Sechs

Als Kate ein wenig später im Central Park in der heißen Sonne saß, wünschte sie sich ein Glas, aber nur gegen den Durst, und nicht weil es etwas zu feiern gegeben hätte. Es gab zwar einen Verkaufs-wagen, der das junge Volk mit Coca-Cola oder einer Imitation dessen versorgte, aber Kate hatte schon vor langer Zeit beschlossen, daß selbst drei wasserlose Wochen in der Wüste Cola kaum zu einer Verlockung machen könnten. St. Anthony’s spielte gegen eine ka-tholische Privatschule. Es war offensichtlich, daß Baseball ihnen nicht lag. St. Anthony’s spielte mit einer Art finsterer Überlegenheit, fand Kate. Daß man mit den Spikes an den Schuhen auf den Base-man zurutschen durfte, hatte sie schon gehört, und es war ihr ein Greuel. Daß man den Werfer verhöhnen durfte, um ihn aus dem Konzept zu bringen, und Gegenspieler anrempelte, nur um sie zu verletzen, stieß sie noch mehr ab. Das sagte sie dann auch Leo, als er sich zu ihr auf die Zuschauerbank setzte. Seine Mannschaft war gerade am Schlag, und man hatte Leo ausgewechselt, weil St. Anthony’s schon haushoch führte.

»Verdammt noch mal«, sagte Leo. »So ist das Spiel eben. Beim Frühjahrstraining haben die Texas Rangers die Yankees mit bean balls bombardiert. Das hat ganz schön gekracht.«

»Bean balls? «

»Also wirklich, Kate, liest du denn keine Zeitung? Der Werfer zielt auf den Gegner und versucht, die besten Spieler zu treffen. Billy Martins Idee.«

»Das ist doch nicht dein Ernst.«

»Natürlich gefällt das der anderen Mannschaft nicht.«

»Natürlich. Nehme ich jedenfalls an. Aber Leo, was ist nur aus dieser alten Vorstellung geworden, daß es gar nicht darauf ankommt, ob man gewinnt oder verliert, sondern nur, daß man spielt, so gut man kann.«

»Viktorianisch, oder?«

»Ja, dumm von mir. Wie Joseph Kennedy zu seinen Söhnen gesagt hat: ›In den Ring mit euch und gewinnt!‹ Und wie Vince Lom-bardi zu Nixon oder sonstwem gesagt hat: ›Gewinnen ist nicht wichtig, Gewinnen ist einfach alles.‹ Über den Zusammenhang mit Watergate möchte ich mich nicht auslassen. Bist du sicher, daß du hier neben deiner alternden Tante sitzen willst? Leo, stimmt etwas 61

nicht?«

»Manche Schulen zögern beim Heimspiel den Schlußgong hinaus. Bei uns hat es das noch nie gegeben.«

»Offenbar stellt ihr euch alle für den Friedensnobelpreis an. Als ich jung war, habe ich mir geschworen, daß ich im Alter niemals frage: Was soll nur aus dieser Welt noch werden? Nimm bitte zur Kenntnis, daß ich das auch jetzt nicht tue. Leo, ist wirklich alles in Ordnung? Du sitzt doch sonst nicht neben mir, sondern auf der Bank.« Das war eine feine Unterscheidung, denn die »Bank« am Spielfeldrand und die Zuschauerbank jenseits des Zauns, auf der Kate saß, waren identisch.

»Wirklich, Kate, du brauchst nicht so tun, als spräche ein junger Mann nie mit einer älteren Frau. Als einige meiner Freunde hörten, daß du Professorin bist, wollten sie dich gern kennenlernen. Natürlich würden sie noch lieber Reed treffen und was über die Arbeit eines Bezirksstaatsanwalts erfahren.«

»Hast du ihm schon einmal so ein Treffen vorgeschlagen?«

»Nein, so was muß sich zufällig ergeben. Bis später.«

Kate sah, wie er sich zu seiner Mannschaft setzte. Was war da nicht in Ordnung? fragte sie sich. Er hat sich gerade für Swarthmore und gegen Harvard entschieden, und das war ja kaum ein Grund, bedrückt zu sein. Ich werde anscheinend schrullig – zweifellos der Preis für den Umgang mit jungen Leuten. In dem Augenblick rief der Trainer: »O.k. Ricardo, das wär’s. Ab unter die Dusche.«

Letzteres sollte wohl – mitten im Central Park – eine witzige Bemerkung sein. »Gutes Spiel«, sagte der Trainer. »Genau, Mann«, echote das Team. Kate beobachtete Ricardo, wie er zurück zur Bank schlenderte (stolzierte, schlurfte, gockelte, alles zugleich). Sie versuchte, in seiner Haltung irgendwo den Maler aus Europa wiederzu-entdecken und die Schriftstellerin von unendlicher Sensibilität. Sie sah, wie er sich neben Leo setzte und der ihn begrüßte, kurz danach aber aufstand. Kate rief sich streng zur Ordnung: Das hatte sicher nichts zu bedeuten. Leo schien nach einem Schlagstock zu suchen.

Als sie seinen Blick auffing, winkte sie ihm »Auf Wiedersehen« und schlenderte durch den Park nach Hause.

Daheim wandte sie sich ihrer angesammelten Korrespondenz zu

– angesammelt in dem Sinne, wie sich Staub unter dem Bett ansam-melt. Lunch und Baseball mußten mit Stunden an der Schreibma-schine bezahlt werden. Es schien unfaßbar, daß eine schlichte Literaturprofessorin (im Gegensatz zu einer berühmten Schriftstellerin wie 62

Cecily zum Beispiel) derart viel Post bekam. Reed hatte ihr auf seine praktische Art geraten, sie einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen, eine Sekretärin einzustellen, ein Diktaphon zu benutzen. Kate gefiel keiner der Vorschläge. Sie nahm nicht einmal die Sekretärinnen im Büro in Anspruch, sondern tippte ihre Briefe selber und hoffte, daß auch am Ende eines langen Arbeitstages Syntax, Rechtschreibung und Verstand noch ausreichten.

