Die Reise zur Felsenburg

 

Wach auf!«

Karain zuckte zusammen. Eine kleine Hand zerrte an seinem Bein.

»Wir müssen weiter!«

Er öffnete die Augen. Schnee rieselte über seine Lider, als er den Kopf hob. Die Waldgeister standen unten an seinen Füßen auf dem Boden. Loke lächelte.

»So ein Schneegestöber!« Er schaute sich um. »Ein Fuß hoch in einer einzigen Nacht, und es sieht nicht so aus, als wolle es bald aufhören!«

Karain blinzelte in den weißen Himmel empor und atmete schwer. Die Schneeflocken kitzelten seine Nase. Als er seine Beine bewegte, spürte er, dass sich Kirgit unter die Decke gekuschelt und ihren Kopf auf seinen Schoß gelegt hatte. Karain wischte den Schnee von ihr, und zwei schmale Augen lächelten ihn an.

Er sprang zu den Waldgeistern hinunter. Bile und Vile hatten unter dem Wagen Schutz gesucht. Bul hatte es irgendwie geschafft, auf den Rücken des Pferdes zu klettern. Er hockte da und bürstete den Schnee aus der verfilzten Mähne des Tieres, das traurig in den Wintermorgen wieherte.

»Wir bräuchten einen Schlitten.« Loke zog seinen Ärmel hoch und maß die Tiefe des Schnees am Rad. »Wenn das so weiterschneit, wird sich der Wagen festfahren. Nicht dass ich so viel Erfahrung hätte, aber…«

Er blinzelte wieder zu den Wolken hoch.

Karain hockte sich neben ihm hin. Die Schneedecke erreichte schon fast die Achse des Wagens. Das Pferd würde ihn kaum ziehen können. Und außerdem benötigte das Tier alle seine Kräfte, um der Kälte zu widerstehen. Er warf einen Blick über die Schulter. Das Pferd schüttelte den Schnee von seinem Rücken, während, sich Bul krampfhaft an seiner Mähne festklammerte.

»Und die Gegend hier kenne ich auch nicht.« Loke schnäuzte sich in seinen Bart. »Ich weiß nur, dass wir nach Norden müssen, um die Wurzel zu finden. Aber keiner von uns wird es mehrere Tage ohne Essen in dieser Einöde aushalten. Wenn doch nur ein Wald in der Nähe wäre!«

»Hier gibt es nicht einen einzigen Baum bis zum Westwald!« Kirgit legte ihre Arme auf den Wagenrand. »Aber die Felsenburg ist drei Tagesritte von Krett entfernt. Drei Tage im Sommer.«

Sie schob sich die Haare hinter die Ohren und stand auf.

»Da«, sagte sie und zeigte ins Schneegestöber. »Die Richtung, glaube ich.«

»Glaube?« Loke trat einen Schritt in den Schnee hinaus. Karain sah die Furchen auf seiner Stirn. »Wir haben einen Wirklich Wichtigen Auftrag. Wir müssen wissen, nicht glauben!«

»Richtig.« Bul nutzte die Gelegenheit, Einigkeit mit seinem Meister zu zeigen, während er hoch über ihnen rittlings auf dem Pferd thronte. »Glauben reicht nicht.«

»Vater hat mir das erzählt.« Kirgit stemmte die Hände in die Hüften und warf den Kopf in den Nacken. »Er war oft in Krett. Wir verachten die Kretter, aber sie haben Waren, die wir benötigen.«

»Waren?« Bul kratzte sich am Bart. Er verstand sicher den Zusammenhang nicht, dachte Karain.

»Ich finde, Karain soll entscheiden«, sagte Loke. »Er hat uns bislang so gut geholfen, mit dem Boottier und allem. Und ich bin nicht so dumm, nicht zu bemerken, dass er etwas Großes in sich trägt. Er hat von den Vögeln die Gabe der Verwandlung bekommen.«

Karain spürte Kirgits Hand auf seiner Schulter.

»Vogelmann…«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Wieder dieser Name! Vogelmann? Nannte sie ihn so, weil Federn aus seiner Haut wuchsen? So, wie er aussah, war es nicht verwunderlich, dass sie einen Spitznamen für ihn suchte, doch sie schien diesen Namen irgendwie schon länger zu kennen und kein bisschen im Zweifel zu sein, dass das sein Name sein musste.

»Was meinst du, Karain?« Loke blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Schneegestöber. »Was sollen wir tun? Welchen Weg sollen wir nehmen? Entscheide du!«

Karain wartete, bis Kirgit ihn losließ. Dann bewegte er sich vom Wagen fort. Er schüttelte seine Schultern und bürstete sich den Schnee von seinen Ärmeln. Die Federn stellten sich auf, wenn er seine Krallen bewegte.

»Wir können nicht zu den Krettern zurückgehen«, begann er.

»Doch, wir können die Stadt in Schutt und Asche legen!« Kirgit lachte und warf die Decke ab. Sie stand auf und hüpfte mit Kriegsgeheul durch den Schnee.

»Wir holen meinen Vater und dann jagt er sie aufs Meer hinaus! Ja, wartet nur, bis er zu hören bekommt, dass sie mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen wollten!«

Sie ballte ihre Faust, streckte sie nach Süden in den Himmel und rief etwas, das Karain nicht verstand. Der Gedanke an diese unbekannte Burg und die Idee, nach Krett zurückzukehren, um Rache zu nehmen, kamen für ihn so plötzlich.

»Deinen Vater holen? Aber dafür müssen wir…«

»Zur Felsenburg!« Kirgit drehte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, im Kreis. Sie erinnerte ihn an die Frauen in Krugant, wenn sie im Sommer im Hafen tanzten.

»Wir haben keine Zeit, uns in die Streitereien der Hässlinge einzumischen!« Loke watete, den Zeigefinger zum Himmel erhoben, durch den Schnee. Er stellte sich zwischen sie.

»Wir müssen die Rote Runde Wurzel finden. So schnell es nur geht. Das ist unsere Aufgabe. Es wird nicht eher Frühling geben, ehe der Gamle nicht wieder gesund ist!«

Er hob die Augenbrauen und sah sie beide streng an.

Da erinnerte sich Karain, was ihm der Rabe gesagt hatte.

»Nein«, sagte er. »Das stimmt nicht ganz. Wenn…«

Loke verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe keine Wahl! Wenn ihr nicht mitkommen wollt, muss ich mit meinen Schülern allein gehen.«

»Nein!« Karain suchte nach den richtigen Worten. »Ich will ja helfen«, stotterte er. »Aber…«

»Gut!« Loke klatschte ihm mit der Hand aufs Bein. »Ein Waldgeist kann in der Welt der Großen alle Hilfe gebrauchen.«

Karain entschloss sich, es erst später zu sagen. Wenn es stimmte, was Kirgit sagte, lag diese Felsenburg drei Tagesritte von hier entfernt. Im Nordwesten, hatte sie gestern gesagt. Zwischen Krett und der Siedlung der Fischer weit oben am Westwald gab es keine menschlichen Siedlungen, das wusste er aus den Geschichten, die er gehört hatte. Sie hatten keine andere Wahl, als zu versuchen, diese Felsenburg zu erreichen. Aber was, wenn ihn die Menschen dort auch für einen Dämon hielten? Für einen Dämon halten, dachte er und fuhr sich mit seinen Krallen über den Kopf. Er war ein Dämon. Ein Vogeldämon.

»Was meinst du?« Loke schaute zu ihm auf.

»Felsenburg!«, sagte Karain. »Hoffentlich wollen sie uns da nicht auch verbrennen.«

Loke gab darauf keine Antwort. Er ging zu dem Pferd und zog. Bul am Bein, und als dieser zu Boden gefallen war, forderte er Bile und Vile auf, unter dem Wagen hervorzukommen.

»Wir verbrennen niemanden und ganz sicher nicht den Vogelmann!« Kirgit ergriff seine Hand. »Mein Volk wartet schon lange auf Den, Der Federn Trägt.«

Sie fuhr mit ihren schlanken Fingern über seine Wangen.

»Ich werde euch den Weg zeigen«, sagte sie lächelnd.

Karain wagte sich kaum zu bewegen, und noch weniger wollte er sprechen. Er spürte das Zucken in seinem Nacken und war froh darüber, dass die Federn seine Haut bedeckten, denn er fühlte, dass er rot geworden war. Sie hielt seine Hand. Ekelte sie sich denn nicht vor seinen Krallen?

