Zwei
Die unbefestigten Straßen waren tatsächlich ein Problem. Sie führten teilweise durch Wälder, kreuzten sich und boten hin und wieder verlockende Ausblicke auf das Meer. Max und Kate hatten Glück gehabt, denn sie waren an der Tankstelle, an der sie gehalten hatten, um nach dem Weg zu fragen, auf einen Mechaniker getroffen, der sich auskannte. Max hatte sich, tüchtig wie er war, ein paar schnelle Notizen der komplizierten Schilderung gemacht.
»Sie werden schon merken, wenn Sie auf der richtigen Straße sind«, sagte der Tankwart. »Sie hat nämlich ein Eisentor installiert.
Nicht, daß sie das vor dem Tod bewahrt hätte«, fügte er philoso-phisch hinzu. »Sie müssen aussteigen, es öffnen, dann wieder aussteigen und es schließen, und dann… ja, dann fahren Sie immer weiter bis zum Haus.«
Sie waren den Notizen in Max’ ordentlicher Handschrift gefolgt.
Max öffnete das Tor, ließ Kate durchfahren, schloß es wieder und stieg für die letzten Meter noch einmal in den Wagen. »Die Tore sollten offenbar zufällig vorbeikommende Leute abhalten, die vor allem im Sommer auf der Suche nach dem Meer sind. So, da wären wir.«
Das Haus war wirklich eine Überraschung, vielleicht, dachte Ka-te, weil sie irgendwie eine Villa der Jahrhundertwende erwartet hatte, umgeben von englischen Rosenstöcken? Dieses Haus machte den Eindruck, als hätte sein Architekt es für einen Wettbewerb in Zu-kunftsarchitektur entworfen. Es war aus jenem gebleichten Holz gebaut, das aussah, als hätte es lange im Meer gelegen. Offensichtlich sollte das Gebäude am Rand des Meeres stehen und wirken wie vom Seewasser an Land getrieben. Als der Architekt dann, wie Kate vermutete, von seiner verrückten Auftraggeberin erfuhr, daß das Haus am Rand einer Wiese stehen sollte, hatte er seinen Entwurf nicht mehr verändert. Kate hatte sich nie so sehr für moderne Architektur begeistert, wie sie es eigentlich bei ihren sonst fortschrittlichen Ideen hätte tun sollen, aber dieses Haus war wie geschaffen für einen Standort direkt am Meer. Wie hatte sie annehmen können, daß Cecily sich einen zweistöckigen Bau mit breiter Freitreppe gewünscht hätte?
Im Innern war das Haus noch eindrucksvoller. Von der Seeseite fiel das Licht in das große Zimmer zu ebener Erde. Das Wasser präg-20
te seinen Charakter, und das Haus schien Teil eines ozeanischen Reiches zu sein. Die erste Etage erstreckte sich nicht über das gesamte Haus. Hier oben hatte Cecily sich ihr Zimmer so eingerichtet, wie das wohl für ein englisches Herrenhaus typisch war. Der Schreibtisch, die Bücher, der Teppich, der Kamin und die Unordnung bildeten einen scharfen Kontrast zu den klaren Linien des Hauptraums unten. Also hatte sie solche Kontraste in ihrem Leben gemocht. Dieses Zimmer ging nicht aufs Meer hinaus, als müsse man den Blick abwenden, um zu schreiben. Über dem Kamin – es fiel beim Eintreten als erstes ins Auge – hing das Porträt einer Frau: jung, blond und mit besonders liebenswertem Blick, wenn auch keine vollkommene Schönheit. Wer immer sie war, ihre wichtigste Eigenschaft war eindeutig ihre Vitalität – irgendwie erinnerte sie an eine skandinavische Königin oder an eine Amazone, schien aber zugleich darüber zu lachen, als genösse sie die Unvereinbarkeit zwischen ihrem Aussehen und ihrem Wesen. Auf dem Bild lachte sie nicht, aber das Gelächter war nicht weit, und wenn es hervorbräche, dann wäre es ein Lachen über sich selbst. Wer das wohl gemalt hat, dachte Kate als erstes, und danach erst fragte sie sich, wen es wohl darstelle.