Die Nationale Stiftung für die Menschlichkeit, Stipendienabtei-lung für Jugendliche, fragte an, ob sie als Gutachterin für sie tätig werden wolle, und hatte dem jungen Mann, um den es ging, vorgeschlagen, ihr zu schreiben. Sein Brief begann mit »Kate« und endete

»Ihr Freund Andy«, obwohl sie bis zu diesem Moment natürlich noch nie von ihm gehört hatte. Es kostete sie große Mühe, sich in ihrer Antwort nicht von diesem ihr fremden, aber kaum weniger noblen Verhaltenskodex beeinflussen zu lassen. Als sie seinen An-trag las, wurde ihr klar, daß sie als Gutachterin nicht in Frage kam, sie glaubte aber, jemanden zu kennen, der dafür geeignet war. Das hieß: einen Brief an diese Person, einen an den jungen Mann und einen an die Stiftung nebst großzügiger Verteilung von Durchschlä-

gen an alle.

In elf Briefen baten Studenten und Ehemalige um Empfehlungs-schreiben. Schuldbewußt legte Kate sie zur Seite und schwor sich, eine halbe Stunde früher aufzustehen und alles zu erledigen, wenn sie ausgeruht war. Verleger baten um ihre Meinung zu bestimmten Büchern (»Selbstverständlich werden wir Ihnen ein kleines Honorar zukommen lassen«). Ankündigungen von Versammlungen zu jedem erdenklichen Thema (entweder war sie so begehrt, oder die vielen anderen Dekane hatten zuviel zu tun, fast immer letzteres) erforderten keine schriftliche Antwort. Sie zerriß ein paar Verlagsankündigungen über Englisch-Handbücher für Erstsemester (es hatte eben auch seinen Vorteil, zu den Älteren zu gehören) und legte die Ver-lagskataloge mit Neuerscheinungen beiseite für später. Dann stieß sie auf einen Brief aus England. Wer, um alles in der Welt…. wunderte sich Kate, aber nur kurz. »Liebe Kate«, begann der Brief, »was Du hier bekommst, ist ein Lebenszeichen von Deiner alten Freundin Phyllis. Eigentlich gibt es mich nicht mehr, denn Oxford hat keinen Platz für Frauen, weder als Studentin noch als Lehrerin. Wenn ich daran denke, daß ich mal über zuviel Arbeit geklagt habe… Sollte ich das je wieder tun, darfst Du mir mit meiner Erlaubnis drei kräftige Ohrfeigen versetzen. Hugh ist natürlich rundum zufrieden. Um 63

die Frauen macht sich in Oxford niemand Gedanken. Man erwartet von ihnen, daß sie guten Tee kochen, die Kinder im Griff haben und sich um die Wäsche kümmern. Was für ein Leben, sogar ohne Kinder. Worauf ich hinaus will: Wenn in Deiner Seele noch ein kleiner Rest Nächstenliebe ist, dann komm nach Semesterende ein paar Wochen nach Oxford und rede mit mir. Ich sehne mich nach Gesprä-

chen mit einem vernünftigen menschlichen Wesen, vor allem mit einem, das eine kritische Haltung zu Amerika hat – Du weißt, Nixon, die Ölkrise, Bürgerrechte. Ich will Dir gern die Kosten ersetzen, solltest Du nicht mehr so wohlhabend sein und es Dir nicht leisten können. Du kannst auch gern bei mir wohnen, aber das würde ich Dir, offen gesagt, nicht raten. Wenn Du kommst (Du siehst, ich sage

›wenn‹ und nicht ›falls‹, rechne also bereits mit Dir) und das Haus siehst, wirst Du meinen scheinbaren Mangel an Gastfreundschaft verstehen. Ich lasse Dir im besten Hotel am Ort ein Zimmer reservieren, sobald Du mir sagst, daß Du kommst und wann. Wärst Du ein Mann, könnte ich Dir irgendeine Einladung besorgen, vielleicht sogar ins All Souls, aber als Frau mußt Du in einem Hotel hausen.

Schreib gleich, daß Du kommst. Das wird mir Hoffnung für die nächsten Wochen schenken und einen Grund weiterzuleben. Ich kann Hugh nicht einfach verlassen und nach Hause fahren oder auf Reisen gehen, weil das aller Welt beweisen würde, daß ich nichts weiter bin als eine unter Zwangsvorstellungen leidende Verrückte und unfähig, ein Jahr lang wie eine ordentliche Ehefrau an der Seite meines Mannes auszuhalten. Das haben alle übrigens schon seit langem vermutet. Und zu Recht, verdammt noch mal.«

Reed erschien in der Tür und störte Kate aus ihrem Tagtraum von Oxford auf und ihren Gedanken, die sich um die Wiederentdeckung von Cecily Hutchins und Dorothy Whitmore drehten. Sie hatte sich in dem, was von dem Oxford ihrer Jugend noch übriggeblieben war, zumindest ihren Geistern nachjagen sehen.

»Einen Drink? Oder brütest du gerade über einem Redeschluß und magst nicht gedrängt werden?«

»Ein Drink wäre mir sehr recht und dazu ein kleines Gespräch.

