Acht

Die erste Maiwoche und mit ihr die letzten Vorlesungen: Kate hatte Phyllis geschrieben und sich für den 8. Mai angekündigt. Im Mai ging es – wie jedes Jahr – in der akademischen Welt deutlich hektischer zu als im April, März oder Februar. Die Universität wurde von Papier überschwemmt: Seminararbeiten, Magisterarbeiten, Dis-sertationskapitel sprossen hervor wie die Osterglocken. Oder meinte sie Tulpen? Kates botanische Vergleiche waren immer etwas nebulös. Alles, was Kate wirklich über Osterglocken wußte – von Wordsworths eher hysterischer Bewunderung für sie einmal abgesehen-, war, daß sie blühten, bevor die Schwalben kamen. Nur, wann die Schwalben sich heimwagten, war so die Frage… Und so geht es mir mit allen anderen Dingen auch, dachte Kate trübsinnig.

»Der einzige Vorteil in meinem Leben«, hatte sie kürzlich zu Reed gesagt, »ist, daß es so viele verschiedene Probleme birgt und ich mich keinem lange genug widmen kann, um darüber zum Kata-toniker zu werden.« Das Problem mit erfolgreichen Geschäftsleuten war beispielsweise, daß sie einfach immer bei ein und derselben Sache blieben und ihre Konzentration niemals auf andere Dinge lenkten. Gewiß liebten auch sie Erholung und Entspannung, aber nur um Geschäftssorgen zu vergessen und nicht als eine gleichwertige Alternative. Ist es das, was mir an Geschäftsleuten schon immer mißfallen hat? fragte sich Kate. Oder ist dieses Vorurteil nur eine mürrische Reaktion auf meine unmögliche Verwandtschaft?

Das brachte sie natürlich auf Leo. In wenigen Minuten mußte sie zu einer Ausschußsitzung. Vor zehn Minuten hatte sie einen Kurs beendet. Jetzt saß sie in ihrem Büro und legte schuldbewußt den Hörer neben das Telefon.

Sie wollte einen Augenblick nachdenken. Über Leo, über Gerry Marston. Über England.

»Sein Problem ist«, hatte Leo einmal über jemanden gesagt, »daß er mit sich selbst nicht ins reine kommt.« Leo steckte voll von diesen Phrasen, den Klischees seiner Generation, die größtenteils für man-gelnde Integration sprachen. Kein Wunder. Kate erinnerte sich, daß Leo einmal auf die Frage, was er von einem Gast halte, geantwortet hatte: »Ich weiß nicht, wohin er gehört.« Kate fand, daß beide Phrasen ihre gegenwärtige Lage, oder zumindest einige knifflige Situati-onen in ihrem Leben, ziemlich gut beschrieben. Dennoch mußte sie –

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zumindest sich selbst gegenüber – zugeben, daß sie, seit Max in ihrer Hütte aufgetaucht und Leo den Kampf gegen die Gemeinheit in dieser Welt aufgenommen hatte, sich munterer fühlte oder einfach weniger mutlos. War man denn so abhängig von äußeren Anstößen?

Von Spitzfindigkeiten abgesehen, ging es schlicht darum, daß wir uns zugehörig fühlen wollen zu etwas, das in Bewegung ist. Konnten der Tod der armen Gerry oder die Betrügereien Ricardos als Bewegung interpretiert werden? Manche, dachte sie, verbringen ihr Leben damit, sich auf etwas vorzubereiten, was wahrscheinlich nie eintref-fen wird; andere leben so wie ich in einem Zustand unruhigen, aber lebendigen Unvorbereitetseins. Wegen Leo, Wallingford, der Arbeit an der Universität und der vielen Stunden, die die Konferenzen am Ende des Semesters verschlangen, war sie seit Wochen nicht mehr in ihrer Hütte gewesen. Ich muß wieder hin und das alles verkraften, dachte sie, wenn ich aus England zurück bin. Im Augenblick bin ich völlig verwirrt.

