Abschied

 

Als die Sonne hoch am Himmel stand, waren die Waldgeister abmarschbereit. Sie hatten Verpflegung in ihre Decken gerollt und neue Skier und Speere bekommen.

Kirgit sah mir nach, als ich neben ihnen her zum Tor hinkte. Sie hatte noch immer Angst, ich könne fortgehen.

»Du bleibst am besten bei ihr«, sagte Loke, während der Schnee unter seinen Skiern knirschte. Er sah mich an und wusste, dass ich ihm keine Antwort geben würde.

Die Waldgeister stützten mich, als wir über die Steine kletterten, die noch immer vor dem Tor lagen, und zeigten mir, wo ich mich mit dem Speerschaft abstützen konnte, um nicht zu fallen. Als wir unter den verbrannten Resten von Holzplanken und eisernen Beschlägen hindurchgingen, tropfte das Schmelzwasser vom Absatz über uns auf uns herab.

Ein Stück des Weges gingen wir zusammen nach unten. Die Waldgeister bremsten mit ihren Speeren, sodass ich mit ihnen Schritt halten konnte. Doch dort, wo die Felsenbrücke in die Ebene überging, nahmen wir Abschied.

»Du bist der beste Hässling, den ich jemals kennen gelernt habe«, sagte Vile und klopfte mir auf den Ärmel meiner Jacke.

Bile löste einen Zapfen von seiner Kette.

»Das ist der Schönste, den ich hab.« Er steckte ihn in meine Hosentasche. »Denk an uns, wenn du ihn ansiehst. Jedes Jahr, wenn der Schnee schmilzt, werde ich an dich denken.«

Bul schulterte seinen Speer.

»Das war eine gute Wanderung, zusammen.« Er lächelte.

Loke nahm meine Hand und drückte meine Krallen mit seinen kleinen Fäusten. Er sagte nichts, doch aus seinen Augenwinkeln rannen Tränen über sein faltiges Gesicht. Dann drehte er sich um, und Bile, Vile und Bul folgten ihm.

Ich stapfte so schnell wie mich meine verbrannten Beine zu tragen vermochten zurück zum Tor. Von dort oben waren die Waldgeister nur mehr schwarze Punkte im Schnee, einer etwas vor den anderen. Auf der ersten Anhöhe wandten sie sich Richtung Norden. Ich stand da, bis ich sie auf der Ebene aus den Augen verlor. Ich habe sie nie wiedergesehen.

 

Drei Generationen von Menschen sind seither geboren und wieder gestorben. Mein Leben dauert schon so lange an, viel länger, als ihr es begreifen könnt.

 

Aber ich erinnere mich.

An die Jahre, die ich mit Kirgit hatte. Die Freude, die ich mit jedem Tag aufs Neue verspürte.

Wir wohnten drei Winter unter dem Dach ihres Vaters, bevor wir in eine Hütte zogen, die ich gemeinsam mit den anderen Männern gebaut hatte. Dort lebten wir unser Leben als Mann und Frau. Kirgit spann Fäden aus Schafswolle und webte Kleider für uns, und ich kümmerte mich um das Feuer. Abends kamen die Freunde zu uns, und dann saßen wir bis spät in die Nacht vor der Feuerstelle. Ich höre noch immer das Gelächter und die Stimmen, sehe Kirgit, wie sie um Ruhe bittet, um eine Geschichte zu erzählen, und spüre ihre Hand in der meinen.

Das Felsenvolk ging noch immer im Gebirge auf die Jagd, doch aus mir wurde nie ein Jäger. Ich lauschte dem Wind und deutete die Flucht der Vögel und konnte so gute Ratschläge über das Wetter oder bestimmte Weideplätze geben. Jeder hätte das tun können. Das war alles, was das Felsenvolk von mir erwartete. Meine Weissagungen, die Sprache der Vögel. Morgens pflegten Kirgit und ich im Stall die Pferde zu striegeln, und wenn es nicht gerade Winter war, ließen wir sie draußen grasen.

Oft gingen wir auch in die Berge hinauf und sahen nach den Schafen. Die besten Weiden lagen in dieser Zeit weit entfernt, und es dauerte einen Tag, bis man dort ankam. Die Hirten begrüßten uns mit Flötenspiel und Gesang, und wir übernachteten dann immer bei ihnen am Feuer.

Als wir einmal von einer solchen Wanderung zurückkamen, wartete ein Wanderer vor der Hüttentür auf mich. Er trug abgenutzte Pelze und wankte mit gebeugtem Rücken auf uns zu, wie ein Bär, der versucht, auf zwei Beinen zu gehen. Kirgit bekam Angst und rannte los, um Noj zu holen, doch ich nahm den, Fremden mit in die Hütte und gab ihm zu essen und zu trinken. Da sagte er, dass er Grüße von Loke aus dem Westwald mitbrachte. Der Trolljäger wollte, dass ich von denen erfuhr, die gewartet hatten, damit ich die ganze Geschichte erzählen konnte. Der Wanderer schloss die Augen und zählte seine Finger ab, während er Wort für Wort wiedergab, wie es Volom-Kar und dem Gamle oben auf der Lichtung mit Namen Erste Schneeflocke ergangen war. Als er fertig war, stand er auf und ging hinaus. Ich folgte ihm auf den Platz vor der Hütte, wo er stehen blieb und zu den Berggipfeln emporstarrte.