Ich hoffe, du hattest einen angenehmen Tag. Ich will dich nämlich nicht danach fragen, sondern dir von meinem erzählen.«

»War gewiß interessanter als meiner, selbst wenn du nur Leo beim Baseball zugeschaut hast. Aber ich vermute, es kommt noch mehr.«

»Viel mehr«, sagte Kate, als Reed das Tablett mit den Gläsern 64

und Flaschen ins Wohnzimmer getragen und sie sich gesetzt hatten.

»Zunächst einmal habe ich einen Brief bekommen. Von Phyllis, die vor Langeweile verrückt wird und das Leben als Ehefrau in Oxford nicht aushält. Sie möchte, daß ich sie besuche, wenn mein Semester im Mai vorüber ist. Hast du etwas dagegen?«

»Ich habe es gewußt: Phyllis’ Entschluß, sich ein ganzes Jahr auf diese Weise aus dem Verkehr zu ziehen, war Irrsinn. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir beide sie wiederholt und immer nachdrücklicher davor gewarnt, sich in Oxford einzumauern, weil sie dann einfach als eigenständiger Mensch zu existieren aufhört. Anscheinend ist genau das passiert.«

»Und doch glaube ich, ich verstehe Phyllis sehr gut«, sagte Kate und nahm einen Martini. »Das ist auch der Grund, warum ich sie für eine oder zwei Wochen besuchen möchte, falls du keine leiden-schaftlichen Einwände hast. Sie war in erster Linie gar nicht auf einen Ortswechsel oder einen längeren Urlaub aus. Sie war einfach seit Jahren in die Idee vernarrt, einmal nach Oxford zu kommen.

Genau wie ich. Irgendwie erwartet man immer, in Oxford den Tag bei geheimnisvollen Dinners mit Figuren wie aus einem Roman von Michael Innes zu beenden. Natürlich ist es völlig anders. Aber wenn jemand käme und mich auch heute noch zum Dinner an die hohe Tafel der Oxford-Professoren einladen würde, ich wäre schnell wie der Blitz – quer über den Atlantik. Wahrscheinlich ist es Phyllis genauso gegangen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie in Oxford nur immer als Hughs Frau unter Menschen käme, und auch das nur selten. Lehrer in Oxford behandeln ihre Frauen, wie die meisten Amerikaner ihre Geliebten behandeln – als eine Art peinlicher Not-wendigkeit. Und doch, obwohl ich das alles weiß: Hätte ich einen Wunsch frei, dann würde ich gern eine Zeitlang in einem Oxford-College an der hohen Tafel dinieren, ein Schwätzchen im Senior Common Room führen und einen Portwein im Ge-meinschaftsraum trinken.«

»Du bist unheilbar romantisch«, sagte Reed, »und du kannst Portwein nicht ausstehen. Aber ich finde nichts Schlechtes dabei, seine Träume zu leben, und sei es nur, um festzustellen, daß nie ein Fünkchen Wirklichkeit an ihnen war. Ich hoffe jedoch, Kate, ich hoffe ganz ernsthaft, daß du nun nicht nach Oxford gehst, um wie verrückt dieser Schriftstellerin nachzujagen, über die deine Studentin ihre Arbeit schreiben wollte. Oh, mein Gott, ich sehe schon, genau das hast du vor. Du wirst ohne Zweifel herausfinden, daß sie ihre 65

ganze Oxford-Laufbahn über zweitklassige Poesie geschrieben, auf Parties herumgestanden und Reden gehalten hat und dann mit einem drittklassigen Abschluß entlassen worden ist, nachdem sie bei der mündlichen Prüfung mit den Professoren geflirtet hat.«

»Also«, sagte Kate mit einfältigem Gesicht, » ich wäre von mir aus nie auf solch einen Gedanken gekommen. Aber mir ging durch den Kopf, daß ich, wenn ich schon hinfahre und Phyllis helfe, sich der englischen Wirklichkeit zu stellen, den Dingen auf den Grund gehen könnte, soll heißen, dem Somerville College, wo Cecily Hutchins und Dorothy Whitmore und Max’ Mutter vor mehr als einem halben Jahrhundert ihr letztes Trinity-Semester hinter sich brachten.

Weißt du, Reed, sie sind unter den Blicken der zwölf römischen Kaiser mit dem Rad die Broad Street entlanggefahren, sie haben die Karpfen im Teich an der Christ Church gefüttert und unter den gro-

ßen Blutbuchen im Wadham-Garten gesessen. Irgendwie möchte ich gern auf ihren Spuren wandeln.«

»O Gott«, sagte Reed, »und das nach einem einzigen Martini. Ein wirklich schlimmer Fall. Kann es sein, daß Anfälle von Anglophilie wie eine Vergiftung immer schlimmer werden?«

Welche Antwort Kate auf der Zunge lag, wird man nie erfahren, denn in dem Augenblick kam Leo ins Wohnzimmer. Er ließ sich sofort, wie gewohnt, in einen Ohrensessel fallen und streckte sich darin aus, als wäre es ein Sofa. Es sah aus, als posiere jemand schmerzgeplagt für eine Statue von Michelangelo, und Leos Gesichtsausdruck verstärkte das noch. Gewöhnlich ließ sich Leo weder um diese Zeit noch auf diese Art daheim sehen. Vor dem Essen (wenn er denn da war) pflegte er zu schlafen, zu telefonieren oder eine Coke zu trinken und damit die Kalorien auf ihre süßeste und todbringende Form zu sich zu nehmen. Alkohol trank er, wenn überhaupt, nicht vor den Mahlzeiten und auch nicht in Gegenwart von Kate und Reed.