Immer wenn sie sich, selten genug, in ihrem Büro verbarrikadiert hatte und nicht stören ließ (Tür verschlossen, Licht aus, Hörer neben der Gabel), dachte sie an die freundliche, hilfsbereite, dreiundzwan-zigjährige Gerry Marston – ein Mädchen, das wußte, was es vom Leben wollte oder zumindest in welchem Teil ihrer selbst ihre Möglichkeiten zum Arbeiten und zur Liebe steckten (beides hatte Freud mit jener seltenen Schlichtheit, zu der die Großen finden, als die entscheidenden Dinge im Leben bezeichnet). Jetzt war sie tot, und Kate wünschte mit ebenso heftiger wie irrationaler Inbrunst, heraus-zubekommen, warum sie gestorben war und wie. Aber was konnte sie noch unternehmen? In Kriminalromanen, die sie in den letzten Jahren immer weniger gelesen hatte, machte sich der Detektiv einfach an die Arbeit und klärte den Fall auf. Alle möglichen Ereignisse führten ihn dann von einem Verdächtigen zum nächsten, gar nicht zu reden von weiteren Morden und Mordversuchen. (Kate dachte dabei besonders an Dick Francis, dessen Bücher sie noch immer las, weil sie ihn mochte und weil sie neugierig war, wie er diesmal wieder die Pferde ins Spiel brachte.) Im wirklichen Leben schaffte man einfach eine Leiche von den Felsen fort, und der liebe Neffe geriet in eine moderne Welt voller Gewalt, Vandalismus, Betrug und Erfolg, der nichts mit Leistung zu tun hatte. Und während einem die Leiche dort in der Mulde zwischen den Felsen nicht aus dem Kopf ging, verschwand man nach England, um zu erkunden, ob das Somerville College sich in den letzten fünfzig Jahren verändert hatte.

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Es klopfte. Kate öffnete und sah Evergreen vor der Tür stehen.

»Kommen Sie mit zur Sitzung?« fragte er. Sein Büro lag gleich neben ihrem. »Ich bin gleich soweit«, antwortete Kate, lächelte und schloß die Tür wieder, damit er nicht den Hörer neben der Gabel liegen sah, der ihr ein blödsinniges Schuldgefühl machte. Die Tatsache, daß sie das Licht gelöscht hatte, um nicht durch die Glasscheibe in der Tür gesehen zu werden, war ein Trick, dessen sich alle bedien-ten, die im Dunkeln denken oder auch schreiben konnten. Ein Kollege – ein Professor für Literatur der Renaissance – konnte das nicht und ließ deswegen an der Innenseite der Tür einen Rollo anbringen, so daß man nun nicht sehen konnte, ob bei ihm Licht war oder nicht.

Raffiniert.

Kate legte den Hörer wieder auf die Gabel, und sofort läutete es.

Max war am Apparat.

»Na endlich. Ich dachte schon, Sie wären gerade dabei, zusammen mit dem Präsidenten höchstpersönlich die Universität zu reor-ganisieren.«

»Nicht sonderlich wahrscheinlich. Obwohl ich zugebe, wenn er mich darum bäte, könnte ich ihm tagelang Vorschläge machen. Wie geht es Ihnen, Max?«

»Gut, außer daß ich, nachdem das Gerangel mit Cecilys Familie um ihre Papiere sich schließlich erledigt hat, mich jetzt offenbar mit einer Krise um einen Sohn von Ricardo herumschlagen muß. Hat mit einem Betrug zu tun beziehungsweise mit entsprechenden Anschul-digungen. Erinnere ich mich richtig, haben Sie bei dem netten Lunch im Cos Club erwähnt, ihr Neffe und der Ricardo-Junge seien Kumpel? Oder sagt man Spezi? Daß Freunde das richtige Wort wäre, wagt man ja kaum zu hoffen.«

»Ganz und gar nicht. Feinde wäre wahrscheinlich der treffendere Ausdruck.« Kate erinnerte sich nicht, Max jemals so aufgekratzt erlebt zu haben, und sie stellte fest, daß ihr das nicht gefiel.