Sie fragte Max, der ihr langsam die Treppe hinauf gefolgt war und sich gründlich umschaute. »Keine Spuren von Einbrechern«, sagte er. »War offenbar ein Scherz. Aber ich bringe besser alle Papiere in Sicherheit, wenn wir schon hier sind. Das?« fragte er, als ihm Kates Frage wieder einfiel. »Der Künstler ist berühmter als sein Modell, deshalb ist es heutzutage ein recht wertvolles Porträt.« Er nannte den Namen des Malers. »Natürlich war er noch ziemlich unbekannt, als er es malte. Sein Modell? Sie hieß Whitmore. Dorothy Whitmore. Keine besonders eindrucksvolle Schriftstellerin; sie ist jung gestorben. Sie war zusammen mit Cecily in Oxford.«
»Aber ich habe von ihr gehört«, sagte Kate. »Tatsächlich hat eine von meinen…«
»Ich vergesse immer wieder«, sagte Max lächelnd, »daß britische Literatur des vergangenen und der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts schließlich Ihr Spezialgebiet ist.«
»Einer ihrer Romane war ein großer Erfolg. Er ist sogar verfilmt worden.«
»Leider postum. Das arme Kind. In ihrem Testament vermachte sie alle Einnahmen aus ihren Werken dem Stipendienfonds ihres Oxford-College, und das Bild hinterließ sie meiner Mutter, die es 21
dann Cecily vererbte.«
»War Ihre Mutter auch in Oxford?«
»O ja. Vor Ihnen steht der Sohn einer der ersten Frauen, die Oxford mit einem akademischen Grad verlassen haben. Gott sei Dank hat meine Mutter nicht besonders akademisch gewirkt. Man kann seiner Mutter nur dann eine Jugend als Blaustrumpf verzeihen, wenn sie gleichzeitig intelligent genug war, den jüngeren Sohn des jüngeren Sohnes eines Herzogs zu heiraten. Was sie, wie ich zu meiner Freude sagen darf, auch tat.«
»Max, Sie sind ein Snob – wie entzückend, und das heutzutage.«
»Kein Snob, meine Liebe, nur ein wählerischer Mensch. Nicht wählerischer als so ein ungewaschener Revolutionär, der auch nur die Gesellschaft derer sucht, die so riechen wie er. Ihre Papiere be-wahrte sie hier auf.«
»Hier« war ein nur auf Zweckmäßigkeit angelegter Raum mit feuerfesten Schränken. Max öffnete einen und gab den Blick frei auf Reihen von Ordnern, die, wie er Kate erklärte, die Korrespondenz eines langen Lebens enthielten, außerdem erste Entwürfe und Origi-nalmanuskripte. All das hatte Cecily aufbewahrt, weil sie zu Recht glaubte, es repräsentiere ein seltenes Bild ihrer Zeit.
»Seltsam«, sagte Kate, »daß sie, obwohl sie soviel Wert auf ihren privaten Bereich legte, alles so sorgfältig aufgehoben hat – denken Sie an das Tor, das abgelegene Haus, all das. Man sollte meinen, ein Freudenfeuer auf dem Rasen à la Henry James oder Dickens hätte besser zu ihr gepaßt.«
»Das stimmt«, sagte Max. »Tatsächlich habe ich früher auch alles versucht, sie davon zu überzeugen. Ihre Antwort war seltsam typisch. >Hätte ich gewußte, sagte sie zu mir, als wir unten zusammen-saßen, ›daß die Briefe anderer Leute derart zu einem Fetisch werden würden, hätte ich jeden Brief vernichtet, sowie ich ihn beantwortet habe. Aber wenn ich sie jetzt vernichte, wäre die Folge, daß nur meine Hälfte der Korrespondenz erhalten bliebe. Ich will weder Dickens noch James, die ich beide so sehr verehre, irgendwelche finsteren Motive unterstellen, aber es muß für sie eine gewisse Befriedigung gewesen sein, unangenehme Vorwürfe in Briefform für immer den Blicken der Menschheit zu entziehen, vor allem, wenn man weiß, daß sie absolut grundlos waren.‹ Ich erinnere mich, wie sie dabei auf das Meer hinausschaute. ›Weißt du, Max‹, sagte sie,
›ich habe in einer Zeit großer Veränderungen gelebt. Der Erste Weltkrieg, die ersten akademischen Würden für Frauen in Oxford, 22
die Jahre zwischen den Kriegen, als ich – unterschiedlich eng – mit Mitgliedern der Bloomsbury Group befreundet war, Schriftstellerinnen wie Rose Macaulay und Elizabeth Bowen, ganz zu schweigen von der gesamten Friedensbewegung. Lowes Dickinson, die Hoff-nungen auf den Völkerbund… Ich muß zugeben, daß das alles eine Sammlung von historischen Dokumenten ist, unabhängig von der Rolle, die ich selbst dabei gespielt haben mag. Und ich behaupte keineswegs, daß ich unbedeutend wäre. Der Architekt hat mir also einen Raum für die Akten gebaut, und ich habe alles aufbewahrt.