Energisch verbot sich Kate die Frage, ob irgend etwas nicht in Ordnung sei. Leos Erscheinen sprach für sein Bedürfnis nach einem Gespräch, und eine direkte Frage hätte alles kaputtgemacht. Es herrschte ein langes Schweigen, nur unterbrochen vom Geklapper der Eiswürfel in Reeds Cocktail-Shaker.

»Ist es nicht illegal, jemanden im Umkleideraum abzuhören?«

fragte Leo schließlich.

Reed verschüttete eine ordentliche Portion Martini, was bewies, daß ihn die Frage ebenso überraschte wie Kate. »Illegal? Natürlich 66

ist es illegal. Gleichzeitig ist es heutzutage so selbstverständlich wie Mord und Bestechung. Als Beweismittel vor Gericht ist es wertlos.«

»Was meinst du damit, daß es selbstverständlich ist?« fragte Ka-te.

»Manchmal möchte ich dich am liebsten mein ahnungsloses Rot-käppchen nennen«, sagte Reed. »Jeder Geschäftsmann hat ein Diktaphon, das er mit einem Griff ans Telefon anschließen kann. Eigentlich darf er es nicht einschalten, ohne dem Gesprächspartner Bescheid zu sagen, aber er sagt sich, daß er doch nur eine Abschrift für die Akten braucht. Soviel ich weiß, ist es nicht ungewöhnlich, Leute, mit denen du gerade über eine Fusion verhandelst, mit einem ver-wanzten Firmenflugzeug nach Hause zu fliegen. Gibt es eine bessere Methode herauszufinden, wie die Chancen stehen? Oder man ver-wanzt die Herrentoilette. Vermutlich heutzutage auch die Damentoi-lette. Du hast doch von Watergate gehört, oder?«

»Aber jeder im Weißen Haus wußte Bescheid.«

»Jeder, der im Oval Office irgendeinen faulen Zauber ausheckte.

Aber was ist mit den Burschen am anderen Ende der Leitung? Mit den Staatsoberhäuptern auf Besuch? Mag ja sein, daß sie es gewohnt sind.«

»Kommt man dafür nicht ins Gefängnis?« fragte Leo. »Das habe ich ihnen jedenfalls gesagt.«

»Leo«, sagte Reed, »ich habe das unangenehme Gefühl, wir sollten das Gespräch über Wanzen in Umkleideräumen und die damit zusammenhängenden gesetzlichen Aspekte hintanstellen und zur Sache kommen. Hast du vor, einen Umkleideraum zu verwanzen?«

»Ich bin dagegen«, sagte Leo.

»Wie um Himmels willen willst du das bewerkstelligen?« fragte Kate.

»Also Kate, ich denke, das ist im Augenblick kaum das Thema.«

»Du hörst dich an wie ein Vater im Film«, sagte Kate. »Ehrlich, Leo, natürlich bin ich entsetzt, aber auch furchtbar neugierig.«

»Viele Jungs interessieren sich mächtig für Elektronik. Es gibt jede Menge Überwachungssysteme. Das Pentagon hat Massen davon.«

»Die Frage ist nicht so sehr, warum du Swarthmore Harvard vor-gezogen hast, sondern wie du überhaupt soweit gekommen bist, bei dieser Klarheit deiner Gedanken und Ausführungen. Egal, du kannst es mir ein andermal erklären, wenn wir uns unterhalten, bevor du als Werfer wieder aufs Spielfeld mußt.«

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»Harvard und Swarthmore, das ist genau der Punkt. Harvard jedenfalls. Ach, Scheiße.«

Kate sah Leo an und merkte, daß er, wäre er zehn oder auch nur acht Jahre jünger gewesen, jetzt angefangen hätte zu weinen. Aber weil das in unserer Kultur ja undenkbar ist, hielt er seine geballten Fäuste gegen die Oberschenkel gepreßt. Sein Körper schwankte vor und zurück in dem Sessel, um dessen Beine und Bezug sich Kate keine Sorgen zu machen beschloß. Ihre Mutter, dachte sie mit einer gewissen Befriedigung, hätte sich zuallererst Sorgen um den Sessel gemacht.

»Leo«, sagte Reed, »hat diese Geschichte einen Anfang, oder bist du noch dabei, verstreute Informationen zu sammeln und in einen Zusammenhang zu bringen? Du weißt, du kannst es uns erzählen und dann vergessen, daß du es getan hast. Oder du kannst dir selbst Fragen stellen, dich mit ihnen in die Ecke setzen und auf ihnen herum-kauen. Aber wenn du mit uns darüber reden willst, und ich habe eher diesen Eindruck, können wir dann versuchen, die einzelnen Punkte in eine gewisse Reihenfolge zu bringen, eine vernünftige, logische oder zeitliche, egal welche du bevorzugst?«

Zum erstenmal lächelte Leo. »Reed, du redest schon wie Kate. Ist das immer so bei verheirateten Leuten?«

»Leider nicht«, sagte Reed. »Kate redet einfach mehr wie Kate und kein bißchen wie ich.«