»Die Gewohnheiten der Hässlinge sind eigenartig.« Karain hörte Bul murmeln. Bile und Vile kicherten wie kleine Kinder, als er sich umdrehte. Die Waldgeister waren in den Wagen geklettert.

»Helft uns, die Planken aus dem Wagen zu lösen«, sagte Loke und schob einen großen Splitter in den Schlitz zwischen zwei Brettern. »Das Pferd kann uns bei dem Schnee nicht ziehen. Wir brauchen Holz und sollten so viel wir nur tragen können mitnehmen.«

Karain kletterte zu ihnen hoch, und Kirgit tat es ihm gleich. Die Waldgeister zerrten die Bretter aus den eisernen Beschlägen und warfen sie zu Boden. Sie waren stärker, als sie aussahen. Karain und Kirgit traten den morschen Kutschbock zusammen. Gemeinsam mit den Waldgeistern zerhackten sie dann die Ladefläche. Kurz darauf hatten sie den Wagen all seines Holzes beraubt. Sie stapelten es zu sechs Haufen auf und banden jeden Stapel mit einem Stück der Zügel und des Zaumzeugs des Pferdes zusammen. Loke schnaufte in seinen Bart, als Karain fragte, ob er und Kirgit nicht ein bisschen mehr als sie tragen sollten.

 

Der Schnee rieselte zu Boden. Er reichte Karain bereits fast bis ans Knie. Er wusste noch, was er geträumt hatte. Bei solchem Schnee wurde das Eisland erschaffen. Alle lebenden Wesen hielten sich jetzt in ihren Hütten und Behausungen auf und warteten auf Besserung. Und wenn sie erkannten, dass es nie wieder aufhören würde zu schneien, war es zu spät. Dann hätte sich der Schnee so hoch aufgetürmt, dass sich niemand mehr, abgesehen von den Vögeln, fortbewegen konnte. Doch auch die Vögel würden bald gehen, wenn die Bäume im Weiß ertranken.

Karain kratzte den Schnee weg, der sich unter dem Ärmel seiner Jacke festgesetzt hatte, und blickte zurück. Kirgit kam hinter ihm her; trotz der Holzlast auf ihren Schultern ging sie mit geradem Rücken. Sie lächelte unter ihrer Kapuze. Es tat ihm gut, dass sie seinen Umhang trug, sodass sie nicht fror. Den Umhang, den seine Mutter genäht hatte.

Hinter ihr stapften die Waldgeister, allen voran Loke, als undefinierbare Gestalten unter ihrer gewaltigen Holzlast durch den Schnee, der ihnen fast bis zur Hüfte reichte. Er kannte keine zäheren Wesen als diese kleinen Geschöpfe. Auch wenn es jederzeit so aussah, als würden sie unter ihrer Last zusammenbrechen, stapften sie unbeirrt im immer gleichen Tempo weiter.

Er wischte sich den Schnee vom Kopf und strich dem Pferd über den Rücken. Der Atem hing weiß vor den Nüstern des schweren Tieres. Dann fuhr er mit seiner Hand über das Maul des Pferdes. Es durfte nicht nass werden, denn dann würde der Schweiß gefrieren, wenn sie rasteten. Sie hatten ihm das Zaumzeug abgenommen, damit es nicht in den Mundwinkeln festfror, aber trotzdem folgte ihnen das Tier. Auf dem Rücken hatte es einen weißen, etwa schildgroßen Fleck, doch ansonsten war es braun. Am Rande des Flecks waren kleine, braune Punkte, wie Nägel am Rande des Schildes.

»Ich glaube, ich werde dich Schildmann nennen«, sagte Karain und fuhr mit seinen Krallenfingern über den runden Fleck. »Ich habe keine Ahnung, wie dich die Kretter genannt haben, aber jetzt, da du mit uns reist, sollst du einen neuen Namen bekommen.«

Namen… Er dachte nach. Vielleicht benötigte er selbst einen Namen für seine neue Gestalt? Die Kelsmänner hatten einen Krieger mit Namen »Schwarzfeder«. Das würde ihm jetzt gerecht werden. Doch was hatte Vater ihm über seinen Namen erzählt? Sein Großvater hatte zu Lebzeiten den gleichen Namen getragen, es war ein Wort, das der alten kelsischen Sprache entstammte. »Kar« stand für Krieger und »ain« für fremd. Er erinnerte sich so genau daran, da Vater seinen Namen immer heranzog, um ihnen den Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Worten klarzumachen. Eine fremde Frau würde auf Kelsisch »Kirien« heißen, mit »ien« für fremd, denn »Kir« war weiblich. Oder war es umgekehrt? Das mit den Namen war kompliziert, sodass es wohl am besten war, den Namen zu behalten, den er hatte. Außerdem erinnerte der Klang seines Namens ein wenig an den Schrei eines Raben, und das passte ja ganz gut.

Karain schloss den obersten Knopf seiner Jacke. Er war froh, dass es nicht stürmte. Schon der kleinste Windstoß würde den Neuschnee aufwirbeln und es unmöglich machen, etwas zu sehen. Drei Tagesritte während des Sommers, hatte sie gesagt. Die Fonorer rechneten zwei Tagesmärsche für einen Tagesritt, vorausgesetzt, man ließ die Pferde mittags grasen. Das hieß sechs Tage! Und ein solches Wetter erschwerte die Wanderung noch dazu. Sie mussten wohl mit der doppelten Zeit rechnen, zehn Tage oder mehr. Wie sollten sie das ohne Nahrung schaffen? Wasser gab es in gefrorener Form genug, doch wie lange schafften sie es ohne Nahrung?

Zu Hause in Krugant war einmal mitten in der Nacht ein Schiff an die Mole getrieben worden. Die Arer, die ganz hinten im Hafen vor Anker lagen, erwachten von dem Kratzen des Schiffsrumpfs auf den Steinen. Sie alarmierten das Stadtheer, und nach allem, was er am nächsten Tag gehört hatte, dauerte es sehr lange, bis die Männer des Muru auf die Mole stürmten, um das Schiff anzuzünden und aufs offene Meer hinauszuschieben. Er wurde von Vater geweckt, und gemeinsam mit seinen Brüdern war er zum Hafen hinuntergerannt, um zuzusehen. Sie waren sich sicher, dass das Schiff die Pest an Bord hatte. Wenn es dem Stadtheer nicht gelang, das Schiff aufs Meer zurückzuschieben, würden die Ratten an Land springen und die Pest verbreiten.

Aber die Pest war nicht an Bord. Die ausgehungerte Mannschaft hing wie Gespenster über der Reling, bis das Stadtheer sie schließlich an Land trug. Sie waren nur noch Haut und Knochen und so schwach, dass sie nicht mehr stehen konnten.

Später wurde bekannt, dass das Schiff aus Kajmen stammte, einer Stadt an der Ostküste, die nur eine Tagesreise entfernt lag. Ihr Steuer war gebrochen, als sie auf eine Schäre aufgelaufen waren. Als der Steuermann hinuntertauchte, um den Schaden zu begutachten, entdeckte die Mannschaft, dass ein Haischwarm dem Schiff folgte. Sie wurden über einen Monat mit der Strömung herumgetrieben, doch im Lastraum befand sich bloß Nahrung für zehn Tage. Sie tranken Regenwasser und hungerten. Für einige von ihnen kam jede Hilfe zu spät, als das Schiff endlich im Hafen von Krugant angespült wurde.

Karain schob zwei Krallenfinger unter die Schulterriemen. Die Holzlast war schwer. Die Splitter bohrten sich in seinen Rücken, zumindest fühlte es sich so an. Er senkte den Kopf und biss die Zähne zusammen. Zehn Tage so weiter, und das ohne Essen. Es würde eine lange Reise werden.

 

Als das Tageslicht dem Dunkel der Nacht wich und sich die Schneeflocken in weiße Punkte im Schwarz verwandelten, errichteten sie ihr Lager. Die Waldgeister bauten aus den Holzbündeln einen Windschutz, während Karain und Kirgit mit den Bretterresten einen Platz freischaufelten, auf dem sie sitzen konnten. Schildmann stand etwas abseits und sah zu. Er atmete Dampf in die Nacht, und sein Fell wurde langsam weiß. Manchmal schüttelte das Pferd die Mähne und schnaubte, bevor es den Nacken senkte und ihn mit seinen schwarzen Augen anstarrte. Es war, als würde ihm das Tier sagen, dass es keine Hoffnung mehr gab, dass sie sich ebenso gut auf den Boden legen und sich vom Schnee bedecken lassen könnten. Karain wusste, dass er Loke darüber informieren musste, was er in seinem Traum über den Gamle erfahren hatte. Aber die Waldgeister waren mit dem Lagerplatz beschäftigt und hatten nicht einmal Zeit, miteinander zu reden. Bul und Bile rissen Splitter von einer Planke und stellten sie dort, wo später das Feuer brennen sollte, in Form eines winzig kleinen Zeltes auf. Loke watete zu Schildmann hinüber, um ihn dazu zu bewegen, sich näher an die Flammen zu stellen, während Vile die letzten Schneeflocken von der Lagerfläche fegte. Bul und Bile zündeten mit ihren Flintsteinen die kleinen Holzsplitter an und ließen das Feuer mit Hilfe der Bretterreste höher wachsen.