»Oje, oje. Wissen Sie, worum es bei der ganzen Sache geht? Ich fürchte, Ricardos Version ist ein bißchen verschwommen.«

»Ricardo hat jemanden dazu überredet, den Aufnahmetest für ihn zu schreiben«, sagte Kate. »Jetzt fällt mir ein, Sie waren überrascht, daß er es nach Harvard geschafft hat.«

»Aber das ist doch ganz unmöglich. Werden denn solche Examina nicht beaufsichtigt?«

»Nur völlig unzureichend. Nebenbei bemerkt« – plötzlich dachte Kate aus naheliegenden Gründen an mitgeschnittene Telefongesprä-

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che – »ich sollte besser sagen, daß angeblich – ich glaube, das ist der korrekte Terminus – jemand anders für ihn das Examen gemacht hat.«

Max war offensichtlich erschüttert. »Es fällt mir schwer zu glauben, daß jemand so etwas tun kann. Aber heutzutage…« Seine Stimme verlor sich.

»Wollten Sie etwas Bestimmtes von mir?« fragte Kate, wie sie hoffte, nicht allzu abrupt. Sie war bereits fünf Minuten zu spät für die Ausschußsitzung.

»Nur, daß Sie, wie immer, meine Hand halten. Ich scheine in jeder Krise an Ihre Barmherzigkeit zu appellieren. Jedenfalls dann, wenn die Krisen mit den Ricardos zu tun haben. Die Familie, also Cecilys Kinder meinen, ich soll etwas unternehmen, weil ich das habe, was sie akademische Beziehungen zu nennen belieben.«

»Was könnten Sie tun?«

»Offensichtlich nichts. Eine höchst problematische Angelegenheit. Der Junge leugnet natürlich alles. Sie werden es mich wissen lassen, wenn Sie mehr erfahren, nicht wahr? Nachdem ich mit diesen Leuten gerade zurechtgekommen bin, habe ich keinerlei Lust, sofort in den nächsten Schlamassel zu geraten, vor allem in keinen, an dem ich nichts ändern kann.«

»Es ist nur ein Zeichen der Zeit«, sagte Kate. »Jeder schwindelt heutzutage. Wann gab es früher Agenturen, die einem die Arbeiten schrieben? Man kann ja nicht einmal mehr sicher sein, ob die Magisterarbeit, die ein Student vorlegt, von ihm selbst ist.«

»Mich kann man nicht hereinlegen. Es liegt nur an einem Mangel an Disziplin, an Studentenunruhen, am Verlust aller Werte.«

Genauso hätte es Nixon auch ausgedrückt, dachte Kate. »Ich muß jetzt weg, Max. In ein paar Tagen fahre ich nach England, aber ich melde mich, sobald ich wieder zurück bin.«

»Gott sei Dank haben Sie jetzt nicht gesagt, daß Sie mich dann

›kontakten‹. Ich freue mich auf Ihre Rückkehr, Kate. Auf Wieder-sehn.«

Bestimmt hat Nixon immer »kontakten« gesagt, dachte Kate, während sie den Gang hinunter zu ihrer Sitzung wanderte. Und dieses Wissen erleichterte sie aus unerfindlichen Gründen sehr.

»Haben die Menschen eigentlich immer geglaubt, daß ihre Welt untergehen wird?« fragte Kate, als sie sich abends auf der Couch im Wohnzimmer ausgestreckt hatte. Reed saß am Klavier und entlockte ihm auf eine beiläufige, nervenschonende Art Melodien der zwanzi-90

ger Jahre.

»Ganz bestimmt«, antwortete er. »Man hat sich nur schwülstiger ausgedrückt. Denke nur an Euripides und die trojanischen Frauen.

Zudem nähern wir uns dem Ende des Jahrhunderts. Fin de siècle und so weiter.«

»›Fin de globe‹, hat Wilde gesagt.«

»So weit haben wir es also gebracht.«

»Ich erinnere mich«, sagte Kate, »daß Clarence Day, oder vielleicht war es auch J. P. Marquand, beschrieb, wie sein Vater einmal aus dem Haus trat und auf den Eingangsstufen dem Nachbarn in Hemdsärmeln begegnete. Sofort folgerte er, seine Nachbarschaft sei auch nicht mehr das, was sie einmal war, und bot sein Haus zum Verkauf an. Clarence Days oder J. P. Marquands Vater, meine ich.

Die Signale waren subtiler und hatten weniger verheerende Folgen.«

Reed ging elegant von ›Smoke Gets in Your Eyes‹ zu Cowards

›A Room with a View‹ über. »Wie siehst du diese Sache mit dem jungen Finlay?« fragte er und spielte mit der Linken eine verminder-te Septime. Reeds Akkorde waren immer etwas dünn und zufällig.

