Die Tränen des Drachen
Deine Mutter, Ekri, war eine gute Freundin von mir. Als sie klein war, hat sie wie ihr jetzt meinen Worten gelauscht. Ja, sie saß dort hinten, auf der anderen Seite des Feuers, und hörte mich oft erzählen. In ihrer Generation war sie eine der wenigen, die zuhören wollten. Ihr seid da klüger, Freunde. Ihr habt keine Angst, eure Gedanken schweifen zu lassen. Ich begreife nicht, warum sich eure Eltern vor meinen Worten fürchten.
Du weißt, dass deine Mutter bei deiner Geburt starb, Ekri. Du hast viele Male von diesem Tag gehört. Doch was du nicht weißt, ist, dass ich einen Traum hatte, als ich inmitten der weinenden Stimmen um mich herum einschlief. In diesem Traum reiste ich weit weg bis in ein Land, in dem verbrannte Ebenen ins Meer münden. Dort gab es auch ein Gebirge, und auf dem Gipfel des Gebirges lag ein Drache. Er war so groß wie die Felsenburg, Kinder, und am ganzen Körper mit roten Schuppen bedeckt. Und alles war so still. Kein Windhauch unter meinen Flügeln und nicht eine Welle auf dem Meer. Alles schien zu schlafen.
Ich kreiste über dem Drachen nach unten und setzte mich auf einen Felsen. Dort faltete ich meine Flügel zusammen und senkte meinen Kopf. Die Stille lastete schwer auf meinen Schultern. Unsichtbarer Nebel lag wie der Feenschleier, der dem Tag Lebewohl sagt, über dem Gebirge.
Da sah ich, dass der Drache wach war. Er hob seinen Kopf und sah mich an. Es war der gleiche Drache wie in dem Traum, in dem ich von der Schlacht gegen Tarkin geträumt habe. Hier hatte er eine Zuflucht gefunden. Hier versteckte er sich als Letzter seiner Rasse. Aber hatte er sich nicht in einen Raben verwandelt, als er durch den Regen der Pfeile davongeflogen war? Und hatte er nicht hinter einer Wand von Klippen Zuflucht gefunden? Ich schlug mit den Flügeln, warf den Kopf in den Nacken und begriff mit einem Mal, dass ich selbst es war, den ich dort betrachtete. Die blauen Augen waren meine Augen und die geschuppten Flügel meine Flügel.
Und ich hörte etwas durch den Nebel, einen Laut, der der Stille einen Namen gab. Es klang wie ein schmilzender Eiszapfen im Frühjahr. Tropfen in den Schnee. Und ich sah die Tränen, die über die Schuppenhaut herabrannen. Meine Tränen. Und wie ein weit entferntes Flüstern hörte ich in meinem Innern eine Stimme. Kraggs Stimme.
»Ich warte«, sagte sie. »Ich warte wie du, denn mein Volk soll sich wieder erheben.«
Der Drache blickte weg und schlug die Augen zu, und erneut rann eine Träne über seine schuppige Wange hinunter an die tiefste Stelle seines Kinns, wo sie sich zu einem Tropfen formte. Dieser Tropfen fing das Licht des Sonnenuntergangs ein und fiel auf den Boden, wo ein Fluss entsprang, Freunde. Ein Fluss, der mit jeder Träne größer und wilder wurde. Ich flog von dem Felsen auf und folgte dem Fluss, bis er ins Meer mündete. Und ich sah, wie der Meeresspiegel anstieg.
Das war mein Traum. Ich habe ihn seither nie wieder geträumt, aber ich weiß jetzt, warum Drachen weinen. Ich habe das mit den Jahren begriffen. Sie weinen für uns.
Warum erzähle ich das jetzt? Ihr wollt doch wissen, ob wir die Wurzel gefunden haben und wie es mit uns weiterging, nachdem wir vom Gebirge herabgestiegen waren. Vielleicht erzähle ich es euch, weil ich euch bald verlassen werde. Ich will all die Sachen loswerden, an die ich denke. Und ich glaube, dass euch der Traum von den Drachentränen helfen wird, alles zu verstehen.