»Wir müssen es klein halten.« Loke lockte Schildmann näher zum Lagerplatz und wärmte sich die Hände über den Flammen. »Wir müssen Holz sparen.«

Karain hockte sich hin. Kirgit setzte sich an seine Seite und schob ihre Arme unter die seinen.

»In der Felsenburg haben wir ein Sprichwort«, sagte sie. »Kleine Feuer wärmen besser als große.«

Karain spürte ihren Kopf auf seiner Schulter. Sie lehnte sich an ihn. Dass sie ihn nicht abstoßend fand! Ihn, den Verunstalteten, den Dämon. Aber sie bezeichnete ihn nicht mit solchen Namen. Sie benutzte das Wort Vogelmann. Noch nie zuvor hatte ihn jemand »Mann« genannt.

»Kleine Feuer wärmen besser als große? Ist das alles?« Vile fasste sich an den Kopf und schielte sehnsüchtig zu dem Ledersäckchen neben Kirgits Füßen hinunter.

»Ja«, sagte sie. »Denn dann sitzt man dichter beieinander und wärmt sich gegenseitig.«

»Die Felsenburg.« Loke blickte auf seinen Bart hinunter; bald konnte man die Haare vor lauter Schnee nicht mehr erkennen, und so packte er ihn mit beiden Händen und schüttelte ihn wie einen Teppich aus. Schneeflocken flogen in alle Richtungen.

»Erzähl mehr von diesem Ort. Ich mag es, von fremden Völkern zu hören.«

»Wir leben in einer Stadt hinter den Felsen«, sagte Kirgit.

Karain fand es seltsam, sie sprechen zu hören. Ihr Kopf ruhte noch immer auf seiner Schulter, und er konnte es fühlen, wenn sie den Mund öffnete. Die Worte ließen seinen Körper zittern. Er mochte das. Er mochte es, wenn sie so dicht bei ihm saß.

»Mein Volk geht in den Bergen auf die Jagd. Mit Pfeil und Bogen schießen wir Schneehühner und Steinböcke, und in den Bächen und Flüssen fangen wir Fische, denen der Regenbogen seine Farbe gegeben hat.«

Karain wischte sich den Schnee vom Kopf. Die Federn wärmten ihn. Oder war das Kirgit?

»Es ist eine verborgene Stadt. Nur die Kalane und die Felsenbrücke verraten, dass wir hinter den Klippen wohnen.«

»Was?« Loke zog seine Augenbrauen zu einer tief gefurchten Stirn hoch, auf der die Schneeflocken schmolzen und über die Schläfen herabrannen. »Kalane? Was ist das? Brücken im Fels?«

Kirgit lachte und hob den Kopf. »Kalane sind Sichtfenster, die in die Felswände geschlagen werden. Sie sind so groß, dass dort zwölf Männer gleichzeitig stehen können. Sie sind nach dem ersten Häuptling der Felsenmenschen benannt, der sie erschaffen hat. Von den Kalanen aus beobachten wir die Ebene. Wir können viele Tagesmärsche weit nach Osten, Süden und Norden sehen. Und die Brücken im Fels werdet ihr sehen, wenn wir dort ankommen. In der Felsenburg sind wir sicher. Das Gebirge im Innern der Burg ist unser Land. Dort gibt es niemanden sonst.«

Loke legte ein Stück Holz auf das Feuer.

»Du sprichst kluge Worte für dein Alter. Was du sagst, sollte mindestens eine Nacht überdacht werden. Doch jetzt müssen wir schlafen, denn wir brauchen all unsere Kräfte für morgen. Es wird ein anstrengender Marsch werden, wenn sich das Wetter nicht ändert. Lasst uns am Feuer Wache halten und abwechselnd schlafen.«

»Ich übernehme die erste Schicht«, sagte Kirgit, »zusammen mit Karain.«

 

Die Waldgeister rollten sich auf die Seite und wurden still. Karain beobachtete sie, doch nichts geschah. Dieses Mal verwandelten sie sich nicht in kleine Hügelchen, obgleich der Schnee auf sie herabrieselte. Merkwürdig, dachte Karain, aber vielleicht war das ja, weil sie wussten, dass sie geweckt würden, um am Feuer Wache zu halten. Er streckte seine Beine aus. Der Schnee ließ seinen Hosenboden nass werden, aber er wollte sich jetzt nicht darum kümmern. Seine Beine fühlten sich nach dem langen Marsch wie Äste an.

Kirgit ging zu Schildmann hinüber. Sie bürstete den Schnee von seinem Rücken und bedeckte ihn mit ihrem Umhang.

»So, so frierst du nicht.«

Sie fuhr ihm mit der Hand über die Mähne und wandte sich wieder Karain zu.

»Wir müssen alles teilen, was wir haben, auch zwischen Tier und Mensch.«

Er antwortete nicht. Als sie mit Loke gesprochen hatte, da hatte sie wie eine erwachsene Frau geklungen. Er selbst war nicht so redegewandt. Aber es gefiel ihm, dass sie sich um das Pferd sorgte.

»An was denkst du?« Sie stellte sich auf die andere Seite des Feuers und rieb ihre Hände über der Wärme. »Ich sehe, dass du an etwas denkst. An was?«

Wieder hatte er das Gefühl, als verklemmten sich die Worte in seinem Hals. Er hatte so viel zu sagen, so schrecklich viel. Er wollte ihr erzählen, was der Rabe ihm gesagt hatte. Und er wollte fragen, warum sie ihn »Vogelmann« nannte.

»Das ist kein Zufall. Nichts ist zufällig.« Sie sprach, während sie ein paar Scheite auf das Feuer legte. »Der Himmelsvogel Kragg, der uns die Nacht beschert, indem er seine Flügel über der Welt ausbreitet, sagt, dass alles eine Bedeutung hat. Deshalb bin ich über Bord gefallen und in Krett angespült worden. Und deshalb haben uns die Kretter an den gleichen Pfahl gebunden. Kragg will, dass ich dir den Weg zu meinem Volk weise. Denn wir leben an den Felsen, über denen die Adler kreisen. Du bist der Vogelmann und du sollst uns die Augen der Vögel geben.«

Karain war sprachlos. Kragg! Wie der Rabe im Traum! Wie konnte sie von seinem Traum wissen? Hatte er im Schlaf gesprochen oder war mehr an der Sache? Die Augen der Vögel… Er begriff nicht ganz, was sie meinte, wohl aber, dass es um etwas Großes ging. Zu groß, um es zu verstehen. Er war schließlich bloß Karain. Wenn er groß war, wollte er Böttcher werden, zu etwas anderem taugte er nicht. Aber trotzdem… was da alles geschehen war. Die Flucht aus Krugant, die Federn in seiner Haut. Wer sonst sollte der Vogelmann sein, wenn nicht er? Und hatte er nicht mit dem Raben, dem Himmelsvogel Kragg, in der Sprache der Vögel gesprochen?

Kirgit kam wieder zu ihm. Sie schob ein Stück Holz unter ihre Fersen und hockte sich dicht an seine Seite. Es schneite.

 

Seine Flügel waren stärker als jemals zuvor. Er glitt über den Winter und suchte nach Wärme. Und er fand sie; ein schwerer, feuchter Wind blies ihm ins Gesicht. Doch wo kam er her? Er war wie ein Atem, ein schwerer Atem.

Er tauchte durch eine Wolke nach unten, und dort entdeckte er den großen Kopf, ein lebendiger Berg aus Fleisch und Pelz. Der Dampf zischte durch zwei Löcher, und über diesen starrten ihn zwei Augen an, die wie bodenlose Seen aussahen.

Karain blickte direkt in die Nüstern des Pferdes. Es schnaubte ihm ins Gesicht und wieherte, sodass er nach hinten umkippte. Da spürte er, wie sehr seine Knie schmerzten und die Beine stachen. Er rappelte sich auf und schüttelte seine Füße aus. Es war nicht leicht, eine ganze Nacht in der Hocke zu sitzen.