»Da ich die Jugend täglich studiere, würde ich spontan sagen, ein klarer Fall. Jemand will erwischt und von der Last seiner Schuld befreit werden. Warum sonst hat er es jedem in der Klasse erzählt?

Er hätte nur den Mund halten müssen, und nichts wäre passiert.

Selbst Leo und seine rechtschaffenen Freunde hätten es sicher ohne Protestgemurmel dabei belassen, wenn die Schule davon nicht offiziell erfahren hätte.«

»Du hast sicher recht«, sagte Reed, beendete eine Serie von Ak-korden, schwang sich auf der Klavierbank herum und sah sie an.

»Zumindest soweit. Eine andere Frage ist, warum um alles in der Welt er so etwas tun und sich damit eine Schuld aufbürden mußte. Er hat alles. Er ist nicht nur reich und blond und groß und ein meister-hafter Ringer, sondern auch noch ein eigentlich charmanter Junge.

Obendrein auch noch ein Genie – mit Leos Worten, ein verdammt begabter Junge, dem alle Türen offenstanden. Außerdem kommt er aus einer Familie, die seit Generationen eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben spielt.«

»So, wie du das ausdrückst, klingt es ziemlich schrecklich, im wahrsten Sinne des Wortes. Vielleicht mußte er dafür sorgen, daß etwas schiefging, ehe es von außen passierte, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Ich verstehe schon, aber es klingt eher nach dir als nach ihm, 91

wenn ich das so sagen darf. Nach Leos Version hatte er die Vorstellung, alles im Griff zu haben, dazu gehörte, seinen Freund auf das College zu bringen. Nur wegen dieser Tests soll mein Freund nicht nach Harvard kommen? So in der Art.«

»Und in Ricardo fand er natürlich genau den richtigen Burschen, in dessen Namen er die Examina ablegen konnte. Laut Leo fährt Ricardo ohne Führerschein und sieht nicht ein, warum er sich mit derart prosaischen Dingen abgeben soll, wenn er irgendwohin will.

Das einzige, was ihn bisweilen anscheinend noch zurückhält, ist die Erkenntnis, fünf Jahre lang keine Fahrerlaubnis zu bekommen, wenn er erwischt wird. Er gleicht diesem Trainer, der dem Werfer seiner Mannschaft rät, den Kerl im gegnerischen Team mit einem bean ball zu traktieren, oder schweife ich jetzt ab? Ich meine die Devise: Was ich auch tue, ist richtig, denn ich stehe auf der richtigen Seite.«

»Das ist der Punkt bei der ganzen Geschichte, der mich so krank macht. Bitte verzeih mir, wenn ich auf deine bean balls nicht weiter eingehe, sie klingen mir zu exklusiv und zu sportlich. Jedenfalls handelt es sich hier um eine kriminelle Einstellung einfachster und bester Ausführung, die heute jeder teilt: Da meine Beweggründe immer richtig sind – egal, ob es um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten geht, um einen Geschäftsabschluß oder um die ent-schuldbare Eile, die einen bei Rot über die Kreuzung fahren läßt.

Meine Mißachtung der geltenden Gesetze ist stets gerechtfertigt.

Eine Mißachtung des Rechts durch andere ist hingegen bereits ein Angriff auf Amerika und muß verhindert werden.« Reed schwang wieder zu den Tasten herum und begleitete sich selbst, während er zitierte: »Die Worte, die du sagst – du sagtest sie damals schon, allein, ich weiß nicht wo und wann.«

»Aber Ricardo hat seine feste Meinung. Er sagt, wenn ein Kennedy nach Harvard kommt, weil er ein Kennedy ist, und irgendein Schwachsinniger, weil sein Vater eine neue Hockeybahn spendiert, warum soll er dann nicht seine Möglichkeiten nutzen und Finlay die Tests für sich schreiben lassen?«

»Du überraschst mich, Kate. Niemand wird gleich geboren, nur gleich geschaffen. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Nutzen von Vorteilen, die einem die Herkunft bietet, und durch Betrug er-reichten Auszeichnungen, die man in keiner Weise verdient hat.