Aber lasst uns noch einmal hinauf nach Erste Schneeflocke reisen. Dort reichte der Schnee jetzt bis zu den Ästen der Bäume empor, und der Pfad hinunter zur Hütte sah aus wie ein Kaninchengang. Die Fichten, die um die Lichtung herumstanden, hatten weiße Flecken auf den Rinden. Ihre Zweige beugten sich unter der Last des Schnees, und das Himmelszelt hatte sich dem Winter vollends geöffnet.
Da rollte ein Schneeball aus dem Kaninchengang heraus. Ein Handschuh bürstete den Schnee weg und vergrößerte die Öffnung.
»Komm jetzt, Gamle!«
Die angestrengte Stimme sagte ein paar unverständliche Worte, und dann tauchte der Kopf von Volom-Kar auf. Er rümpfte die Nase, während er sich mit den Schultern durch das Loch presste. Dann hob er beide Arme über den Kopf und schaute auf seinen Bart hinunter.
»Hilf ein bisschen mit«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen!«
Er krabbelte in den Schnee hinaus, griff nach etwas unten im Loch und zog es heraus. Gamle kam wie eine Ratte aus einem Kornsack zum Vorschein. Er spuckte Schnee und wischte sich das Gesicht ab.
»Bist du sicher, dass das notwendig ist, Volom?«
Gamle jammerte, während Volom-Kar ihn hinter sich herzerrte.
»Schau, wie hoch der Schnee liegt.« Volom breitete die Arme aus, schüttelte den Kopf und kroch wieder ins Loch zurück. Gamle legte sich auf den Rücken und faltete die Hände über seinem Bauch. Er blinzelte durch das Schneegestöber, doch die Sonne war nirgends zu sehen.
Eine zusammengerollte Decke ragte aus der Öffnung. Dann folgte der spitze Hut von Volom, Holzscheite, weitere Decken, Leinensäckchen und Tassen. Zum Schluss kam Volom-Kar, den Primstab in der Hand. Er trampelte den Schnee fest und zog Gamle an den Armen hoch.
»Jetzt pass auf«, sagte er und ballte einen Schneeball zusammen.
»Du wagst es nicht, mich damit zu bewerfen!« Gamle hob den Zeigefinger. »Ich bin der Häuptling aller Waldgeister, und ich sage dir…«
Volom lachte und drehte ihm den Rücken zu.
»Die Hütte liegt dort unmittelbar neben dem Baum unter dem Schnee, nicht wahr?« Er zielte auf den Baumstamm, berechnete die Entfernung und warf.
Der Schneeball verschwand eine Elle vor dem Baum im Neuschnee, doch unten aus dem Gang war das Knirschen von Zweigen und Wickelungen zu hören. Etwas zerbrach, und plötzlich stürzte der Schnee über der Hütte zusammen.
»Die Dachbalken waren dabei zu brechen.« Volom zuckte mit den Schultern und begann alles zusammenzusuchen, was er aus der Hütte befördert hatte. »Noch eine Nacht, und das Dach wäre über unseren Köpfen zusammengestürzt.«
Volom-Kar watete, Gamle im Schlepptau, in den Wald. Dort hatten die Zweige den Schnee ein wenig abgehalten. Weit hinten an einem Stamm fanden sie Schutz unter einer Wand von Fichtenzweigen, die der Schnee zu Boden gedrückt hatte. Volom-Kar kniete vor dem Baum nieder, während sich Gamle, eine Decke unter dem Gesäß, unter die Zweige schob.
»Oh, Großer Bruder!« Volom legte seine Hand auf die Rinde des Baumes. »Leih uns deine Äste, denn wir frieren. Und erlaube mir, dir ein paar Zweige abzuschneiden, damit wir uns an deinem Stamm wärmen können!«
»Sag, dass es um mich geht, den Häuptling!« Gamle breitete die andere Decke über seinen Bauch.
