »Erinnern Sie sich noch an Max’ Geburt? Ich meine, genau?«
»Überhaupt nicht. Kindern wurde kein Einblick in die Dinge des Lebens geboten, nicht einmal in den Zwanzigern. Ich war vier, und man hatte mich zur Großmutter ans Meer verfrachtet. Als ich zu-rückkam, war er einfach da, lag in den Armen seiner Nanny und sah aus, als gehöre ihm alles. Max hat es immer geschafft, so zu wirken, sogar als er ein paar Wochen alt war. Ich erinnere mich, wie die Kinderfrau Max den Besuchern vorführte und sagte: ›Ist das zu glauben? So ein hübscher Kerl.‹ Als drei Jahre später meine Schwester zur Welt kam, fand ich die ganze Prozedur entsetzlich langweilig.
Mittlerweile wußte ich natürlich schon, woher die Babys kamen. Als ich meine Mutter nach Max fragte, behauptete sie, sie hätte ihn unter 120
einem Stachelbeerstrauch im Garten gefunden. Wie die meisten erwachsen gewordenen Kinder habe ich, als ich selbst Vater wurde, nicht die gleichen Fehler gemacht wie meine Eltern mit mir, dafür aber alle anderen. Meine Kinder wußten genau, woher die Babys kamen, auch schon als sie noch so klein waren, daß sie alles andere eher interessiert hat. Das Leben ist seltsam, nicht wahr?«
»Sehr seltsam«, sagte Kate, »und es ist wirklich außerordentlich nett, daß Sie mit mir sprechen. Haben Sie den Eindruck, daß Oxford sich von einem Besuch zum anderen sehr verändert?«
»O ja, Oxford verändert sich. Das ist auch etwas, worin Max und ich verschieden sind. Max mag keine Veränderungen, während ich zumindest zugebe, daß sie unvermeidlich sind, wenn sie auch nicht immer in der Form stattfinden, die wir gern hätten. Aber eines muß ich sagen: Sie im großen Speisesaal wären mir höchst willkommen.
Ich hoffe, das eines Tages zu erleben.«
Sie standen auf und schlenderten, zum Eingangstor zurück.
»Bleiben Sie lange in England?« fragte Kate.
»Leider muß ich zurück nach Chicago, wo es jetzt schrecklich heiß ist. Aber ich hoffe sehr, daß wir uns wiedersehen, Miss Fansler.
Sie haben mich dazu gebracht, an meine längst vergangene Jugend zurückzudenken, und das ist mir seit Ewigkeiten nicht mehr passiert.«
»Sie sind wirklich zu freundlich, mir eine impertinente Frage nach der anderen zu beantworten. Glauben Sie, ihre Mutter hätte gern wissenschaftlich gearbeitet?«
»Um Himmels willen, nein. Sie ist zweisprachig aufgewachsen und hat ihr Examen in Französisch gemacht. Sie hat wie wild alles gelesen, was ihr unter die Finger kam, und alle Ideen aufgesogen, ohne sie in ein System zu bringen. Sie war keine Wissenschaftlerin wie die beiden anderen. Die hätten mit Forschungsstipendien in Oxford bleiben können, wenn sie sich nicht für London entschieden hätten, um von der Luft zu leben, zu schreiben und für den Völkerbund zu arbeiten. Für Mutter war dieser Entschluß ein Glück, denn sonst hätte sie sie früher verloren. Gute Nacht, Miss Fansler. Oder besser: Au revoir.«
Kate sagte gute Nacht und wanderte tief in Gedanken nach Hause.