»Also dann«, sagte Leo, »ihr wißt doch Bescheid über College Boards?«

Reed und Kate starrten ihn an. Wenn es je eine rhetorische Frage gegeben hatte, dann diese. Vielleicht gibt es ja irgendwo Eltern eines jungen College-Aspiranten, die tatsächlich nichts über solche Kom-missionen wissen, aber dann muß man wohl vermuten, daß ihre Beziehungen zu dem Sprößling eher gegen Null tendieren. College Boards sind für die Zulassungsstelle eines College das, was eine wissenschaftliche Prüfungskommission für die Aufnahme in Oxford und Cambridge ist. Man kann es auch mit Geld oder sportlichen Leistungen oder einer Kombination aus beiden schaffen, aber der sicherste Weg sind viele Punkte bei den College Boards. Natürlich wird das kein College zugeben, dennoch ist es so. Ein Student, der in Mathematik und sprachlichem Ausdruck bei siebenhundert liegt –

achthundert Punkte sind Spitze –, ist ein ernsthafter Kandidat für jede Zulassungskommission an jedem College. Hinzu kommt noch eine Reihe anderer Faktoren. Wo unter Studenten mit weniger Punk-68

ten ausgewählt werden muß, spielen andere Kriterien eine größere Rolle. Wenn aber ein Student zwar gute Empfehlungen mitbringt, brauchbare Zensuren oder ein gewisses Maß an erkennbarem Talent, vor dem Board jedoch nur fünfhundert Punkte schafft, dann sind seine Aussichten, von einem der bedeutenderen Colleges genommen zu werden, nicht gut.

Kate hatte zu diesen Tests ihre eigene Meinung und war geneigt, sie gefragt oder ungefragt zum besten zu geben. Ihrer Meinung nach war mit ihnen etwas faul. An der medizinischen Fakultät gingen beispielsweise Leute nach den genannten Kriterien vor, und Kate fand die Ergebnisse katastrophal. Egal, was die medizinischen Hoch-schulen behaupteten, sie tendierten dazu, Studenten mit guten Noten in organischer Chemie zu nehmen, die obendrein hohe Punktbewer-tungen von den Boards hatten. Das erklärte zum Teil – für Kate zum größten Teil – die Art von Ärzten und medizinischer Versorgung, mit denen dieses Land geschlagen war. Doch daran konnte sie nichts ändern, und so versuchte sie, sich nicht weiter damit zu beschäftigen.

»Ja«, sagte Reed und sah, wie Kates Gedanken vertrautes Territo-rium durchquerten. »Wir wissen über College Boards Bescheid. Und was weiter?«

»Ich habe diesen November keine SAT’s gemacht, aber ein paar Kumpel…«

»Was hast du gemacht?«

»Das sind Leistungsnachweise zu speziellen Themen.

Das tut hier nichts zur Sache.« Leos Stimme hatte den Ton angenommen, den Jugendliche immer dann anschlagen, wenn sie ihren Eltern oder Erwachsenen, die sie wie Eltern behandeln, eine Sache nicht zum erstenmal erklären. Daß sie selbst häufig Erklärungen verlangen und diese oft wiederholt haben wollen, fällt ihnen natürlich nicht auf. Adoleszenz ist nicht das Alter für solche Gedanken.

Man kann nicht zuvorkommend sein und gleichzeitig in einer Identitätskrise stecken. Das, dachte Kate, ist der beste Grund, Manieren zu lernen, wenn man noch jung ist. Sie fing ihre abschweifenden Gedanken wieder ein. »Ja«, sagte sie, »ich erinnere mich jetzt: Du hast keine SAT’s mehr gemacht, weil du beim erstenmal so gut warst.«

»Klar. Und offen gesagt: Warum soll ich das Risiko eingehen?«

»Sicher eine kluge Entscheidung. Wer hat dann welche gemacht?

Ich meine«, fügte sie hastig hinzu, bevor es blöd klang und sie sich sofort einen Verweis einhandelte, »wer mußte denn das Risiko eingehen?«

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»Zehn Kumpel. Ihre Namen spielen keine Rolle«, sagte Leo düster. »Aber einer von ihnen war Ricardo.«

»Aha, und offenbar war er in der zweiten Runde viel besser.« Ka-te war klar, daß Reed zu hoffen anfing, das Ganze laufe auf einen schlichten Fall von jugendlichem Groll hinaus.

»Viel besser.« Leo sagte es mit solchem Sarkasmus, daß sich seine Lippen verzerrten, ein Effekt, den Kate noch nie an ihm bemerkt hatte. »Er bekam 760 beim sprachlichen Test und 420 in Mathe.«

»Na ja, mit 420 schafft er Harvard wohl kaum, oder?« Kate sagte es mit einem Gefühl, wie sie es oft hatte, wenn Leo ihr erklärte, warum ein Catcher kein Linkshänder sein konnte. Anders Reed.

»Mit anderen Worten«, sagte Reed, »jemand hat den Test für ihn geschrieben, war aber klug genug, keine allzu hohe Punktzahl in Mathe zu machen.«

»Genau. Wenn du selber in Mathematik Spitze bist, ist es natürlich ein bißchen schwer, zu entscheiden, wie viele Fehler man absichtlich einbaut, und… Also hat der Bursche, der die Prüfung für ihn geschrieben und die Fehler hineingebaut hat, die Sache ein biß-

chen vermasselt. Aber mit den 760 aus dem Aufsatz und all seinen anderen sogenannten Qualifikationen ist der andere dann doch in Harvard gelandet. Ich finde, das stinkt.«

»Leo«, sagte Kate und stellte ihren Drink ab. Sie war plötzlich völlig nüchtern. »Da gibt es doch bestimmt eine Aufsicht, sicher schaut da doch jemand…«

»Sicher… Scheiß drauf!« Kate beschloß, unter den gegebenen Umständen Leos Ausdrucksweise einfach zu ignorieren, die stets proportional zu seiner Erregung obszöner zu werden pflegte.