Sogar die Kennedys haben bezahlt und bezahlen noch immer einen ziemlich hohen Preis für ihre Privilegien. Genauso ist es mit dem reichen Jungen, dessen Vater die Hockeybahn gebaut hat. Man könn-92

te ebensogut sagen: Leo darf nicht aufs College, denn er hat seine Tests nur deswegen bestanden, weil er bei einer zungenfertigen Tante mit großem und gewähltem Wortschatz lebt. Jedenfalls ist mir klar, daß der junge Ricardo ein sehr raffinierter Bursche ist - ›cool‹

würde Leo sagen –, der sich nicht so anhört, als mache er sich besondere Gedanken um soziale Gerechtigkeit als Prinzip.«

»Hältst du es für möglich, daß der junge Ricardo Max ähnlich ist? Oder meine ich Finlay? Max rief mich übrigens heute wegen dieses St.-Anthony’s-Dramas an; meine beiden Probleme verschmel-zen also. Das ehrliche tote Mädchen und der unehrliche lebendige Junge.«

»Mein Vorschlag«, sagte Reed, »wir nehmen jetzt einen Schlummertrunk und konzentrieren uns auf England, nicht auf Ver-wirrspiele. Denk an Phyllis, die für kurze Zeit deine Gesellschaft genießen darf und nicht mehr dazu verdammt ist, allein und hilflos die High Street hinunterzuspazieren, oder geht sie sie hinauf?«

Kate versprach, zu gehorchen und an England zu denken.

Das Versprechen ließ sich am nächsten Tag leichter einhalten, denn Kate fand auf ihrem Schreibtisch einen Brief von Crackthorne.

»Es ist merkwürdig«, schrieb er, »aber ich vermisse die Basketballspiele und unsere lebhaften, wenn auch geräuschlosen Unterhal-tungen. Ich schreibe Ihnen jedoch aus egoistischen und habgierigen Motiven, die ich nicht mit Seufzern des Bedauerns verbrämen will.

Es geht das Gerücht, daß Wallingford die Papiere von Cecily Hutchins besitzt und daß Sie der Mitgliedschaft in dieser erlauchten Institution so nah sind, wie eine Frau es nur sein kann. Besteht wohl irgendeine Chance, daß ein schlichter Doktorand, obwohl den männlichen Sportarten sehr verpflichtet, einen Blick hineinwerfen könnte?

Vielleicht hat sie ja einmal einen der Leute, über die ich schreibe, erwähnt oder mit ihm korrespondiert. Ich meine, sie waren nun einmal alle dort, und vielleicht haben einige, die den Krieg überlebt haben oder danach zurückgekommen sind, mit ihr gesprochen oder ihr gar, welch süße Hoffnung, geschrieben.«

Na ja, dachte Kate, dieses Spiel kann beiden nützen. Sie schickte Crackthorne einen kurzen Brief und wollte wissen, ob er im Verlauf seiner Recherchen auf die Hutchins, die Whitmore oder eine andere Frau dieser Generation gestoßen war. Es bereitete ihr außerordentliches Vergnügen, ihre bevorstehende Reise nach Oxford zu erwähnen und ihm ihre Adresse zu geben für den Fall, daß er innerhalb der nächsten Woche etwas Nennenswertes herausbekommen sollte.

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Dann öffnete sie die Tür und teilte den draußen Wartenden den Beginn ihrer Sprechstunde mit. Nach einer Weile merkte sie zu ihrem Ärger, wie sehr sie sich Reeds Rat zu Herzen genommen hatte, an ihre Englandreise und deren Folgen zu denken. Vor allem die Folgen. Gewöhnlich freute Kate sich auf die Sprechstunden, doch heute schweiften ihre Gedanken immer wieder ab nach Wallingford.

Sie mußte sich regelrecht aus ihren Tagträumen in die Wirklichkeit zurückrufen und stellte fest, daß sie mindestens zwei weitschweifige Teilaspekte der Probleme einer Studentin schlicht nicht mitbekommen hatte. Schließlich gab sie auf, rief Sparrow an und bat ihn, noch einmal einen Blick in die Papiere werfen zu dürfen.