Kirgit und die Waldgeister banden bereits das Holz zusammen.

»Gut, dass du wach bist«, sagte Loke. »Heute werden wir gut vorwärts kommen. Ich habe mit Schildmann gesprochen, und er glaubt, das Wetter wird halten.«

Er deutete mit seinen kurzen Fingern nach oben und zog den Riemen um das Bündel Holz fest an.

»Schildmann?« Karain schüttelte seine Oberschenkel aus, damit sein Kreislauf in Gang kam. »Woher weißt du, dass…«

»Ihr Hässlinge vergesst immer wieder, dass wir Waldgeister wie Hunde hören können. Du hast ihm gestern diesen Namen gegeben, und ich gratuliere: Das ist ein guter Name, das hat mir Schildmann sogar selbst bestätigt.«

Karain sah zu dem Pferd hinüber, das die Ohren aufstellte. Der Himmel über ihm war blau wie an einem Sommertag. Karain atmete den leichten Wind ein und streckte die Arme aus. Bei so gutem Wetter war der ewige Winter ein weit entfernter Gedanke.

»Du solltest nicht so glücklich aussehen.« Bile verzog seinen Mund unter seinem Bart. Er raschelte mit seiner Zapfenkette und versuchte düster dreinzuschauen. »Der Wind kann stärker werden, und dann bekommen wir einen Schneesturm.«

Vile grinste.

»Bile glaubt, er sei ein Seher, aber meistens irrt er sich. Verlass dich nicht auf ihn.« Er kicherte in seinen Bart, bis Loke ihm ein Holzbündel auf die Schulter legte.

»Los geht’s«, sagte der Trolljäger und nickte Karain zu.

Auch Karain schulterte sein Bündel, ging voran und bahnte ihnen allen einen Weg durch den Schnee. Er reichte ihm jetzt bis zu den Knien. Dahinter folgte Loke, dann Kirgit und Schildmann. Bile, Vile und Bul stapften in der ausgetretenen Spur wie ein Schwanz aus zerborstenen Brettern, Bärten und Hüten hinterher.

 

Bei der nächsten Rast weihte er Loke ein. Er flüsterte es ihm zu, doch der alte Waldgeist verzog keine Miene. Er vergrub die Hände in seinem Bart und sagte, er kenne die Legende vom immer währenden Winter. Doch so, wie er es gehört hatte, sollten die Winter im gleichen Maße länger werden, wie die Bosheit des Volkes der Großen zunahm, bis Frühjahr, Sommer und Herbst schließlich nicht mehr waren als ein einzelner Sonnenstrahl zwischen den Schneeschauern. Der Gamle hatte die Ganze Wahrheit für sich behalten, meinte er und bat Karain, die Worte des Raben auch den anderen mitzuteilen.

Und Karain stand auf und sprach zu ihnen. Er sagte, was der Rabe ihm über die vier Monate anvertraut hatte und über das Ende der Welt.

Vile und Bile vergruben ihre Gesichter in ihren Bärten, während Bul aufstand und vor sich hinmurmelnd auf und ab lief. Er sagte immer und immer wieder »Übler Plan« und »Schaffen wir nie«, bis Loke ihn packte und an der Jacke schüttelte.

»Der Gamle hatte einen Grund, uns das nicht zu erzählen!«, sagte er und schob seine Hände hinter seinen Gürtel. »Er wollte nicht, dass wir den Mut verlieren, denn er war sich sicher, dass wir es in vier Monaten schaffen können!«

Bile und Vile schauten aus ihren Bärten auf. Vile rieb sich die Augen.

»Wenn der Gamle doch nur nicht all die Pilze gegessen hätte!« Bile trocknete mit seinem Bart die Wangen seines Bruders. »Er hätte es besser wissen sollen, unser Häuptling. Ich verstehe auch nicht, warum es nicht möglich sein soll zu rufen, auch wenn man Pilz-Schmerzen hat!«

Bile klang nicht so freundlich wie sonst immer. Er hatte eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen, und sein Mund lag schmal wie die Klinge eines Schwerts hinter seinem Bart.

Loke holte tief Luft und schüttelte entmutigt den Kopf.

»Es ist richtig, dass es dumm war von dem Gamle, so viel zu essen.« Der Trolljäger trat zu seinen beiden Schülern vor und legte seine Hände auf ihre Schultern. »Aber so etwas kann selbst dem Klügsten passieren. Und ich bin sicher, dass er den Frühling herbeirufen würde, wenn er es nur könnte. Aber, Kinder, der Gamle ist nicht nur unser Häuptling, er ist der Westwald in Person, der Boden für aller Bäume Wurzeln!«

Sowohl Vile und Bile als auch Bul starrten Loke mit weit aufgerissenen Augen an. Karain spürte, welche Kraft in Lokes Worten lag, wie sie lockten und sangen.

»Und wenn der Boden verdorben ist, kann nichts wachsen. Das wissen die Jahreszeiten. Deshalb können wir nur versuchen, nicht den Mut zu verlieren, damit wir die Große Rote Wurzel so schnell wie möglich finden!«

Loke warf sich das Holzbündel auf den Rücken.

»Also los, Kinder! Wir sind auf dem richtigen Weg, und ich will nicht eine einzige Klage aus euren Bärten hören.«

Er sah, dass sich seine Schüler marschbereit machten, und blickte zu Karain auf.

Karain schluckte, hob sein Holzbündel an und blickte zu Kirgit. Lokes Entschlossenheit ließ ihn unsicher werden. Doch Kirgit hatte ihr Päckchen bereits geschultert.

»Er hat Recht.« Sie nahm Karains Hand. »Wir können nichts anderes tun als weiterzugehen, so oder so.«

Als sie sich in Bewegung setzten, wurde Karain plötzlich klar, wie verrückt das Ganze war. War das alles wirklich nur deshalb geschehen, weil ein Waldgeist sich den Magen verdorben hatte? Das sollte ausreichen, damit es nie wieder Frühling wurde? Hätte er so etwas zu Hause in Krugant gehört, er hätte es niemals geglaubt. Aber seine Federn erinnerten ihn an all das, was geschehen war, Ereignisse, die ihn an das Unglaubliche glauben ließen. Und er erinnerte sich, was der Rabe in seinem Traum gesagt hatte. Er war der Vogelmann, auf den Kirgits Volk gewartet hatte. Er war der Zwillingsbruder des Raben, daran gab es keinen Zweifel.

 

Es war ein harter Marsch für sie alle, und keiner von ihnen hatte die Kraft, mehr als unbedingt nötig zu sprechen. Karain und Kirgit wechselten sich an der Spitze der kleinen Gruppe ab, und die Waldgeister kämpften sich, den Schnee bis zum Bauch, hinter ihnen her. Das Fell des Pferdes war an manchen Stellen vereist, und die Waldgeister brachen oft unter ihrer schweren Last zusammen. Als sich Kirgit über die Kälte beklagte, bemerkte er, dass sie in dem Spalt zwischen Stiefeln und Umhang ganz blaue Knie hatte. Danach ebnete er wieder den Weg. Denn ihm war nicht kalt, und obgleich es sicher schwer war, die Spur durch den Schnee zu ziehen – zu Hause in der Werkstatt hatte er sich noch mehr anstrengen müssen. Auch das nagende Hungergefühl in seinem Bauch war zu ertragen. Darüber hinaus erfüllte ihn der Gedanke, wieder auf dem Weg in ein fremdes Land zu sein, mit neuer Kraft.

Die Ebene, auf der sie sich befanden, war nicht ganz flach, sondern wie ein zu Eis und Schnee erstarrtes Meer. Die Hügel sahen wie riesige Wellen aus, und jedes Mal, wenn sie die Spitze einer Welle erreichten, sahen sie neues Land. Neues Land und neue Wellen.

 

Die nächsten Tage waren wie der erste. Sie schliefen oder dösten zusammengekauert am Feuer, während der Schnee vom Himmel rieselte. Die Holzbündel wurden kleiner und leichter, doch das war kein gutes Zeichen, denn schon am vierten Tag zählte Loke die verbliebenen Holzstücke und bemerkte, dass sie bereits die Hälfte verfeuert hatten.