»Wie haben sie es denn angestellt?«

»Sieh mal, da ist ein Raum voller Jungs aus den verschiedensten Schulen der Stadt, die den Test machen. Du unterschreibst mit deinem Namen und füllst ein Formular aus. Der eine muß also so schreiben lernen wie der andere. Wer soll das herauskriegen? Das ist nur eine Art zu schwindeln. Einfacher ist das bei den Leistungs-nachweisen. Du sagst, du willst vier Fächer: Geschichte, Mathe, Französisch, Chemie. Dann konzentrierst du dich die ganzen vier Stunden nur auf ein Fach, streichst die Punkte für die anderen, was erlaubt ist, und hattest so vier Stunden für einen Test, für den andere Leute nur eine Stunde kriegen. Ich kenne einen Typ, der das gemacht hat, und jemand hat es herausbekommen, aber das College Board hat nichts unternommen. Sie können es sich nicht leisten. Sie haben ein 70

Monopol und wollen nicht, daß es Wirbel gibt.«

»Leo«, sagte Kate. »Wollen wir mal gerade die Schwindelme-thoden bei den Tests beiseite lassen, obwohl ich später darauf zu-rückkommen will und dann sicher hysterisch werde. Im Moment sind wir bei den SAT’s. Du sagst, daß einer sie für einen anderen schreiben und man das nicht verhindern kann. Werden diese Tests denn nicht überwacht?«

»Nein. Natürlich hat der erste Bursche die Unterschrift des zweiten gefälscht und ist an seine Stelle getreten.«

»Ist Harvard denn nicht mißtrauisch geworden angesichts der plötzlich gestiegenen Punktezahl dieses Jungen, den wir vielleicht mal Ricardo nennen?«

»Eigentlich nicht. Manchmal passiert so etwas eben. Außerdem hat Ricardo zur gleichen Zeit angefangen, seine schreibende Groß-

mutter ins Spiel zu bringen, und er ist ein ziemlich gewiefter Kerl –

er redet so, als wäre er selbst gerade dabei, einen großartigen Roman zu schreiben. Er ist gut in Englisch, und die Englischlehrer mögen ihn und wissen nicht, was für ein beschissener Typ er ist. Von seiner Großmutter haben natürlich alle gehört. Sowie Harvard diese neue SAT-Punkteliste hatte, war alles o.k.«

»Kann es sein, daß ich in meinem eigenen Wohnzimmer dahin-terkomme, warum es unter den Anwälten so viele Schurken und Dummköpfe gibt?« sagte Reed. »Kann man sich etwa auch bei den Tests für die juristische Fakultät ›vertreten‹ lassen?«

»Langsam, Reed«, sagte Leo. »Das habe ich mich natürlich auch gefragt. Aber da nehmen sie deine Fingerabdrücke. Keine Chance.«

»Weißt du was?« sagte Kate. »Leo mag feixen, wenn er will, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß so etwas am Theban passiert.«

Zu ihrer Überraschung stimmte ihr Leo zu, wenn er auch sonst ihre Reden über die Vorzüge des Theban nicht mehr hören konnte.

»Das genau ist es, was wir kapiert haben. Einige von uns«, fügte er düster hinzu. »Die ganze Schule war von Anfang an ein einziger PR-Trip – Erfolg war das einzige, was zählte, glatt durchkommen, gute Zensuren, cool bleiben. So was mußte ja passieren.«

»Da kommen mir doch so einige Fragen«, sagte Reed. »Um mit der unwichtigsten anzufangen: Wer ist beziehungsweise war Ricardos Großmutter?«

»Cecily Hutchins«, sagte Kate.

»Großer Gott. Das hätte ich mir wohl denken können. Wer sonst in Anbetracht der Familie Fansler?«

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»Ich verstehe wirklich nicht, was du mit dieser Bemerkung meinst«, sagte Kate.

»Ich auch nicht«, stimmte Reed ihr zu. »Langsam begreife ich, wenn wir einmal den Anfang unseres Gesprächs beiseite lassen, Leo, dann hat die ganze Sache mit der elektronischen Überwachung von Umkleideräumen zu tun. Wir kommen darauf so sicher zurück wie MacArthur auf die Philippinen. Aber was geht dir nun so auf den Keks, wenn du mir den Ausdruck verzeihst? Daß jemand gemogelt hat, daß das System nicht funktioniert, daß Jungen, die du lieber magst, nicht auf das College gehen können, das sie sich gewünscht haben, weil sie ehrlich waren? Worum geht es eigentlich?«

»Wenn du anfängst, wie ein in die Jahre gekommener Rockstar zu reden, weigere ich mich, die Unterhaltung fortzusetzen«, sagte Kate, »oder zuzulassen, daß du sie fortsetzt. Obszönitäten bin ich bereit zu überhören, aber ein bestimmter Jargon ist verboten. Absolut verboten.«

»Gott im Himmel«, sagte Leo. »So ein Scheiß.«

»Glaubst du, du solltest etwas unternehmen?« fragte Reed.

»Ich weiß, du meinst, ich sollte nicht«, sagte Leo. »Alle meinen, niemand sollte etwas unternehmen. Einer hat behauptet, das sei an allen Vorbereitungsschulen so üblich. Aber es ist nicht richtig, daß Finlay mich angelogen hat.«

»Finlay?«

»Der Kerl, der den Test geschrieben hat. Er ist ein Genie.«

»Wenn er solch ein Genie ist, hätte er dann nicht darauf kommen können, daß das eine verdammt blöde Geschichte war?« Keine Frage, Reed war außer sich. Kate glaubte langsam zu begreifen, warum.

»Ich hätte euch keine Namen sagen sollen.«

»Das haben wir doch schon geklärt. Es erleichtert die Sache enorm, denn ich hatte schon angefangen, die beiden Burschen, und wer was tat und was nicht, durcheinanderzuwerfen. Wie hat Finlay dich denn belogen?«

»Ricardo hat mir erzählt, daß Finlay für ihn den Test gemacht hat. Er hat damit geprahlt. Ich habe Finlay gefragt, und er hat gesagt, er war es nicht. Er hat gelogen.«

»Komisch, aber laut Jimmy Breslin war das der Grund, warum in der Watergate-Geschichte am Ende die Guten gesiegt haben. Sie hatten was dagegen, belogen zu werden«, bemerkte Kate.