»Ich werde keine Gewohnheit daraus machen und Ihre Großzü-

gigkeit nicht ausnutzen«, versprach sie. »Aber zufällig fliege ich bald nach England, und ich möchte die Zusammenhänge verstehen.

Vermutlich will ich nur mit dem Thema vertraut sein«, schloß sie schwach. Die Wahrheit ist, sagte sie sich, als sie im Taxi auf dem Weg nach Wallingford war, daß ich Max beneide. Ich würde die Biographie gern selbst schreiben. Meine Motive sind also bis zu einem gewissen Grad unlauter. Zerre diese schändliche Tatsache ans Tageslicht und stell dich ihr, Kate Fansler. Egal, wie gut Max sein mag, eine Frau sollte diese Biographie schreiben. Eine durch und durch sexistische Feststellung, schloß sie, bezahlte das Taxi und grüßte den würdigen Mann an der Tür wie einen alten Bekannten.

»Wir sind mit dem Sortieren noch kein Stückchen weiter«, sagte Sparrow, als sie vor den Kartons standen. »Aber verschaffen Sie sich ruhig einen Überblick. Wenn Sie fertig sind, kommen Sie zu mir, und wir trinken einen Sherry – natürlich nach Feierabend. Sie legen doch alles wieder zurück?«

»Ich bin ganz brav«, sagte Kate. »Sie können sich auf mich verlassen.« Schließlich war ja auch er ein braver Mensch. Sie kam sich ein wenig hinterlistig vor, weil sie Max nicht angerufen und ihm gesagt hatte, daß sie herführe. Alsdann, Cecily, dachte sie, da wären wir. Was bleibt von einem Leben?

Die wesentlichen Überbleibsel standen zwischen zwei Bücherstützen auf einem Tisch in der Mitte des Raums. Die Erstausgaben ihrer Bücher, die Wallingford als Teil ihrer »Papiere« gekauft hatte.

Es waren zwanzig Bände, keine kleine Zahl, wenn man bedachte, mit welcher Sorgfalt Cecily geschrieben hatte. Kate erinnerte sich, wie Max einmal vor langer Zeit über eine äußerst populäre Schriftstellerin bemerkt hatte, diese schreibe pro Jahr mehr Romane, als er 94

lese. Dennoch war es erstaunlich, wieviel selbst eine so gewissenhaf-te Schriftstellerin wie Cecily hatte schaffen können, weil sie täglich ein paar Stunden konsequent gearbeitet hatte. Kate riß ihren Blick von den Romanen. In der Nacht war ihr eingefallen, daß die Bodleian als Archiv ein Exemplar jedes in England erschienenen Buches enthielt. Da die Bibliothek keine Ausleihe besaß, war anzunehmen, daß die Bände auch greifbar waren – anders als an Kates Universität, wo die Bücher ständig ausgeliehen waren und die Chance, einen bestimmten Titel auch zu bekommen, bei höchstens fünfzig Prozent lag. In der Bodleian sitzend, konnte sie zwischen Begegnungen mit der wieder auflebenden Phyllis und der nostalgischen Wiederentdeckung der Oxforder Szene sämtliche Schriften von Cecily und Dorothy Whitmore durcharbeiten.

Konnte sie erwarten, in den Papieren schon jetzt auf Hinweise zu stoßen? Auf den Kartons war der jeweilige Inhalt verzeichnet, und auf einem stand »Nicht geordnet«. Kate entdeckte, daß es sich dabei um die Unterlagen handelte, die bei Cecilys Tod auf ihrem Schreibtisch gelegen hatten. Seltsamerweise befanden sich auch ungeöffnete Briefe darunter. Wahrscheinlich hatten die sich während ihres Eng-landaufenthaltes auf dem Postamt angesammelt und waren erst nach ihrem Tod zugestellt worden. Dennoch war es eigenartig, daß niemand sie geöffnet hatte. Es hätte doch sein können, daß einige beantwortet werden mußten. Aber als Kate sie durchging, sah sie, daß alle privater Natur waren und von ihr bekannten und unbekannten Briefpartnern stammten. Die Rechnungen und andere geschäftliche Korrespondenz waren vom Anwalt oder von den Kindern erledigt worden. Diese Briefe zählten offenbar zum literarischen Teil ihres Nachlasses und fielen daher in Max’ Ressort. Kate nahm sie zur Hand und blätterte sie flüchtig durch. Plötzlich stutzte sie. Da war ein Brief von Gerry Marston. Er steckte in einem langen weißen Umschlag. Cecilys Adresse und Gerrys Absender oben links in der Ecke (ihre Zimmernummer an der Universität) waren mit Schreib-maschine geschrieben. Der Poststempel war kaum zu lesen, ebenso das Datum, was ja immer häufiger vorkam.