Am fünften begann Karain den Hunger zu spüren, und des Nachts, wenn Kirgit ihren Kopf an seine Schulter lehnte, hielten ihn die Schmerzen wach. Denn Hunger tut weh. Es ist ein Gefühl, das sich nicht beschreiben lässt, und, Freunde, ihr solltet froh darüber sein, dass eure Eltern gute Jäger sind. Karain hatte zu Hause immer genug zu essen bekommen. Für ihn war der Hunger unbekannt. Doch jetzt, da er begonnen hatte, daran zu denken, quälte er ihn Tag und Nacht.

 

Am Morgen des sechsten Tages machten sie eine Entdeckung. Sie waren gerade erst aufgebrochen, als Vile, der am Schluss der Gruppe ging, aufschrie.

»Da! Erdriesen!«

Der kleine Waldgeist sprang im Schnee auf und ab.

»Was? Wo?« Loke rannte zu ihm zurück.

»Da«, sagte Vile und zeigte mit einem zitternden Finger nach hinten. »In unserer Spur.« Karain kämpfte sich an Schildmann vorbei durch den Schnee, und jetzt konnte auch er es sehen. Ein paar Steinwürfe hinter ihnen standen zwei Gestalten auf der Spitze des Hügels in ihrer Spur. Sie sahen aus wie Menschen, doch ihre Gesichtszüge waren aufgrund der Entfernung nicht zu erkennen. Karain schloss ein Auge und maß sie mit der Hand, wie es Seeleute machen, wenn sie den Abstand auf dem Meer berechnen. Sie waren etwa acht Fuß hoch. Er schob seine Krallenhände hinter seinen Gürtel. Jetzt erkannte er auch ihre breiten Schultern, die kräftigen Arme und Beine. Trugen sie Felle? An Armen und Beinen schienen sie keine Kleider zu tragen. Ihre Haut war grünbraun, und die Gesichter waren hinter Bart und Haaren verborgen. Sie hielten Keulen in den Händen.

»Vokker«, sagte Kirgit. »Sie haben unsere Spur gefunden und wollen uns töten, wenn wir schlafen. Das machen sie immer so.«

Sie schob sich die Kapuze des Umhangs in den Nacken. Karain sah, dass die letzten Tage an ihr gezehrt hatten. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, und ihr mageres Gesicht sah ganz grau aus.

»Sind das Trolle?« Loke hielt sich die Hand über die Augen und blinzelte zum Hügel zurück.

»Trolle?« Kirgit runzelte die Stirn.

»Erdriesen, Menschentöter, Trolle«, wiederholte Loke und schien sich ganz sicher zu sein, dass die zwei dort auf dem Hügel irgendwelche entfernten Verwandten der Erdriesen im Westwald waren.

»Das sind Riesen, ja. Menschenfresser.« Kirgit strich Schildmann über die Mähne und ging weiter.

Da hoben die Vokker die Arme und schwangen ihre Keulen. Karain spürte, wie sich seine Furcht mit einem Sog in seinem Magen vermischte. Das hatte er auch gespürt, als er den Erdriesen am Rande der Schlucht im Westwald bemerkt hatte.

Die Vokker begannen, auf sie zuzugehen, und Karain rannte hinter Kirgit her.

»Wir werden uns die schon schnappen«, schnaubte Loke. »Für mich sehen die aus wie Erdriesen, und Erdriesen haben schon immer vor uns Angst gehabt.«

»Stimmt«, brummte Bul. »Die sollten auf der Hut sein.«

»Auf der Hut sein«, wiederholte Vile mit ängstlicher Stimme.

Karain wusste noch, wie sie ihn in der Schlucht im Westwald mit Speeren und Fackeln gerettet hatten. Doch jetzt hatten sie nichts anderes als zerbrochene Bretter.

 

An diesem Tag machten sie keine Rast. Die Vokker folgten ihnen immer im gleichen Abstand. Auch wenn sie sich noch so beeilten, wurde der Abstand zu den Riesen nicht größer, aber sie kamen auch nicht näher.

»Sie warten, bis es dunkel wird«, sagte Kirgit.

Bul meinte, es sei feige, vor diesen Erdriesen-Vettern davonzulaufen. Dreimal musste Loke ihn an seinem Umhang fortzerren, damit er nicht stehen blieb und auf sie wartete.

»Wenn es uns gelingt, wach zu bleiben, werden sie uns nicht angreifen«, sagte Kirgit, als sie den Schnee wegschaufelten und ihr Lager aufschlugen. »Wenn wir ein großes Feuer machen und uns mit den Rücken zu den Flammen setzen, werden sie sich außerhalb des Feuerscheins halten.« Sie taten, was sie gesagt hatte, und Karain wunderte sich, wo sie all das gelernt hatte. Sie schien nicht einmal Angst zu haben, ebenso wenig wie die Waldgeister. Zitterte nur er so sehr, dass es unmöglich war, zu erkennen, ob das vor Furcht oder Kälte war?

Kirgit setzte sich auch in dieser Nacht zu ihm.

Als er glaubte, sie sei eingeschlafen, hielt er sich seine Hand vor die Augen. Die drei Finger, jetzt von Federn bedeckt, sahen wirklich aus wie die Kralle eines Vogels.

»Ich bin hässlich«, sagte er und ballte die Finger zu einer Faust. Er wollte das einfach ausgesprochen haben, und wenn es nur für sich selbst war.

»Nein.« Sie schaute auf und fuhr mit der Hand über die Federn auf seiner Wange. »Du bist anders.«

Mehr sagte sie in dieser Nacht nicht, doch für Karain war es genug. Niemand hatte je so etwas zu ihm gesagt. Daran musste er denken, als er zu den Sternen emporschaute, während der Vollmond auf das Eisland herabschien und die verschneiten Hügel in blaues Licht hüllte.

 

Als sie erwachten, waren die Vokker näher gekommen. Sie standen nur einen Steinwurf vom Lager entfernt und warteten. Es hatte wieder begonnen zu schneien, und die Riesen zeichneten sich bedrohlich in dem grauen Wetter ab.

Sie gingen weiter. Der siebte Tag. Das Holz würde bald verbraucht sein. Es war aufwendig gewesen, die ganze Nacht über den Feuerschein so kräftig aufrechtzuerhalten. Jeder von ihnen hatte nur noch zwei Bretterstücke. Und jetzt fror er.

Sie waren noch drei Tage entfernt, wenn er richtig gerechnet hatte. Der Hunger zehrte an ihm, machte ihn schwach. Er fühlte seinen Magen nicht mehr, nur die Muskeln unter den Rippen, die gegen die Wirbelsäule drückten. Er wusste, dass sie jetzt langsamer gingen. Er konnte das an Kirgit erkennen. Ihr Rücken war gebeugt, und sie sah so klein aus. Nur ab und zu schaute sie zu ihm auf – und lächelte. Ihr Gesicht war müde. Sie tätschelte das Pferd. Auch das Tier ließ den Kopf hängen.

 

Nur die Waldgeister verhielten sich wie zuvor. Bul stritt sich mit Loke, denn der Schüler wollte umdrehen und sich den Vokkern stellen. Vile und Bile summten und sangen beim Laufen, als verschwendeten sie nicht einen Gedanken an die Unwesen, die sie verfolgten. Und Loke war nur davon besessen, weiterzukommen. Die Trolljäger gingen jetzt voraus, wateten mit einer Kraft durch den Schnee, die selbst einen Bären hätte neidisch werden lassen. Der Atem stand ihnen wie Dampf vor den Nasenlöchern, während Eiszapfen aus ihren Bärten herabhingen.

 

»Heute Nacht werden sie angreifen«, sagte Kirgit, als sie das Lager aufschlugen. »Das Schneetreiben verbirgt sie, sodass sie sich anschleichen können.«

»Aber warum müssen sie schleichen?« Bile schaufelte den letzten Schnee weg, sodass Schildmann genügend Platz hatte. »Erdriesen schleichen nie. Die sind so groß, dass alle vor ihnen Angst haben, nur wir natürlich nicht.«

»Nein, wir nicht«, sagte Bul und verschränkte die Arme vor der Brust.

Karain legte die Holzstücke zur Seite und dachte, dass es ihm bald egal war, ob die Vokker ihn fraßen. Dieser Tag war schlimmer gewesen, als er es sich hatte vorstellen können. Der Hunger war zu einer Erschöpfung herangewachsen, die ihn bis zur letzten Pore erfüllte. Wie durch einen Nebel sah er Loke die Flintsteine gegeneinander schlagen. Er spürte Kirgit an seiner Seite, als die Flammen das Holz gelb färbten, und wollte nur noch schlafen.