Vielleicht würdest du sie gern verbrennen, wenn ich tot bin, aber, Max, tu das nicht. Verkauf sie zu dem höchsten Preis, den du erzie-len kannst, und laß die Kinder von dem Erlös ein Extratelefon einrichten. Dann brauchen sie keine Briefe zu schreiben, um Zeugnis von einer vergangenen Epoche abzulegen‹.«
»Werden die Papiere viel Geld bringen?«
»Wenigstens dreißigtausend. Mehr, wenn ich es geschickt anstelle und überzeugend wirke. Davon können ihre Kinder ein Leben lang ihre Telefonrechnungen bezahlen, egal wie irrwitzig die Telefonge-sellschaft ihre Gebühren anheben wird. Als nächstes müssen wir natürlich einen Gutachter hierher holen. Die sind weiß Gott teuer genug, aber wenn man einen guten findet, dann gilt sein Wort soviel wie das des Heiligen Geistes. Hier gibt es bestimmt irgendwo einen Wein. Genehmigen wir uns ein Glas?«
Die Frage war, wie bei Max üblich, rein rhetorischer Natur, eine ebenso galante wie altmodische Floskel. Er ging die schmale Wendeltreppe hinunter, die in den großen, schönen Raum zurückführte.
»Warten Sie unten, während ich den Wein hole?«
»Gibt es hier oben ein Klo?«
»Ihr Schlafzimmer und das Bad sind da drüben.«
»Wie schön«, sagte Kate. »Es macht mir Spaß, ein bißchen in ihr Leben hineinzuschnuppern.«
Cecilys Schlafzimmer war der nächtliche Zufluchtsort einer Schriftstellerin, einer Leserin, einer Denkerin. Man bemerkt auf den ersten Blick den Unterschied zwischen dem Schlafzimmer eines solchen Menschen und einem, dessen Bewohner es sich dekorativ hergerichtet hat. Ausladende Nachttische standen auf beiden Seiten des großen Bettes – Kate hatte den Verdacht, daß der alte Hund in den letzten Jahren das Bett mit ihr geteilt hatte. Es lagen noch immer Stapel von Büchern herum, dazwischen Papier und Stifte. Das Fenster ging nach Osten, und das, da war Kate sicher, mit Bedacht: So 23
konnte das Morgenlicht hereinfluten und die Bewohnerin schon früh zu einem neuen Tag wecken. Da sie allein lebte, zog sie sich abends wohl früh zurück und konzentrierte ihre Lebenskräfte auf diesen einen Raum, wo ihr Geist sich Stärkung holte. Wenn man älter wird, schläft man weniger, und so hatte sie wahrscheinlich bis in die Nacht hinein gelesen, während der alte Hund an ihrer Seite schnarchte.
»Was für ein blühender Unsinn«, schnaufte Kate selbstironisch, während sie das Badezimmer betrat und die Tür hinter sich schloß.
»Es kann genausogut sein, daß sie sich erst um zwei Uhr morgens mit einer Flasche Gin ins Bett zurückgezogen, Kopfhörer aufgesetzt und Rockmusik gehört hat.« Aber die Stille strahlte eine Ordnung aus und eine Art zu leben, wie man sie für die Entfaltung der eigenen Kräfte braucht. Als Kate im Badezimmer fertig war, ging sie ins Studio zurück, setzte sich für einen Augenblick in Cecilys Sessel und betrachtete das Porträt. Cecilys Blick mußte jedesmal darauf gefallen sein, wenn sie aufblickte. Ist es nur Einbildung, daß einem diejenigen, die jung sterben, besonders vital erscheinen? Kate hatte einmal so etwas gehört. Vielleicht war es nur so wahr wie der alte Aber-glaube, daß diejenigen, die früh sterben müssen, das spüren und daher mit doppelter Intensität und doppelter Freude leben. Eine romantische Theorie, im doppelten Sinn.