Leo war zwar ein Bewunderer von Jimmy Breslin, ignorierte aber den Einwand.

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»Natürlich sagen die meisten Kumpel, daß man sich nicht einmischen soll«, sagte er. »Aber Ricardo und Finlay haben es getan, oder etwa nicht? Jungs, die ich mag, haben Harvard nicht geschafft. Und die beiden prahlen damit herum. Aber der wirkliche Hammer ist, daß die Schule Bescheid weiß und verdammt noch mal nichts unternimmt.« Leo lehnte sich erleichtert zurück. Jetzt war die Hauptsache heraus.

»Woher weißt du, daß die Schule es weiß?«

»Weil einer es dem Direktor erzählt hat. Das weiß ich.« Es war offensichtlich, daß Leo nicht alle Verschwiegenheit aufzugeben bereit war. »Also hat er Finlay und Ricardo kommen lassen, und die haben geleugnet. Aber er weiß, daß es wahr ist. Er hat nur Angst, daß Finlays Vater, dem Wyoming gehört oder so, ihm die Hölle heiß macht. Und er will jeden Wirbel vermeiden. So eine Geschichte ist nicht gut für das Image der Schule.«

»Aber die Tatsache, daß die ganze Abschlußklasse Bescheid weiß und hier ähnliche Verhaltensweisen wie in Watergate passieren, macht ihm nichts aus. Darum geht es dir doch?« sagte Kate.

»Könnten wir Watergate nicht außen vor lassen?« sagte Reed.

»Ich weiß, du hast recht. Es ist ein Watergate im kleinen. Ich ziehe meine Frage zurück. Ich nehme an, Leo, du weißt, wie – verdammt –

fast alle Eltern in Amerika reagieren würden, wenn du ihnen mit der Geschichte kamst. Sie würden sagen, wie schrecklich sie es fänden, und dir als ihrem Kind raten, sich da nicht einzumischen. Weil am Ende immer du der Dumme bist. Rechtschaffenheit ist eine sehr unpopuläre Einstellung. Wir haben nichts dagegen, wenn andere Leute die Dreckarbeit für uns machen, aber wir behalten uns das Recht vor, sie als moralische Schweinehunde zu bezeichnen, wenn sie es tun. Deswegen war es auch nur Nixons irrwitzige Torheit, die die Politiker dazu gezwungen hat, etwas gegen ihn zu unternehmen.

Ich weiß, ich weiß, wir diskutieren hier nicht über Watergate.«

»Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll«, grummelte Leo.

»Es kotzt mich nur an, und viele andere auch. Na gut, einige andere.«

Reed sah ihn an. »Irgend etwas ist dir eingefallen. Was?«

»Es war wirklich nicht meine Idee. Ein paar aus meiner Klasse meinten, wir sollten es wenigstens dem Lehrerkollegium gegenüber erwähnen. Ihnen die Möglichkeit bieten, es zu erfahren. Und es ein bißchen herumzuerzählen. Die Sache nicht einfach in Vergessenheit geraten lassen. Finlay und Ricardo werden uns wahrscheinlich um-73

bringen«, setzte er hinzu. »Entweder das, oder sie stecken mir heimlich Heroin in die Tasche und rufen die Bullen.«

Reed und Kate starrten ihn an. In ein paar Monaten wurde er achtzehn. Ein Teil von ihm war schon erwachsen, wußte um die Risiken, schätzte die Kosten ein und entschied, was die Wahrheit und das Gesetz ihm wert waren. Ein anderer Teil war noch Kind und machte sich, wie er das ausgedrückt hätte, in die Hosen vor Angst.

Kate sprach als erste. »Der größte Fehler wäre in diesem Fall Überheblichkeit, Rechthaberei oder so.«

Reed sagte: »Wenn ich dich richtig verstehe, wollen die meisten anderen es auf sich beruhen lassen.«

»Genau. Sie sagen, man soll sich nicht in das Leben anderer einmischen. Aber wo hört das auf? Ich meine, wir mogeln alle, das gebe ich ja zu, aber es muß doch eine Grenze geben.«

»Warum zum Teufel können die solche Tests nicht besser über-wachen?« fragte Kate.

»Könnten wir noch einmal auf diese Geschichte mit den Wanzen zurückkommen, Leo?« fragte Reed. »Paßt die hier irgendwie hinein?«

»Ich könnte ins Gefängnis kommen«, sagte er düster.

»Du und die anderen Jungs. Aber hinter was wart ihr denn her mit eurer Elektronik?«

»Die beiden sind so raffinierte Lügner. Sie geben damit an und leugnen trotzdem ganz überzeugend alles ab. Und Finlay hat mich angelogen, einen seiner engsten Freunde.«

»Vom Direktor ganz zu schweigen.«

»Genau. Also…«

»Also wolltet ihr es auf Band haben. Ich nehme an, ihr wolltet sie im Umkleideraum damit prahlen lassen. Ein hervorragender Ort für Angebereien, das kann ich bestätigen.«

»Das war der Plan der anderen, Reed«, sagte Leo. »Sie meinten, selbst wenn wir über die Wanzen nicht reden dürften, würden wir dann zumindest wissen. Ich bin dagegen, wir wissen ja sowieso Bescheid. Das ist nicht der Punkt. Die Frage ist, ob wir an der Schule dagegen etwas unternehmen.«

»Kannst du dich erinnern«, fragte Reed Kate, »wann wir das letzte Mal drei Martinis getrunken haben?«

»Das kann ich. Die Umstände sind in keiner Weise auf diesen Fall übertragbar.«

»Ihr meint also im Unterschied zu all den anderen Eltern, ich soll 74

tun, was ich für richtig halte, wenn ich es wirklich will?« sagte Leo.