»Es heißt, der Gamle hat sich zwischen die ältesten Bäume gesetzt.« Er zog seinen Pelzumhang vor dem Hals zusammen und schnupperte in den Wind. »Aber für jeden kommt seine Zeit.«

Mit diesen Worten schwankte er davon, ging durch das Tor und war verschwunden.

Ich erzählte Kirgit, was er gesagt hatte, und an diesem Abend hatten Volom-Kar und der Gamle ganz selbstverständlich ihren Platz in unserer Geschichte. Denn es waren ja die Pilzschmerzen des Gamle gewesen, die die Waldgeister und mich nach Süden geführt hatten. Sie lächelte und streichelte mir über den Nacken. Und unsere Gäste lächelten mit uns.

 

Ja, ich war glücklich damals, und die Jahre vergingen schnell. Sommer, Herbst, Winter und Frühling glitten ineinander und vergingen wie der Morgentau in der Sonne. Denn ich war ein Mensch wie alle anderen, und ich lebte und liebte mit ihnen.

 

Bis zu dem Winter, dem Tag, an dem sie starb.

Es war einer dieser Abende, an dem der Wind den Nebel von den Bergen nach unten drückt. Ich war im Stall gewesen und hatte eine Stute gemolken, die gerade gefohlt hatte. Kirgit litt, wie oft im Winter, an einem Husten, und Pferdemilch half für gewöhnlich. Ich freute mich darauf, sie in einem Topf über dem Feuer aufzuwärmen. Ich wollte Wacholderbeeren zerreiben und mit Honig mischen, und dann würde sie sicher bald genesen.

Doch Kirgit sollte es nicht mehr besser gehen. Als ich hereinkam, lag sie zusammengekauert unter der Decke am Feuer. Ich setzte mich zu ihr und spürte, wie sie zitterte. Dann hustete sie wieder, und dieses Mal rann Blut über ihre Lippen.

Ich tat, was ich konnte. Ich gab ihr Kräuter und wusch ihr den Schweiß von der Stirn. Doch wir wussten beide, dass das nichts nützen würde. Am dritten Tag erzählte ich ihr all das, was wir gemeinsam erlebt hatten. Wir erinnerten uns an die Sommer, in denen wir gemeinsam in die Berge gegangen waren, und an die unzähligen Abende vor der Feuerstelle. Wir flüsterten uns zu und dachten an die Schafe, die bald ihre Lämmer bekommen sollten. Ich umarmte sie, bis sie einschlief, und als der Morgen kam, wollte sie nicht mehr aufwachen.

Sie wurde nicht älter als drei mal zehn Sommer. Es war eine große Trauer für Noj und Viani. Sie hatten ihre Tochter überlebt. Es war eine große Trauer für mich. Ich hatte meine Frau verloren.

Als ich aus der Hütte trat, sah ich, dass der Frühling gekommen war. Die Sonne wärmte meine Federn, und die Eiszapfen an der Ecke der Hütte weinten. Und da dachte ich an die Worte auf einem alten Pergament, die ich vor langer Zeit an einem Abend in Nojs Hütte gelesen hatte:

»Er wird kommen, wenn du über den Verlust eines geliebten Menschen weinst…« Ich schloss meine nassen Augenlider und sah die Worte und die eingenähte Feder ganz unten auf dem Schafsleder vor mir.

»Doch nach vielen Jahren wird er zurückkommen und ein letztes Mal zu dir sprechen. Er wird kommen, wenn du über den Verlust eines geliebten Menschen weinst, und die Botschaft, die er dir geben wird, wird die wichtigste sein, die deinem Volk zugekommen ist, seit es in der Felsenburg heimisch geworden ist.«

Ich öffnete die Augen und sah in die Berge hinauf, dorthin, wo die Waldgeister und ich einmal gewandert waren, um die Rote Runde Wurzel zu finden. Über den Schneewehen schwebte etwas Schwarzes, etwas, das ich nur zweimal zuvor gesehen hatte. Es war mein Zwillingsbruder, der Rabe. Es war Kragg. Er flatterte zu den Hausdächern hinunter und sprach zu mir. Er sagte, dass sich bald eine Lawine lösen und die Stadt unter sich begraben würde. Dann flog er davon.

Ich warnte sie. Und sie hörten auf mich. Der alte Noj mit seinem gebeugten Rücken, dem grauen Bart und dem spärlichen Haarkranz und Viani, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. Sie packten all ihr Hab und Gut auf die Schlitten und gingen gemeinsam mit den anderen fort. Es blieb nichts von ihnen zurück, nur leere Hütten. Sie wollten, dass ich sie begleitete, doch ich weigerte mich. Ich wollte warten, sagte ich, bis sie zurückkamen. Sie gaben mir keine Antwort.