Die Akten in dem Zimmer nebenan würden für einen jungen, aufstrebenden Wissenschaftler, der sich einen Namen machen wollte, ein kleines Vermögen wert sein oder, genauer gesagt, für eine Bibliothek, die alles kaufen würde. Sie zog an einer der Metallschub-laden und war überrascht, wie vorher bei Max, daß sie sich öffnete.
Sie kam sich vor wie eine Schnüfflerin und schloß sie sofort wieder.
Seltsam, daß sie nicht verschlossen war. Aber warum sollte sie eigentlich, wo Cecily doch allein gelebt hatte? Kate ging an dem Porträt von Dorothy Whitmore vorbei wieder nach draußen und dachte, hier ist ein ganzes Leben gelebt worden, das noch am Ende voller Arbeit und jener Abgeschiedenheit war, die man wahre Einsamkeit nennen kann. Kate spürte, wie sehr sie die ehemalige Besitzerin um dieses Haus am Meer beneidete, und überlegte einen Augenblick wirklich, ob es wohl zu kaufen wäre. Was ließ in den mittleren Jahren die Einsamkeit so attraktiv erscheinen? Ein englischer Dichter hatte es in einem Gedicht ausgedrückt, das Kate nach dem ersten Lesen nie wieder vergessen hatte:
»Hinter alldem der Wunsch, allein zu sein: 24
Auch wenn Einladungen den Himmel verdunkeln Auch wenn wir ausgetretenen Pfaden
des Geschlechtlichen folgen
Auch wenn die Familie sich fotografieren läßt unter dem Fahnenmast - Hinter alldem der Wunsch, allein zu sein.«
Was soll’s, sagte sich Kate, während sie, eine Hand am Geländer, die Wendeltreppe hinunterkletterte. Meine kleine Hütte muß reichen.
Ohne die geistige Anregung der Universität würdest du binnen einer Woche mit dir selbst schnattern wie eine alte Gans, Kate Fansler.
»Die Akten sind ja gar nicht unter Verschluß«, sagte sie zu Max, der mit einem Tablett aus der Küche kam.
»Ich weiß, und es bedrückt mich. Eine der Aufgaben, bei denen ich Sie dringend um Ihre Hilfe bitten möchte, ist die Suche nach einem Schlüssel. Es muß einen geben. Wir können nicht alles unverschlossen lassen – einer der Gründe, warum ich herkommen wollte.
Zwar«, fügte er hinzu und goß für Kate Weißwein in ein wunderschönes Glas, »kann man die Akten ganz leicht per Knopfdruck einschließen, aber man möchte doch sicher sein, ohne die dramatische Hilfe eines Schweißbrenners wieder an sie heranzukommen.
Auf Cecilys Papiere«, schloß er seine Rede und hob sein Glas, »und darauf, daß Sie mitgekommen sind und mir beistehen. Auf Ihr Wohl.«
Noch nie in seinem Leben war Max einem persönlichen Kompliment so nahe gekommen, und Kate registrierte das erfreut. Sie saßen eine Zeitlang da und genossen den Wein und dieses besondere Nachmittagsleuchten, bevor der Tag sich neigt. Durch das Fenster konnten sie auf das Meer hinausblicken, nicht dorthin, wo die Wellen an die Felsen brandeten, sondern weit zum Horizont hin, wo die See ruhig und glitzernd lag – Kate fand, so müßte der Optimist den Ozean sehen.
Max’ Gedanken schienen in die gleiche Richtung zu gehen.
»Man sollte hinausgehen und zuschauen, wie die Wellen sich an den Felsen brechen, um wieder zu den irdischen Dingen zurückzukommen«, sagte er und stellte sein Weinglas mit einer gewissen Ent-schlossenheit ab. »Wollen wir ein wenig Spazierengehen, bevor die Sonne untergeht?«
»Einer der Gründe, warum ich meine Wochenenden ohne Gäste verbringe«, sagte Kate, »ist die Tatsache, daß immer dann, wenn ich 25
besonders faul bin, jemand auf die Idee kommt, irgendeine Strapaze auf die Tagesordnung zu setzen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Max und griff nach der Weinflasche. »Sie waren ein Engel, weil Sie mit mir hierhergekom-men sind. Niemand soll mir nachsagen können, ausgerechnet ich hätte jemanden zu körperlicher Anstrengung ermuntert. Das könnte meinen guten Ruf als verwöhntes Wesen in Gefahr bringen, und Sie machen sich keine Vorstellung, wie viele Jahre es mich gekostet hat, ihn zu etablieren.«
Kate lachte und stand auf. »Was Ihre Tugenden angeht, haben Sie bei mir noch immer einen sehr gefestigten Ruf«, sagte sie. »Und mehr als das. Wer, außer einem derart wählerischen Stadtmenschen wie Sie, würde um moralische Unterstützung bitten, wenn er ein Haus wie dieses besucht? Lassen Sie uns zum Meer hinabschlendern.