Am nächsten Morgen war sie so früh im Somerville, daß sie eine Zeitlang unter den Buchen auf und ab gehen mußte, bis die Bibliothek aufmachte. Sie war entschlossen, in den Papieren, vor allem in 121
den Briefen, den Beweis zu suchen, von dessen Existenz sie jetzt überzeugt war. Es war nicht nur eheliche Zuneigung, die sie an Reed denken ließ. Sie hörte schon seine Warnung vor voreiligen Schlüssen. Aber sie zog gar keine voreiligen Schlüsse. Sie näherte sich nur ganz gezielt einer Schlußfolgerung, so, wie ein Hund sich vorsichtig an ein Murmeltier heranpirscht. »Keine Theorien, die den Fakten vorauseilen, Kate. Sagt man nicht so in der Literatur?« Sie hörte seine Stimme, als stünde er neben ihr. »Bestimmt nicht«, antwortete sie und verblüffte die Bibliothekarin, die gerade angerannt kam und etwas von einem steckengebliebenen Bus und einem impertinenten Busfahrer erzählte. Die Bibliothekarin wohnte im Norden Oxfords.
Kate zog sich mit den Papieren in eine Nische zurück und schaute vor allem die aus der Kriegszeit gründlich durch. Es hatte tatsächlich eine männliche Einheit im Nachrichtenkorps in Frankreich gegeben. In den Briefen, die die Whitmore nach Hause schrieb, war die Rede von Ausritten mit einem Sergeanten, der ihre Leidenschaft für Pferde teilte. Sie ritten auf Arbeitspferden, die sie sich von den französischen Bauernhöfen ausliehen. Vielleicht hatte es auch vor dem Krieg einen Mann gegeben. Aber es war anzunehmen, daß ein Mann, den sie zu Hause getroffen und in den sie sich vielleicht verliebt hatte, aus Kreisen stammte, die in ihrer Familie als akzeptabel gegolten hätten. Kate verfolgte jedoch eine andere Theorie und suchte nach einem Liebhaber niedrigeren Standes.
Die Frage war, wo hatte die Whitmore ihn kennengelernt? Wenn sie tatsächlich, wie es schien, einen gewissen Hang zu linker Politik gehabt hatte, dann war sie ihm vielleicht in irgendeinem sozialisti-schen Club begegnet. Aber das gehörte eher in die dreißiger Jahre.
Im viktorianischen England hätte Kate natürlich genau gewußt, welche kirchliche Gruppe sich in welcher Stadt warum getroffen hat; über das gesellschaftliche Leben der zwanziger Jahre außerhalb von Londons Literatenzirkel wußte sie nur unangenehm wenig Bescheid.
Zwar war alles möglich, aber Kate neigte zu der Theorie eines Liebhabers während des Krieges. Vielleicht war er nach seiner Entlas-sung und einer Reihe unbefriedigender Jobs in London aufgetaucht.
Er konnte alles mögliche gemacht haben. Der springende Punkt war
– und mußte sein –, daß er nach London zurückgekehrt war, die Whitmore wiedergetroffen hatte und ihr Liebhaber geworden war.
Warum hatten sie nicht geheiratet? Vielleicht paßte ihr eine Heirat nicht ins Konzept. Vielleicht war der Mann schon verheiratet, und die Geschichte war nur das trunkene letzte Aufflackern einer Kriegs-122
romanze. Vielleicht gehörte sie auch zu diesen unabhängigen Frauen, die ein Kind haben wollten, aber keinen Ehemann, und die darauf achteten, daß der Vater nichts von seinem Glück erfuhr. Fragen nach der Vaterschaft hatten oft seltsame Folgen-Die gemeinsamen Londoner Jahre der drei Frauen waren leider am wenigsten dokumentiert. Da sie sich zu der Zeit regelmäßig sahen, gab es kaum Grund, sich Briefe zu schreiben, und was sie ihren Eltern schrieben (zumindest die Whitmore), klang jetzt eher nichtssagend denn bekennerisch. Aber Moment mal, es mußten doch ein paar Kalenderdaten zu finden sein. Kate zog das ›Who’s Who‹ zu Rate. Max war 1926 geboren, sein Bruder Herbert 1922, also in dem Jahr, in dem seine Eltern geheiratet hatten (wenn auch am anderen Ende).