 

»Karain! Du musst aufwachen!«

Karain hörte die Worte, doch sein Körper wollte sich nicht bewegen. Der Schlaf hatte derart von ihm Besitz ergriffen, dass er weder Hunger noch Kälte spürte. Am liebsten wäre er gar nicht aufgewacht. Doch Loke schüttelte ihn an der Schulter.

»Wir müssen weiter!«

Karain wälzte sich auf die Seite, und Loke half ihm hoch.

Da sah er es. Die Vokker standen nur noch ein paar Körperlängen vom Lager entfernt. Bile, Vile und Bul weckten Kirgit, die sich neben Karain zusammengekauert hatte.

»Beeil dich«, sagte Loke. »Vielleicht greifen sie nicht an, wenn wir uns beeilen, weiterzukommen!«

Karain stütze sich mit den Händen auf seine Knie und schlang den Lederriemen um die Holzstücke. Die Vokker hoben ihre Keulen und stießen so etwas wie Gelächter aus. Sie federten in den Knien und schnaubten mit ihren breiten Nasenlöchern. Über einem Flickwerk von Fellen trugen sie ein Bärenfell als eine Art Umhang, das unter ihren Bärten zusammengebunden war. Als Schmuck war an den Schultern ein dünnes, haarloses Stück Haut angenäht worden.

Loke leitete sie weiter durch den Schnee. Schildmann war fort, doch die Spuren deuteten darauf hin, dass er weiter nach Norden geflohen war. Sie folgten seiner Fährte, und die Schatten der Vokker schwankten ihnen hinterher.

 

Es war ein seltsames Gefolge. Zuerst Loke, der, den Schnee bis zu den Armen, vorwärts watete. Dann Karain und Kirgit, gefolgt von Bile und Vile, alle mit einem Holzbündel auf der Schulter. Am Ende folgte Bul, der Rücken an Rücken mit Bile rückwärts ging, und die Vokker beobachtete.

»Sie spielen mit uns«, flüsterte Kirgit. Ihre Stimme war so schwach, dass er sie kaum zu hören vermochte. »Sie wollen sehen, wie lange wir es aushalten, bis wir vor Kälte oder Hunger zusammenbrechen. Oder wahnsinnig werden.«

Karain warf einen Blick über die Schulter. Die Vokker grinsten und schnaubten wie Ochsen. Das gefällt ihnen, dachte er. Kirgit, die Waldgeister und er waren wie die Fische, die die Seeleute in Krugant in großen Tonnen gefangen hielten. Sie hatten ihren Spaß daran, zuzusehen, wie sie herumschwammen, bis sie ihre Bootshaken in ihre Leiber stießen und die Köpfe abschnitten.

»Verliert nicht den Mut.« Loke drehte sich um, ging seitwärts und kämpfte sich weiter. »Verliert nicht den Mut, dann wird alles gut werden. Ich habe mich schon aus schlimmeren Lagen als dieser befreit. Nicht dass mir jetzt konkret eine Situation einfällt, aber…«

Karain hätte gelächelt, wenn er es nur gekonnt hätte.

Da trat Kirgit an seine Seite. Sie schob ihre Kapuze in den Nacken und starrte über Lokes Kopf hinweg direkt an ihm vorbei. Dann ließ sie das Holz fallen und sprang mit ungeahnten Kräften aus der Spur in den tiefen Schnee. »Vinnian! Vater! Jorvio!«

Sie wedelte mit hoch erhobenen Armen und hüpfte durch den hohen Schnee davon, ohne sich um die Vokker zu kümmern. Und er hörte die Stimmen anderer Menschen: jemanden, der antwortete. Auf der Spitze des Hügels kamen fünf Menschen zum Vorschein. Sie trugen lederne Umhänge, Pelzmützen und hielten Bogen in den Händen. Mit einer Art Rahmen an den Füßen rannten sie über den Schnee.

Wieder riefen sie ihnen etwas zu, doch er hörte nicht, was sie sagten. Kirgit schien die Fremden allerdings zu kennen. Sie watete mit ausgestreckten Armen durch den tiefen Schnee, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Kommt!« Sie winkte sie hinter sich her. »Beeilt euch!«

Doch Karain und die Waldgeister blieben stehen, während die Fremden sich wie ein Fächer um sie scharten, bis sie plötzlich begriffen, warum es Kirgit plötzlich so eilig gehabt hatte, aus der Gruppe auszubrechen.

Denn in diesem Moment griffen die Vokker an.

 

Karain hörte ein Brüllen, ein Donnern, das der Tiefe einer Kehle entstammte. Er drehte sich um und sah die Vokker auf sie zuspringen. Der eine von ihnen schwang seine Keule in Richtung Vile, doch der schoss wie eine Ratte zwischen den Beinen des Riesen hindurch und tauchte mit einem entsetzten Aufschrei im Schnee unter. Loke rannte zu seinen Schülern zurück, trat auf seinen Bart und stürzte, so kurz er auch war, zu Boden. Bile klammerte sich an das Bein des anderen Riesen, während Bul sich vor der Keule in Acht nahm. Karain war noch nie besonders mutig gewesen, und er dachte nur daran zu fliehen. Er ließ das Holzbündel fallen, stürmte hinter Kirgit her, strauchelte und fiel seitlich in den Neuschnee. Im Liegen sah er, wie einer der Vokker Bul am Kopf packte und hoch in die Luft warf. Bile klammerte sich noch immer an das Bein des Riesen, der jetzt allerdings die Keule hob, um ihn loszuwerden. Loke stand auf und schrie ein paar unverständliche Worte, wobei er seinen Bart anhob und mit langsamen Schritten auf die Vokker zuging.

Da trafen die Pfeile. Die Vokker heulten wie Kinder auf und bürsteten die Stecken weg, die plötzlich in Armen und Beinen zitterten. Sie schlugen mit den Keulen blind um sich und stampften im Schnee umher, und irgendwo zwischen ihren Füßen sah Karain Bile hocken und seinen Hut umklammern.

Wieder zischten Pfeile durch die Luft. Die Vokker hielten sich die Arme vors Gesicht und schwankten. Sie zerbrachen die Pfeilschäfte, kreischten und machten ein paar letzte Schleuderbewegungen mit den Keulen, ehe sie in der eigenen Spur davonstürmten.

 

Es war ebenso schnell vorüber, wie es begonnen hatte. Der Schnee, den die Vokker aufgewirbelt hatten, rieselte herab und vereinigte sich mit der plötzlichen Stille. Bile und Vile schüttelten ihre Bärte aus. Bul krabbelte aus einem Schneeloch hervor und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Loke murmelte weiter in der Trollsprache und schien sich um nichts anderes zu kümmern. Karain krabbelte zurück in die ausgetretene Spur. Der Schnee schmolz in seinem Jackenkragen und rann in eiskalten Tropfen über seine Brust. Er stand auf und bewegte seine Arme.

Die Fremden umringten Kirgit. Ein dicker Mann mit breitem Gesicht und einem grauen Bart drückte sie an sich und streichelte ihr über den Rücken. Eine junge Frau legte ihr einen Pelzmantel um. Wie die anderen trug sie grobe Lederkleider, die mit Sehnen vernäht und mit Federn geschmückt waren.

Karain beugte sich zu seinem Holzbündel hinunter. Da sahen sie ihn. Der Mann mit dem grauen Bart ließ Kirgit los und deutete auf ihn. Die Fremden ließen sie stehen und kamen mit ihren seltsamen Rahmen auf ihn zu. Die junge Frau legte ihre Hand auf den Köcher mit den Pfeilen, der in ihrem Gürtel steckte, und umklammerte ihren Bogen.

»Wir werden dich beschützen, wenn sie angreifen«, sagte Bile. Karain blickte auf sie hinunter. Bile, Vile und Loke standen dicht bei ihm, Bul taumelte in die Spur und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Er schrie in alle Richtungen und bürstete sich den Schnee von den Kleidern.

»Das waren aber harte Brocken, diese Trolle! Gebt mir einen Speer, dann werde ich es ihnen zeigen! Loke!«

Loke hörte nicht auf ihn. Er sah die Fremden an, fasste sich an den Bart und biss sich auf die Unterlippe.

»Ich glaube nicht, dass sie uns etwas Böses wollen«, sagte er. »Kirgit scheint sie zu kennen. Aber seid auf der Hut, Schüler.«

Die Fremden kamen näher. Mit ihren Lederkleidern und den langen Pfeilen in ihren Köchern sahen sie aus wie Jäger. Sie standen die ganze Zeit irgendwie über ihnen, denn die Rahmen, die wie ein Gitterfenster zusammengeflochten waren, verhinderten, dass sie in den Schnee einsanken.