Ist es eigentlich eine emotionale Belastung?« fragte sie, als sie aus dem Haus traten. »Ich meine dieses Amt des literarischen Nachlaß-
verwalters?«
»Wenn Sie schon so scharfsinnig danach fragen: mehr, als ich geahnt hätte«, antwortete Max und blieb einen Moment auf der Veranda, oder wie immer man das heute nennt, stehen. »Ich habe Cecily bewundert, und für mich grenzt Bewunderung fast an Liebe, wie Sie sicher schon bemerkt haben. Sie nennen mich einen Snob, aber mir fällt es schwer, jemanden zu bewundern, den ich insgeheim verachte. Das ist, wenn Sie so wollen, meine Definition eines Liberalen.«
»Hinter dem Begriff ›liberal‹ muß irgendeine verborgene Kraft stecken, ebenso wie hinter dem Begriff des ›Guten‹. Jedenfalls veranlaßt er gar zu viele Menschen, sich geringschätzig zu geben. Machen Sie sich nichts draus«, sagte Kate und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den gemähten Pfad zum Meer. Wirklich eine gute Idee, vor allem, wenn sie an ihre wuchernde Wiese dachte. Aber hier –
kluge Cecily – führte der Pfad von ihr zum Meer und offensichtlich nicht von anderswo zu ihr hin. Max, der ihrem Blick gefolgt war, mißverstand ihre Gedanken.
»Es ist ungewöhnlich, daß jemand soviel Land in der Nähe des Meeres besitzt«, sagte er. »Dies Haus und das Grundstück sind wahrscheinlich Cecilys wertvollste Hinterlassenschaft an ihre Kinder. Sicher liegen andere Häuser entlang der Küste in Sichtweite, aber weil das Grundstück solche Ausmaße hat, liegt ihr Haus wunderbar einsam. Nehmen wir den Weg zum Meer, oder erkunden wir 26
die Wälder hinter uns?«
»Oh, zum Meer natürlich«, sagte Kate, stieg vor ihm die Stufen der Veranda beziehungsweise ihrer modernen Variante hinab und betrat den Pfad. Er war nicht breit genug, daß zwei nebeneinander gehen konnten, und Kate ging voran. Der Weg bis zum Meer war nicht weit, und Kate war erschrocken darüber, wie abrupt das Land zu Ende war. Von dort war es ein Sprung hinunter auf die Felsen, obwohl man für unerschrockene Kletterer auch Stufen in den Stein geschlagen hatte.
»Klettern wir hinunter«, sagte Kate.
»Keine unüberlegten Schritte«, antwortete Max. »Einer von uns –
zweifellos wäre ich das – könnte sich ein Bein brechen und Hilfe benötigen, und die herbeizuholen scheint mir von hier aus unmöglich. Der andere würde unsicher daneben auf einem Felsen stehen und zusehen, wie die Flut kommt – was unser sicheres Ende wäre.