Reed mixte die Drinks, bevor er antwortete. »Ich werde nie ein Vater sein, Leo, außer so, wie dir gegenüber, und ich habe keinerlei Recht, mich auf Elternpflichten zu berufen. Ich tue es trotzdem.

Eltern sind in den Augen ihrer Kinder entweder die Stimme des Gesetzes und der Vernunft und halten sich an die Konventionen, oder sie sind gar nichts. Da ich hier als Vater auftrete, werde ich in diesem Sinne sprechen. Aber erwarte keinen Ruhm. Die meisten Menschen, die sich für das Gesetz stark machen, erwarten Dank dafür. Doch sie werden nur angespuckt. Man kann nur dann für das Recht kämpfen, wenn man es für so wichtig hält, daß man keine andere Möglichkeit sieht. Möchte mich jemand als Redner für Dip-lomfeiern engagieren? Mein Honorar ist niedrig und mein Vortrags-stil üppig.«

»Ich frage mich, was Cecily Hutchins wohl von alldem gehalten hätte«, sagte Kate. Aber eigentlich fragte sie sich, was Gerry Marston wohl davon gehalten hätte. Oder Max.

Nach einem Dinner, bei dem die ganze St.-Anthony’s-Geschichte noch einmal durchgekaut wurde – denn erst wenn Fragen gestellt und viele Aspekte erörtert worden sind, kann man Entscheidungen fällen, und nachdem Leo sich zurückgezogen hatte, wanderten auch Reeds Gedanken zu Max.

»Hast du irgend etwas Weltbewegendes oder zumindest Tröstliches erfahren, heute mittag beim Lunch? Du bist ja noch gar nicht dazu gekommen, mir davon zu erzählen.«

»Max hat mich beruhigt, so gut er konnte, und ich bin geneigt, andere Gefühle meiner überhitzten Phantasie zuzuuschreiben – eine Diagnose, der du, wie ich weiß, im Prinzip zustimmst, wenn nicht sowieso. Ich weiß noch immer nicht, was das Mädchen dort gewollt hat. Ich weiß nur, daß sie mutig und abenteuerlustig war. Aber warum ist sie auf die Felsen hinausgeklettert? Dabei gebe ich mir dann zur Antwort, ich bin – eine Frau mittleren Alters und angeblich ganz vernünftig – auch hinausgeklettert. Und so drehe ich mich im Kreis, lieber Reed, wie das meine Gewohnheit ist. Möchtest du dich einrei-hen?«

»England wird eine Erholung für dich sein. Wann geht dein Semester zu Ende?«

»In der ersten Maiwoche, wenn ich ganz niederträchtig bin und am Ende der Vorlesungen gleich davonsause, statt zu warten, daß man mich in irgendeinen Ausschuß schleppt oder zu einer Prüfung 75

oder so. Aber meinst du denn, ich sollte fahren? Und Leo mit dieser ganzen Geschichte allein lassen?«

»Also wirklich, Kate! Jetzt überkommen dich aber alle weiblichen Schuldgefühle. Du bist nicht seine Mutter, und außerdem: Was kannst du für ihn tun? Bis Anfang Mai wird die ganze Angelegenheit in einer anderen Phase sein, wenn nicht sowieso völlig verändert.

Mütterliche Frauen opfern sich immer für ihre Kinder auf, um dann festzustellen, daß ihre Kinder sie gar nicht so sehr brauchten. Leo ist schließlich fast achtzehn.«

»Reed, du bist ein scharfsinniger Mensch, wenn ich das auch selten erwähne. Mir ist vor kurzem genau das aufgefallen, was du meinst. Weibliches Schuldgefühl. Ich kenne eine Professorin, eine sehr bedeutende, die für den Rest des Semesters all ihre Kurse abgesagt hat, weil ihr Mann einen Herzanfall hatte. Na ja, es war verdammt beunruhigend, und ich habe mit ihr gefühlt. Aber in einer Ecke meines Innern habe ich mich immer wieder gefragt: Hätte er seine Kurse auch abgesagt, wenn sie einen Herzanfall gehabt hätte?

Die Antwort lautete natürlich nein. Er wäre auch besorgt gewesen und hätte alte Vorlesungstexte genommen, um möglichst viel Zeit für sie zu haben, aber er hätte begriffen, daß eine Absage seiner Veranstaltungen überhaupt nichts gebracht hätte. Die Professorin dagegen machte sich Sorgen darum, wie herzlos es wirken würde, wenn sie ihrer Arbeit nachging wie immer. Sehr unfraulich.«

»Stimmt genau. Fahr nach England. Und denk daran, du kannst, wenn es sein muß, in zehn Stunden zurück sein. Würdest du zögern, nach St. Louis zu fahren?«

»Allerdings. Was könnte einen denn nach St. Louis ziehen?«

»Aha, das klingt wieder mehr nach dir selbst. Erzähl mir von Max.« Und als Kate ihm alles erzählt hatte, meinte er, es gebe keinen besseren Ort, um jemandes Papiere aufzubewahren, als Wallingford, auch wenn man dort ein bißchen an altmodischen Traditionen hänge.

Warum rief Kate nicht einfach den Burschen an, der für Cecilys Papiere verantwortlich war, und plauderte ein wenig mit ihm über dies und das?

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