»Karain«, sagte Kirgit und deutete auf ihn. Die Fremden nahmen ihre Mützen ab und verbeugten sich vor ihm. Lange Locken umrahmten das Gesicht der jungen Frau. Das musste ein merkwürdiges Volk sein, dachte er, wenn Frauen mit auf die Jagd durften.

Abgesehen von dem Graubart waren die anderen Männer jung und blond. Sie erinnerten ihn an das Volk der Alven, von denen die Alten in Krugant erzählt hatten. Das schöne Volk, das in den Bergen wohnte, zu schön für diese grausame Welt.

Der Graubart fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Schädel, auf dem Schweißperlen in der Sonne glitzerten. Karain hatte den Eindruck, er sähe besorgt aus, wie er mit zusammengezogenen Augenbrauen vor sich hinstammelte:

»Ihr… Ihr seid der Vogelmann! Mein Volk hat gewartet. Wir haben so lange gewartet! Viele Generationen ist es her, dass Euer Vorgänger Flügel bekommen hat.«

Die anderen nickten und machten Bewegungen mit den Händen, als wollten sie Fische nachmachen oder etwas, das wegflog.

»Flügel…«, wiederholte er, und Karain sah, wie er seine Krallenfinger anstarrte.

Da trat Kirgit vor. Sie kletterte auf die Fußrahmen des Graubarts. Die Rahmen schienen das zusätzliche Gewicht nicht halten zu können, denn plötzlich brachen sie einen Fuß tief im Schnee ein. Der Mann ruderte mit den Armen, um nicht nach hinten zu fallen, doch Kirgit packte ihn am Gürtel und stützte ihn.

»Das ist mein Vater«, lächelte sie und nahm seine Hand. »Er ist der Häuptling des Felsenvolkes.«

»Ich bin Noj«, sagte er und warf einen säuerlichen Blick auf die anderen Jäger, die daraufhin einen Hüpfer machten wie Frösche auf einem Lilienblatt. Sie landeten und versanken ihrerseits im Schnee, und jetzt schien Kirgits Vater zufrieden zu sein. Karain verstand: Als Häuptling durfte er nicht unter den anderen stehen.

»Seit dem Sturm habe ich nach meiner Tochter gesucht. Und jetzt finde ich sie gemeinsam mit dem Vogelmann und…«

Noj verstummte, während er auf die Waldgeister hinunterschaute.

»Waldgeister«, sagte Karain. »Das sind Waldgeister. Loke…«

»Ich bin Loke«, sagte Loke und trat einen Schritt auf die Jäger zu. Er reichte Noj die Hand. Karain sah, wie der Fremde zögerte.

»Sie haben uns seit Krett begleitet«, sagte Kirgit. »Wir hätten es ohne sie nicht geschafft.«

»Krett?« Noj schien nur ungern von diesem Ort zu hören, denn er sah Kirgit an, als hätte sie eine schreckliche Dummheit begangen. Doch dann beugte er sich hinunter und schüttelte Lokes Hand.

»Wir haben einen Großen und Bedeutungsvollen Auftrag«, erklärte Loke.

»Einen Auftrag«, wunderte sich Noj.

»Wir müssen für den Gamle eine Rote Runde Wurzel finden, damit der Frühling kommen kann.«

Noj schien nicht das Geringste zu verstehen. Er drehte sich zu den anderen um, doch die zuckten nur mit den Schultern.

»Erzähl später mehr davon«, sagte Noj. »Lasst uns jetzt gehen, dann schaffen wir es bis zur Felsenburg, bevor es dunkel wird.«

Er setzte sich die Pelzmütze auf und sah in der Spur zurück. Karain warf noch einmal einen Blick auf die Rücken der beiden davoneilenden Vokker. »Wir haben zwei Schlitten, gleich hinter der Anhöhe dort!« Die junge Frau schulterte den Bogen und zog die Füße aus dem Schnee.

»Es ist nicht weit«, sagte Noj. »Wir haben da auch Schneeschuhe, aber die braucht ihr nicht. Wir fahren mit den Langschlitten.«

Die Jäger gingen los. Sie folgten der Pferdespur den Hügel hinauf.

Kirgit blieb Noj dicht auf den Fersen, und die Waldgeister folgten ihr, wobei sie versuchten, in die Spuren zu treten, die das Pferd gezogen hatte. Es waren noch immer Schildmanns Spuren, denen sie folgten, und Karain überlegte, ob er die Jäger fragen sollte, ob sie ihn gesehen hatten. Aber er hatte Angst vor der Antwort, die man ihm geben würde. Wenn er mit letzter Kraft vor den Vokkern geflohen war, war er sicher zusammengebrochen und erfroren.

Kurz bevor sie die höchste Erhebung der Anhöhe erreichten, sahen Karain und die Waldgeister das Lanzengebirge zum ersten Mal. Karain wusste nicht einmal, dass es diesen Namen trug, aber für ihn, der noch nie zuvor ein Gebirge gesehen hatte, war es ein gewaltiger Anblick. Es sah aus wie der Unterkiefer eines Drachenschlunds, nur viel, viel größer. Die Klippen türmten sich übereinander, stachen wie Lanzen Seite an Seite, eine höher als die andere, in den Himmel. Sie ragten unmittelbar aus der Ebene hervor, als habe sie ein Wolkenriese irgendwann vor langer Zeit dort abgesetzt.

»Gebirge«, flüsterte Loke. Er warf einen Blick auf Karain und nickte vor sich hin. »Hier wachsen Berge aus dem Boden.«

»Die Rote Runde Wurzel«, sagte Bile.

»Trollpack«, brummte Bul und schien sich nicht weiter für den Anblick zu interessieren.

Die Jäger und Kirgit waren bereits wieder auf der anderen Seite des Hügels hinuntergestiegen; sie waren nicht stehen geblieben, um den Anblick auf sich wirken zu lassen. Die Schlitten standen abfahrbereit am Fuß des Hügels.

»Kommt«, sagte Karain und ging weiter. Er spürte, wie ihn diese Berge und das Volk von Kirgit auf wundersame Weise anzogen.

 

Die Schlitten waren lang und schmal wie Ruderboote, sie wurden von Pferdegespannen gezogen. Als sie nach unten kamen, sahen sie, dass die Jäger sie mit Pelzen beladen hatten.

»Damit ihr nicht friert«, erklärte Noj lächelnd. »Wir sind den Spuren des Pferdes gefolgt. Als es heute Nacht zu uns kam, wussten wir, dass ihr nicht mehr weit entfernt sein konntet.«

»Schildmann!« Karain rannte zu Noj hinüber. Schildmann war mit den anderen drei Pferden angespannt worden. Dass er das nicht sofort gesehen hatte!

»Worauf warten wir?« Noj und die Jäger nahmen sich die Schneeschuhe ab und kletterten in die Schlitten. Karain folgte Kirgit und kroch gemeinsam mit ihr unter ein Bärenfell. Die junge Frau und ein langhaariger Blondschopf mit einem Schnurrbart, dessen Enden bis weit unter sein Kinn hingen, taten es ihnen auf der anderen Seite des Schlittens gleich und schoben sich unter einen Berg Schafsfelle. Die Waldgeister fanden auf dem anderen Schlitten Platz. Noj setzt sich auf den Bock. Er ergriff die Zügel, trieb die Pferde an, und dann ging es los.

 

Kirgit holte einen Leinenbeutel mit getrocknetem Fleisch unter dem Brett hervor, auf dem sie hockten. Nach so vielen Tagen ohne Essen tat ihnen der Geschmack von gesalzenem Schafsfleisch fast weh. Karain musste mehrmals schlucken, denn das Fleisch kam immer wieder hoch, als wollte sein Magen es nicht haben. Doch unter Würgen und Schlucken gelang es ihm schließlich, eine gute Portion hinunterzubekommen. Er klopfte sich auf seinen Bauch und lehnte sich wie Kirgit zurück. Sollte ihn der Schlitten doch hinbringen, wo er wollte. Er lag da und sah das Land an sich vorbeirauschen. Der Mann mit dem Schnurrbart hatte die Augen geschlossen. Die Frau lächelte Kirgit zu, doch sie sagte nichts. Hinter der Frau saß Noj auf dem Schlittenbock; er hatte ihnen den Rücken zugedreht. Am Zaumzeug der Pferde waren Glocken befestigt, die während des Trabens klingelten. Eine Wolke weißen Dampfes hüllte die tanzenden Mähnen der Pferde ein, und es wunderte ihn, wie gut die Tiere hier vorwärts kamen. Er lehnte sich über den Schlittenrand und sah, dass Grasbüschel und kleine Steine aus dem Schnee emporragten, und als er zurückschaute, erkannte er, dass die Schlitten der kurvigen Linie der Höhenzüge gefolgt waren. Die Jäger schienen zu wissen, wo der Schnee nicht so tief war.