Mit welcher Gewalt die Wellen anbranden! Lassen Sie es uns von hier aus bewundern, wie sich das für eine Lady und einen Gentleman wie uns gehört. Was meinen Sie, haben wir jetzt Flut oder Ebbe?«
»Ebbe, würde ich sagen«, antwortete Kate. »Nicht, daß ich irgendwas über die Gezeiten wüßte. Aber die Mulden dort zwischen den höheren Felsen stehen voll Wasser, und das muß von irgendwoher gekommen sein, denn jetzt schlägt keines hinein.«
»Vielleicht ist es Regenwasser.«
»Hören Sie, Max, ich steige hinunter. Schließlich gibt es ja Stufen, und die sind bestimmt nicht nur für potentielle Selbstmörder in den Stein geschlagen worden. Ich würde mir gern ganz aus der Nähe ansehen, wie das Wasser gegen die Felsen brandet. Sie können mir ja zusehen, wenn Sie zu ängstlich sind, und sollte ich in Lebensgefahr geraten, können Sie Hilfe holen.«
»Aber ich kann nicht Auto fahren! Also wirklich, Kate!«
»Sie können anrufen. Das Beste an Ihnen ist, daß Sie nicht aus der Fassung zu bringen sind. Aber ein Junggeselle sollte nicht zur Glucke werden. Das verdirbt den Gesamteindruck. Glücklicherweise habe ich Hosen an und Schuhe mit Kreppsohlen, noch ein Beispiel für eine glückliche Fügung. Wenn ich weiß, daß ich Sie treffe, trage ich sonst nämlich immer sehr damenhafte Schuhe.«
Während Kate über die Felsen krabbelte, wurde ihr die Sinnlo-sigkeit dieser kleinen Szene bewußt. Das Ganze war tatsächlich völlig ungefährlich, es sei denn, sie rutschte aus und bräche sich ein Bein. Man mußte nur in kurzen Sprüngen von einem Felsen zum 27
anderen hüpfen. An einem der höher gelegenen Steine hielt Kate inne. Es war in der Tat eindrucksvoll, um nicht zu sagen, ein bißchen furchterregend, wie die Wellen sich an den Felsen brachen. Sie widerstand dem Impuls, wieder auf trockenen und festeren Boden zu springen. Aber sie wandte sich um, und da entdeckte sie gleich rechts neben sich in einer Mulde zwischen zwei Felsen etwas, das wie ein Bündel Kleider aussah.
Wie immer bei einem Schock, gab es ihr einen Schlag in den Magen. Der hatte die Katastrophe schon Sekunden früher registriert als ihr Bewußtsein. Kate riß sich zusammen und zwang sich, näher heranzuklettern. Sie drehte sich zu Max um und wunderte sich, daß sie ihn nicht sehen konnte. Sie sah nur Felsen. Als sie einen erreichte, der der Mulde näher lag, setzte Kate sich und wartete, daß ihr Puls zu rasen aufhörte. Dann sah sie hinunter. Es war eine Leiche, eine tote Frau, das Gesicht nach unten. Jedesmal, wenn das Meer heranrollte, sprühte eine leichte Gischt darüber.
Als Antwort auf einen plötzlichen Adrenalinstoß, der uns Menschen angeblich ins Blut schießt und dafür sorgt, daß wir aus Über-lebenstrieb entweder fliehen oder zur Gegenwehr übergehen, sprang Kate von Fels zu Fels auf und davon. Dann merkte sie, daß sie die Stufen nicht wiederfand. »Max«, rief sie, »Max.«
Max trat näher an den Rand und lugte hinab. »Alle Gelüste auf Abenteuer befriedigt?« fragte er. »Hier können Sie nicht herauf. Die Stufen sind da drüben.« Er deutete nach links. Kate kletterte wieder über die Felsen und diesmal die Stufen hinauf.
»Max«, sagte sie. »Da unten liegt eine Leiche. Eine tote Frau.«
Falls Max eine witzige Erwiderung auf der Zunge gelegen hatte, so schluckte er sie beim Anblick ihres Gesichtsausdrucks herunter.
»Sind Sie sicher?«
»Wir sollten Hilfe holen.«
»Wäre es nicht vernünftiger zu telefonieren?«
»Natürlich. Ich bin zu aufgeregt.«
»Nein, das sind Sie nicht. Das Telefon ist nämlich abgemeldet.
Wir müssen laufen und Hilfe holen. Los.«
»Meinen Sie nicht«, sagte Kate, »Sie sollten besser hier warten, bis ich jemanden aufgetrieben habe, der uns helfen kann?«
»Warum denn das, um Himmels willen? Der Leiche wird schon keiner etwas tun. Vielleicht liegt sie schon seit Tagen dort. Oder seit Wochen.«
»Und wenn die Flut kommt?«
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»Die Gezeiten kann ich nicht aufhalten, meine Liebe. Vielleicht sollte ich für Sie im Haus nach einem Whisky oder einem Brandy suchen.«
»Nein, ich muß fahren. Um Gottes willen, Max, beeilen Sie sich!«
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