Cecily war 1925 mit Ricardo nach Amerika gegangen. Wenn die drei Frauen in irgendeiner Form über dieses Thema korrespondiert hatten, müßten wenigstens ein paar dieser Briefe bei Cecilys Papieren liegen, die jetzt sicher in Wallingford verwahrt waren. Kate hatte zwar keine Beweise, hätte aber eine hübsche Summe darauf verwet-tet, daß sie weder in Wallingford lagen noch sonstwo.
Warte einen Moment, sagte Kate zu sich selbst. Augenblick mal.
Willst du etwa irgendwem diese höchst verleumderische Theorie vortragen? Einmal ausgesprochen, würde es sehr schwer sein, sie wieder aus den Köpfen der anderen zu vertreiben – dabei gab es nicht einmal den Hauch eines Beweises. Wirklich nicht? Die ganze Geschichte war so eindeutig, daß Kate sich zurückhalten mußte, um sie nicht gleich an der Bibliothekarin auszuprobieren. Aber man mußte sich bewußt sein, daß dies kein literaturgeschichtliches Seminar war, wo man mit Enthusiasmus die Abstammung von Shakes-peare oder Prinz Albert erforschte, oder die Autorenschaft der Briefe, die Héloïse an Abélard schrieb, klären wollte. Ihr spezielles kleines Problem dagegen hatte Auswirkungen juristischer Natur. Sie waren widerlich und schmutzig, und Gerry Marstons Familie hatte dazu vielleicht auch noch etwas zu sagen, ganz zu schweigen von der Polizei und den Gerichten. Langsam, Kate. Hast du auch nur die Spur eines Beweises?
Während ihr Verstand Phantomen nachjagte, gingen ihr Leos Brief über Fußball und die anschließende Diskussion mit Phyllis und Hugh durch den Kopf. Hugh hatte von den unteren Klassen geredet.
In England hatte dieser Ausdruck eine Bedeutung, die in Amerika einfach nicht vorhanden war. Dort sprach man zwar von Hausmäd-123
chen und Dienstpersonal, von Arbeitern mit weißem oder blauem Kragen, aber nur Snobs und Dummköpfe interessierten sich dafür, was die Eltern von dem und jenem gewesen sein mochten. In England war das anders: Dort redete man von seinen Vorfahren, dort trugen die niedrigeren Klassen andere Hüte als die höheren und sprachen eine andere Sprache, und Privatschule oder nicht beeinflußte das ganze Leben. Kate erinnerte sich, in einer englischen Zeitung gelesen zu haben, daß Trainer schon unter zwölfjährigen Jungen Anwärter für künftige Fußballprofis auswählten und diese dann offen und ohne Umschweife auf eine derartige Karriere vorbereiteten. In Amerika war es offiziell nicht einmal erlaubt, daß ein Profi-Football-Team einen Jungen auf dem College auswählte. Würde ein Mann mit dem Geschmack und der konservativen Einstellung von Max einen Vater, der immerhin der jüngere Sohn eines jüngeren Sohns eines Herzogs war, gegen einen tauschen, der als Angehöriger der Arbeiterklasse in den Streitkräften gedient hatte, und gegen eine Feministin, deren moralische Grundsätze nicht gerade die passendsten waren?
Noch einmal hielt Kate inne. Wie sah es mit einem Testament aus? Hatte die Whitmore eines gemacht? Natürlich hatte sie das, die Bibliothekarin hatte gleich am ersten Tag davon erzählt. Da gab es diese Stipendien in Somerville, die Herbert Reston erwähnt hatte.