Ich begrub Kirgit oben, gleich neben dem Weg, wo der Dornenstrauch wächst, unter den Steinen der Geröllhalde, zupfte mir drei Federn aus und legte sie auf ihr Grab. Dann kletterte ich in die höchste Kalane und wartete.

Ich schlief ein dort oben, doch das Gepolter weckte mich. Aus dem Drachenrauch tauchte eine gewaltige Schneewalze auf. Sie stürmte über das Grab, schlug die Häuser zu Boden und begrub das Tal unter sich.

 

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, die verschiedensten Dinge auszugraben. Einen Balken, Halme für das Dach, einfach alles, was ich gebrauchen konnte, um mir eine Schutzhütte zu bauen und Brennmaterial zu bekommen. Ich baute mir einen Unterschlupf in der Kalane und lebte dort oben. Wenn sie zurückkommen, dachte ich, werden sie den Schnee wegschaufeln und die Häuser neu aufbauen. Und sie werden mir helfen, den Schnee von ihrem Grab zu räumen, damit ich einen Ort für meine Trauer habe.

Doch das Felsenvolk kam nie wieder zurück. Auch auf der Ebene sah ich sie nicht. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.

 

Im darauf folgenden Sommer kamen die ersten Herumstreifer zum Tor. Zwei Wagen. Sie sagten, sie stammten aus der Stadt der Fischer beim Westwald. Ich ließ sie herein, denn sie reisten mit Frauen und Kindern. Außerdem fühlte ich mich einsam. Zusammen räumten wir die Reste des Lawinenschutts weg und bauten die Hütten wieder auf. Sie sahen mich merkwürdig an, sagten aber, sie hätten die Gerüchte über den Vogelmann in der Felsenburg gehört. Mehr wollten sie nicht verraten.

Im Herbst kamen noch mehr Menschen. Bald waren es wieder so viele, wie auch zuvor in der Felsenburg gelebt hatten.

 

Das neue Volk behandelte mich gut, doch meine Ratschläge wollten sie nicht hören. Für sie war ich nie etwas anderes als ein merkwürdiger Geschichtenerzähler, der in Rätseln zu ihnen sprach. Ihr, Freunde, seid die Kinder des neuen Volkes. Die Herumstreifer waren eure Großeltern. Und deshalb erzähle ich euch meine Geschichte, auf dass ihr Bescheid wisst.

 

Du fragst, Ekri, warum mir die Vögel nie erzählt haben, wohin das Felsenvolk gegangen ist?

Ich habe sie angefleht, Freunde. Ich bin in der Kalane niedergekniet und habe um eine Antwort geweint. Aber sie wollten mir nichts sagen. Sie konnten nicht.

 

Ich weiß jetzt, dass die Lawine ein Zeichen von Kragg war. Er wollte, dass das Felsenvolk von hier verschwand. Aber ich weiß nicht, wohin er sie gebracht hat, und verstehe nicht, warum er mich noch so lange, nachdem sie gegangen sind, am Leben lässt.

Manchmal denke ich, etwas falsch gemacht zu haben. Vielleicht hätte ich mit dem Felsenvolk gehen sollen, vielleicht hätte ich sie begleiten sollen, wo immer sie hingegangen sind? Und wenn es ihr Volk nicht mehr gibt – vielleicht hätte ich ihr Schicksal teilen können? Aber der Wille der Götter ist schwer zu verstehen.

 

Seit Kirgits Tod ist viel Zeit vergangen. Auch wenn ich ihr nie Kinder gegeben habe, so war sie doch meine Frau. Und was hätte ich mir mehr wünschen können? Ich hatte eine schöne Zeit mit ihr. Die Erinnerung daran hat mich unzählige Winternächte warm gehalten. Und das ist alles, was mir jetzt geblieben ist: Erinnerungen. Ich habe meine Gedanken nicht aufgeschrieben, wie es der vorige Vogelmann getan hat. Warum sollte ich das tun? Mein Volk hat mich vor langer Zeit verlassen. Ich werde meine Erinnerungen mit mir nehmen – ihr seid die Einzigen, die sie weitererzählen können.

 

Schlag die Decke vor der Tür zur Seite, Kleiner Tenn. Ist die Nacht vorüber? Ich kann nichts sehen.

Nein, Ekri. Das sind keine Tränen. Der Rauch brennt in meinen Augen.

Alles ist so still. Hat sich der Schneesturm gelegt? Das ist gut so.

Helft mir nach draußen, Freunde. Stützt mich, während ich meine Flügel zusammenfalte. Lasst uns zum Grab gehen. Ich will, dass ihr wisst, wo es ist. Und dort will ich Abschied nehmen.

Denn ihr versteht jetzt. Ihr versteht, dass ich nicht mehr länger warten kann. Ich werde im Westen in die Berge gehen. Ich werde den höchsten Gipfel erklimmen und dort, dort werde ich die endgültige Verwandlung geschehen lassen.