»Sei still.« Volom legte seine Stirn an den Stamm. »Ich muss der Antwort lauschen.«
Er schloss die Augen, und der Baum begann zu zittern.
»Der Wind frischt wieder auf.« Gamle zog die Decke bis unter seinen Bart hoch.
Volom fauchte ihn an, zu schweigen.
»Danke…« Er krabbelte vom Stamm weg, nahm seinen scharfen Stein aus dem Gürtel und kroch wieder in den Schnee hinaus.
Volom-Kar kletterte bis zu den obersten Ästen des Baums empor. Dort schnitt er ein paar Zweige und warf sie hinunter, während die Windböen den Stamm hin und her schwanken ließen. Drinnen beim Gamle bedeckte er den Boden mit den Zweigen und verwob sie zu einer Wand, mit der er die Öffnung des Unterschlupfs versperrte. Er schnitt Splitter von den Holzscheiten und errichtete damit ein Lagerfeuer, das kaum größer als seine Faust war. Als er es entzündet hatte, stapelte er größere Zweige ringsherum. Der Rauch entwich durch ein Loch im Schneedach. Auf der anderen Seite der Zweige konnte er den Himmel als weißen Fleck erkennen.
»So.« Er beugte sich über die Zweige und blies. »Jetzt werden wir uns schon warm halten, bis Loke kommt.«
Er bekam keine Antwort von Gamle. Der Häuptling lag mit über der Brust gefalteten Händen da und schlief, und Volom-Kar dachte, er sei erschöpft davon, über den Schnee gezogen worden zu sein. Doch darum konnte sich Volom jetzt nicht kümmern. Er nahm seinen spitzen Hut ab und presste sein Ohr gegen den Stamm des Baumes. Gleichzeitig schloss er seine Finger fest um die roten Zapfen, wie er es zu tun pflegte, wenn er sich Sorgen machte. Denn er mochte es nicht, dass Gamle in den letzten Tagen so schwermütig geworden war. Der Häuptling begann, den Mut zu verlieren, doch Volom wollte ihm keine Vorwürfe machen. Es waren bald vier Monde verstrichen, seit Gamle das Pilzweh bekommen hatte, und er war nur mehr ein Schatten des fetten Waldgeistes, der nach Erste Schneeflocke gekommen war, um Visom zu feiern. Das war genug, um selbst dem standhaftesten Waldgeist den Mut zu rauben, auch wenn sie alle die Geschichte von Urres neun Jahre andauerndem Pilzweh kannten.
»Ojojojojoj«, klagte Gamle und drehte ihm den Rücken zu.
Volom-Kar zog den Primstab aus den Zweigen. Es wäre nicht gut, ihn zu verbrennen, dachte er. Bei all dem Schnee gab es kaum einen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Er strich mit seinem Daumen über die Kerben. Drei Monde und zweimal elf Tage. Neun Tage noch. Wo waren Loke und die Waldgeister jetzt wohl? Waren sie unten in der Stadt der Jäger, begannen sie jetzt den Großen Weg emporzusteigen? Oder waren sie noch weiter entfernt? Er schob den Primstab in seine Jacke. Was, wenn sie die Wurzel noch gar nicht gefunden hatten? In der letzten Zeit hatte er Gamle jeden Tag gefragt, ob er nicht wenigstens versuchen könne zu rufen. Und er hatte es versucht. Doch die jämmerlichen Stöhner waren weit entfernt von dem mächtigen Trollbrüllen, das der Gamle für gewöhnlich zu dieser Zeit des Jahres in die Welt hinausschickte.
Volom schaute durch das Loch hinaus und kniff die Lider zu, als eine Schneeflocke in seinem Augenwinkel landete. War das ein Vogel dort im Wipfel des Nachbarbaumes? Er wischte sich mit seiner Faust das Auge trocken. Das war wieder der Rabe. Er war ein paar Tage, nachdem Gamle die schwarzen Vögel herbeigerufen hatte, gekommen und hielt sich seitdem hier auf. Fast schien er auf etwas zu warten.