Dorothy Whitmore hatte die Tantiemen aus dem Verkauf ihrer Bü-
cher im Stipendienfonds festlegen lassen, für ein Mädchen, das schon einen Beruf gehabt hatte, bevor es nach Oxford kam. Hier hatte das Schicksal eine schöne Entwicklung genommen, denn ihr letzter Roman war so erfolgreich geworden – er wurde sogar verfilmt
–, daß der Fonds nun jedes Jahr für fünf und mehr Mädchen ausreichte. Wichtig war, daß das Geld für Mädchen bestimmt war, die schon gearbeitet hatten. Sympathie für die Arbeiterklasse ließ sich nicht wegdiskutieren. Ohne Zweifel hatte Frederica angeboten, Max zu adoptieren, hatte ihn bereits adoptiert und zu Dorothy gesagt: Du brauchst ihm kein Geld zu hinterlassen. Wieviel Geld hatte die Whitmore überhaupt besessen? Konnte irgend jemand im voraus wissen, daß aus ›North Country Wind‹ ein Bestseller und ein erfolgreicher Film würde? Kate trat ans Fenster, sah auf den Tennisrasen hinab und auf die Blumenbeete dahinter, und plötzlich dachte sie an Graves, wie er in Pyjama und Morgenmantel im Somerville herum-gewandert war und wie sein Tutor vor ihm, dem Offizier, salutiert hatte. »Das gesellschaftliche Leben war aus den Fugen geraten«, 124
hatte Crackthorne geschrieben. So war es. Es mußte am Krieg gelegen haben. Irgendwem mußte sie das auseinandersetzen. Sie würde Phyllis die ganze Geschichte erzählen. Phyllis hatte einen scharfen und klaren Verstand und ging unvoreingenommen an alle Dinge heran. Falls Kate Schimären nachjagte, würde Phyllis Gott sei Dank die erste sein, die ihr das sagte.
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Zwölf
Phyllis tat es laut, klar und unmißverständlich, nachdem sie sich Kates Geschichte bis zum Schluß angehört hatte – eine Geschichte, die sie für die widersinnigste seit Ian Flemings unglücklichem Ende hielt. »Du hast dich verirrt, meine Liebe«, verkündete sie, wenn auch nicht unfreundlich.
In gewisser Weise fand Kate diese Haltung sogar beruhigend.
Tatsächlich hatte alles allzu klar und eindeutig ausgesehen, und nichts im Leben ist je so.
»Laß trotzdem deine Einwände für einen Augenblick beiseite«, sagte sie, »und hör dir noch zwei Aspekte dieses Problems an. Der eine ist Max’ schriftstellerische Tätigkeit und sein Image in der Öffentlichkeit; der andere liegt in der Persönlichkeit der jungen Dorothy Whitmore. Zunächst zu Max. Ich habe mir aus dem ›Who’s Who‹ eine Liste seiner Publikationen kopiert. Die meisten seiner Bücher habe ich selbst gelesen, schließlich ist er ja ein Freund. Sie kommen allesamt zu dem Ergebnis, daß sowohl in der Kunst als auch im täglichen Leben der Standard unweigerlich sinkt. Über das tägliche Leben äußerte er sich dabei weniger ausführlich, wenn ich das so sagen darf. Jedenfalls pflegte er zu einer Zeit, als Professoren und Verwaltung in der Mehrzahl der Studentenrevolution und diesen Dingen vielleicht nicht gerade freundlich gegenüberstanden, sich aber einer Machtverschiebung in unserer Gesellschaft zumindest bewußt waren, weiterhin sein altes autoritäres Ego mit einer außergewöhnlichen Blindheit für die Realität des Krieges in Vietnam. Gut, du nickst und bist einverstanden, und ich sollte jetzt meinen Stand-punkt folgen lassen, und der lautet: Dieser Mann will auf gar keinen Fall durch die Geschichte seiner Geburt in das Blickfeld feministischer Schriftstellerinnen und der feministischen Forschung geraten, zumal seine Mutter den Radikalen, die er heute so verabscheut, fatal ähnlich ist. Und noch viel schlimmer: Sein Vater ist allem Anschein nach nicht eine dieser hochgewachsenen und wunderbar arroganten Erscheinungen à la Lord Riddlesdale von J. S. Sargent, sondern ein arbeitsloser Niemand aus der Unterschicht ohne Herkunft und Bildung.«