Entschlossen trug Kate den Brief zu Sparrow. »Vermutlich können wir ihn nicht einfach öffnen, oder?«

Sparrow starrte ihn an. »Allerdings«, sagte er. »Der ist wohl von Ihrer Studentin, die, wie mir Max erzählt hat, in Maine gestorben ist.

Seltsam, daß er bisher niemandem aufgefallen ist.«

»Sicher wurde er mit all den anderen Briefen zusammengepackt, 95

die aussahen wie Briefe von Lesern und nicht von Firmen.«

»In jedem Fall gehört er jetzt Wallingford«, sagte Sparrow. »Aber… was halten Sie davon, wenn ich Max anrufe und frage, ob wir den Brief öffnen dürfen?«

»Ein glänzender Vorschlag. Hoffentlich ist er da.«

Er war da. Er murmelte eine Entschuldigung, weil er die Briefe so lange hatte liegen lassen, und sagte, selbstverständlich dürfe Kate ihn öffnen, berichtete Sparrow. Er griff nach einem langen Brieföffner, schlitzte den Umschlag sauber an der Oberkante auf, zog das maschinengeschriebene Blatt heraus und reichte es Kate. Sie revan-chierte sich für seine höfliche Geste, indem sie laut vorlas.

»›Liebe Miss Hutchins: Danke für Ihre freundliche und prompte Antwort. Natürlich bin ich enttäuscht zu erfahren, daß Sie nichts besitzen, was im Zusammenhang mit meiner Arbeit über Dorothy Whitmore von Wichtigkeit sein könnte. Die Nachricht von dem Porträt ist dagegen sehr aufregend. Es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich zu sich einladen und mir das Bild zeigen wollen, wenn Sie aus England zurück sind. Ich freue mich sehr, dann von Ihnen zu hören. Bedanken möchte ich mich auch für Ihr Angebot, nachzu-schauen, ob Sie noch etwas über Miss Whitmore haben, obwohl Sie sicher sind, daß dies nicht der Fall ist. Mit freundlichen Grüßen‹, und dann folgt die Unterschrift ›Geraldine Marston‹.«

»Mal angenommen, sie beschloß, nicht auf Cecilys Rückkehr zu warten, und unternahm einen kleinen Einbruch?« sagte Sparrow nach einer Weile.

»Es muß sie fast verrückt gemacht haben, mit gebundenen Händen dazusitzen und nichts tun zu können. Ich bezweifle, daß sie einen Einbruch plante. Wahrscheinlich glaubte sie, niemanden zu stören, wenn sie sich ein wenig in der Gegend umsah – und dazu gehörten unglücklicherweise auch die Felsen. Ich darf wohl kaum eine Kopie von dem Brief machen?«

»Auf keinen Fall dürfen Kopien angefertigt werden«, sagte Sparrow streng. »Das steht im Kaufvertrag. Was Sie jetzt brauchen«, setzte er hinzu, »ist ein Glas Sherry. Entschuldigen Sie mich solange?« Im Hinausgehen blieb er kurz stehen und tippte mit dem Finger auf einen Apparat gleich neben der Tür. Es war nicht irgendein Apparat, es war, bei Gott, ein Kopierer. Kate konnte damit umgehen –

wer konnte das nicht? Diese Geräte waren so allgegenwärtig wie Verbrennungsmotoren. Innerhalb von Sekunden hatte Kate eine Kopie des Briefes in ihrer Handtasche; das Original lag wieder auf 96

dem Tisch. Als Sparrow zurückkam, schaute sie aus dem Fenster ins Weite. Er schenkte den Sherry ein.

»Auf Ihre Reise«, sagte er und hob das Glas. »Ich beneide Sie.«

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