»In Ordnung, das leuchtet mir ein. Ganz bestimmt, du kannst es mir glauben, Kate. Wenn du den Horror beschreibst, den Max vor allem hat – von der modernen Welt im allgemeinen bis zur Aufde-126
ckung dieses schrecklichen Geheimnisses im besonderen, das schwarz auf weiß in Cecilys Papieren nachzulesen ist –, dann kann ich dir nicht nur folgen, sondern hechele mit Begeisterung sogar noch ein Stück voraus. Aber vergiß nicht, was du damit behauptest, nämlich, daß er deine Studentin, die kleine Marston, über den Papieren erwischt, sie auf die Felsen gelockt und ermordet hat. Alles das, um die Geschichte seiner schmachvollen Geburt vor der Welt zu verbergen? Das ist sehr neunzehntes Jahrhundert, meine Liebe, um nicht zu sagen achtzehntes. Und dabei steht nicht einmal eine fabel-hafte Erbschaft auf dem Spiel. Wenn es etwas zu erben gab – was wir nicht wissen –, dann kannst du bei einer Familie wie den Restons sicher sein, daß es getreu der Tradition an den ältesten Sohn ging, und nicht an Max. Ich habe übrigens das Erstgeburtsrecht immer abgelehnt, denn man kann seinen Kindern gegenüber nur eines tun: teilen, und das zu gleichen Teilen. Man muß allerdings zugeben, daß es, wenn schon nicht für die Kinder, so doch für den Familienbesitz gut ist. Der bleibt auf diese Weise über Generationen ungeteilt erhalten.«
»Und die jüngeren Söhne ziehen aus, suchen sich eine Frau aus der neureichen Mittelklasse und füllen so nicht nur ihre Tasche, sondern frischen auch das Genpotential der Sippe wieder auf.«
»Zweifellos. Aber in diesem Fall geht es gar nicht um eine Erbschaft. Sicher, Max ist ein Snob, vielleicht der Inbegriff des echten, authentischen Snobs, wie es ihn heute gar nicht mehr gibt, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß er jemanden tötet, um seinen guten Ruf zu schützen. Max hätte schließlich nur die Papiere vernichten oder aus dem Weg räumen müssen«, schloß sie und hielt offenbar das Thema für erschöpfend abgehandelt. »Dann hätte sein Wort gegen das des Mädchens gestanden, das sich immerhin des Einbruchs schuldig gemacht hatte. Wer würde da noch auf sie hören?
Möchtest du ein Bier oder einen Scotch?«
»Bier«, sagte Kate. »Ich bin süchtig danach geworden, wie du vorausgesagt hast. Vielleicht hast du recht«, setzte sie hinzu und kam wieder auf Max. »Aber ich glaube es nicht. Ich muß darüber nachdenken, wie ich weiter vorgehe. Was stand deiner Meinung nach in den Papieren?«
»Welchen Papieren? Den Papieren, die gar nicht existieren, außer in deiner kindlichen Phantasie?« Sie reichte Kate ein Bier.
»Es muß Briefe gegeben haben«, sagte Kate, griff nach dem Bier und ignorierte den Kommentar. »Briefe von der Whitmore an Frede-127
rica, die nach dem Tod von Dorothy an Cecily gingen.«
»Wenn die Whitmore so eine verdammte Sozialistin war, die sich, wie Helen an den Hals von Leonard Bast, aus reinem Mitleid einem Arbeiter an den Hals warf, warum um alles in der Welt hat sie ihn dann Max genannt? Das ist doch wirklich der allerletzte Name für ein Kind der Liebe aus den unteren Schichten.«
»Stimmt genau. Den Namen hat bestimmt Frederica ausgesucht.
Um von seiner Herkunft abzulenken. Phyllis, denk doch einmal nach! Wie viele Brüder kennst du, die sich so wenig ähneln wie Max und Herbert Reston? Der eine klein, der andere groß, der eine dick, der andere dünn – all das ist möglich, aber irgendeine Ähnlichkeit gibt es immer! Meine Brüder sind, jeder für sich und einer so scheußlich wie der andere, in die Jahre gekommen, aber wenn man weiß, daß sie Brüder sind, ist die Ähnlichkeit zwischen ihnen un-
übersehbar. Selbst ich sehe ihnen ein bißchen ähnlich – vorzugswei-se bei Dämmerung und im Gegenlicht.«
»Hast du dich jemals gefragt, wer dein Vater war, du Nachkömmling, du? Der Unterschied ist nur: Wenn sich herausstellte, daß dein Vater Arbeiter in einem Blechwalzwerk in Skaneateles war und deine Mutter sich zur Zeit der Hoover-Regierung dem Weißen Haus eng verbunden fühlte, wärst du überglücklich.«
»Zur Hoover-Zeit haben sich die Leute dem Weißen Haus nicht verbunden gefühlt. Sie haben am Ufer des Potomac kampiert.«
»Du hast Max und Herbert nie zusammen gesehen.«
»Sie empfinden sich als sehr verschieden, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Das geht deinen Brüdern und dir nicht anders. Kate, Kate, wohin soll das alles nur führen?«
»Du hast Gerry Marston nicht gekannt. Sie war ein liebenswertes Kind. Ihre Eltern waren Arbeiter in einem Walzwerk oder zumindest etwas ganz Ähnliches. Und sie hätte sich einen Namen machen können – hätte das Vergnügen haben können, eine Biographie zu schreiben, was tatsächlich ein großes, wenn auch ein perverses Vergnügen ist. Der einzige Mensch, dessen Biographie Max schreiben sollte, ist Metternich. Oder Talleyrand.«
»Vorschlag von Phyllis an Kate, zur gefälligen Verwendung: Lies alles, was dir über diese Angelegenheit in die Finger kommt, aber halte ansonsten den Mund. Wenn du wieder in New York bist, kannst du Reed alles erzählen oder sogar Max, wenn es absolut sein muß. Aber sprich mit ihm in einem gut besuchten Restaurant und 128
nicht auf irgendwelchen Felsen in Maine. Und trink nichts, was komisch riecht oder schmeckt.«
»Ich glaube nicht«, sagte Kate, »daß du nur halb so skeptisch bist, wie du tust. Aber es ist ein guter Rat, und ich halte mich daran.«
»Das wäre ein Wunder«, sagte Phyllis.
Kurz vor ihrer Abreise erhielt Kate noch ein paar Briefe.
Reed berichtete, daß sich in der Affäre am St. Anthony’s Erstaunliches getan habe: Finlay und Ricardo seien schließlich zum Direktor gegangen und hätten die ganze Sache zugegeben. Das Kollegium bestand darauf, daß der Direktor Harvard über die Fakten, oder, wie man weiterhin sagte, die angeblichen Fakten informierte.
Über Leo und seine Freunde werde in einer Weise geredet, die nach Reeds Meinung Leo ziemlich zusetzte, aber er würde es schon überleben. Reed glaubte, für Leo werde sich jetzt alles zum Guten wenden, und er, Reed, freue sich schon ziemlich auf ihre Rückkehr.
Mr. Sparrow berichtete von seiner neuen Ausstellung in der Bibliothek von Wallingford und wie gut Max mit den Papieren voran-kam. Außerdem ließ er Kate wissen, wie sehr er es bedaure, daß sie als Frau All Souls nicht betreten dürfe.
Phyllis und Hugh planten eine Europareise und würden im Herbst wieder in die Staaten fahren. Phyllis war so offensichtlich begierig, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren, daß sie sogar den Wundern von Griechenland, die sie schon immer hatte erleben wollen, nur trüben Auges entgegensah.
Als ihre zwei Wochen zu Ende waren, nahm Kate sich einen Wagen nach Heathrow und flog in einer 747 nach Hause. Im Ge-päckfach über ihr lagen ein besonders schöner Pullover für Reed, ein altes Jagdhorn für Leo, dem nur mit viel Luft Töne zu entlocken waren, und Notizen zu sämtlichen Papieren der Whitmore.
Inzwischen hatte sie außerdem eine Theorie entwickelt, von deren Richtigkeit sie bei aller Vorsicht im wesentlichen überzeugt war.
Max hatte einen Mord begangen, um die schmachvollen Umstände seiner Geburt zu verheimlichen, und was in aller Welt sollte sie jetzt unternehmen?
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