 

Schließlich begann das Gelände anzusteigen. Die Höhenzüge wurden immer steiler, und überall lagen große Steine, die der Schnee nicht einzuhüllen vermocht hatte. Die Berge wuchsen höher und höher, und erst jetzt erkannte er, wie spitz sie waren. Sie erstreckten sich bis weit nach Westen und schienen auch nach Norden weiterzugehen.

»Das Lanzengebirge«, sagte Kirgit. Sie hatte nichts gesagt, seit sie in den Schlitten geklettert waren, doch jetzt spürte er, dass sie sich ihm näherte. Sie nahm seine Hand, und er spürte ihre Hüfte an der seinen.

Kirgit deutete zu den Bergen hoch. An ihren Gipfeln hingen Wolken, obgleich der Himmel ansonsten klar war. Er hatte von solchen Bergen gehört und fürchtete, es könnte etwas anderes sein als Wolken, nämlich Rauch. Rauch, den die Drachen hoch dort oben in ihren Höhlen ausstießen. Sie beobachteten sie jetzt. Jederzeit konnten sie mit ihren gigantischen Fledermausflügeln heransegeln und Feuer speien.

»Einmal, als die Berge noch jung waren, lebte hier ein Riese.« Kirgit richtete sich auf und breitete die Arme aus. Karain streckte seinen Rücken; er wollte nicht einfach so liegen bleiben, während sie aufrecht dasaß und erzählte.

»Er war so groß, dass er die Wolken im Winter als Schal benutzte«, fuhr sie fort. »Und sein Speer war noch größer. Er war der Namenlose. Er hatte sich willentlich in eine Schlange verwandelt und viele Jahre in einer Höhle am Fuß der Berge verschlafen. Die Welt hatte ihn vergessen. Jetzt hatte er wieder seine alte Gestalt angenommen, um über die Ebene zu wandern. Doch ein anderer Riese sah ihn von seinem Posten im Norden des Gebirges. Er sprang auf die Ebene hinunter, und die zwei begannen zu kämpfen. Sie packten einander an den Gürteln und rangen so hart, dass sie auf den Boden stürzten und sich dort weiter herumwälzten. Deshalb sieht diese Ebene wie ein Meer erstarrter Wellen aus.« Kirgit sah sich um.

»Doch schließlich waren sie das Ringen leid. Sie ließen einander los und gingen jeder in seine Richtung. Der Namenlos nach Süden und der Eindringling nach Norden. Doch bevor der Namenlose die Ebene verließ, legte er seinen Speer auf den Boden und verwünschte ihn, sodass der Eindringling nicht mehr zurückkommen konnte. Er legte den Speer hierher, von Ost nach West, und als er gegangen war, wuchsen hohe Klippen aus dem Speer nach oben und Gebirgswurzeln nach unten in die Erde. So entstanden die Lanzenberge.«

In diesem Moment drehte sich Noj um. Er hielt die Zügel mit einer Hand.

»Meine Tochter ist verrückt nach Geschichten«, sagte er lächelnd. »Sie bleibt immer wach, wenn die Alten erzählen, und hat sie erst einmal eine Sage gehört, vergisst sie sie nie mehr.«

»Ich will die beste Geschichtenerzählerin in der Felsenburg werden«, erklärte Kirgit und verschränkte ihre Arme über dem Bärenfell.

Noj amüsierte sich und drehte ihnen wieder den Rücken zu.

»Ich bin mir sicher, dass du das schaffst!« Karain wusste nicht, warum er das sagte, aber er wollte ihr als Dank dafür, dass sie den Marsch aus Krett überstanden hatten, einfach etwas Schönes sagen.

»Ich auch«, sagte Kirgit und sank wieder unter das Fell.

Karain lehnte sich wie sie zurück, und als Noj zu summen begann, fühlte er sich zum ersten Mal seit langem warm und satt.

 

Es war dunkel, als er erwachte. Er spürte Kirgits Hand in der seinen. Sie schlief. Auch die Frau und der Mann unter den Schafspelzen schliefen. Über den beiden erkannte er den breiten Rücken von Noj unter dem Pelzkragen, den er sich über die Schultern gelegt hatte. Der Schnee knirschte unter den Kufen, und die Schellen klimperten. Schneedünen glitten wie graue Wellen vorbei. Überall lagen riesige Steine, noch größer als die, die er bereits zuvor bemerkt hatte. Bewegte sich da etwas zwischen ihnen? Huschten da nicht Gestalten von einem Stein zum anderen? Er schlug den Pelz zur Seite und kroch vorsichtig an den zweien unter dem Schafsfell vorbei. Der Mann schnaubte in seinen Bart, als Karain das letzte Stück nach vorn kroch, um auf den Schlittenbock zu kommen.

»Du bist wach?« Noj machte Platz. »Kirgit schläft wohl noch?«

Karain nickte. Vor den Pferden sah er undeutlich den Schatten des anderen Schlitten.

»Wir sind bald zu Hause«, sagte Noj. »Siehst du da?« Er deutete über die Köpfe der Pferde.

Karain starrte nach vorn, denn aus der Dunkelheit wuchs die Felswand. Sie schob sich aus der Nacht und wurde umso höher, je näher sie kamen. Sie sah aus, als entstammte sie einer anderen Welt, zuerst glatt wie ein geteertes Brett, dann in einzelne Felsenklippen zerrissen, die aus dem Berg herauswuchsen und in den Himmel stachen. Es waren die Türme einer gewaltigen Burg, und unter den Türmen schienen Sterne zu blinken.

»Wie groß das ist!« Karain starrte mit offenem Mund die Spitzen der Berge an, bis sie im Nachthimmel verschwanden. Ihm wurde schwindlig, und er musste sich am Bock festhalten.

»Pass auf!« Noj packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest. »Fall nicht raus! Das hier ist Vokkerland.« Er zeigte auf die gewaltigen Steine.

»Da«, sagte er, »Vokker.«

Die Schatten, die Karain gesehen hatte, waren mehr als Schatten. Die Gestalten ähnelten denen, die sie angegriffen hatten, doch hier waren es viel mehr. Mindestens ein Dutzend verfolgte sie, von Stein zu Stein huschend, und manchmal stand einer oben auf einem der Felsbrocken und schwang seine Keule über dem Kopf.

»Wer hier vom Schlitten fällt, schafft es nicht mehr aufzustehen. Aber sie wagen es nicht, uns anzugreifen, wenn wir in diesem Tempo weiterfahren. Sie halten die Schlitten für große Tiere.«

Noj schien das zu gefallen. Er begann wieder zu summen. Karain umklammerte den hölzernen Kutschbock mit seinen Krallen und starrte in die Dunkelheit. Leuchtete da etwas in ihren Augen? Er hatte den Eindruck, dass es immer mehr wurden, je näher sie der Felswand kamen.

Plötzlich machte der Schlitten eine abrupte Wendung.

»Ab hier wagen sie es nicht mehr, uns zu folgen.« Noj ließ die Zügel locker und ließ sie auf die Rücken der Pferde herabhängen.

Vor den Pferden erhob sich ein schmaler Bergrücken aus dem Schnee. An jeder Seite ging es steil bergab. Der Schlitten vor ihnen war bereits auf dem Weg hinauf.

»Halt dich fest«, sagte Noj. »Es geht weit nach unten.«

Der Schlitten rutschte in eine Spur, und Noj trieb die Pferde an. Die Felsenbrücke erhob sich gleichmäßig aus der Ebene, während sich die Bergflanken in wahre Abgründe verwandelten. Entlang der Spur standen Pfähle. Sie waren mit roten Bändern gekennzeichnet und in einer Farbe gestrichen, die in der Dunkelheit zu leuchten schien. Jetzt sah Karain ein Stück vor ihnen Fackeln aufleuchten, und er erkannte die Sterne wieder, die er auf der Felswand gesehen hatte.

»Das ist das Tor.« Noj deutete auf zwei Fackeln, die unmittelbar nebeneinander brannten. »Sie warten auf uns.«

Die Schlitten glitten auf die Fackeln zu. Manchmal war der Bergkamm so schmal, dass Karain fürchtete, die Pferde könnten wahnsinnig werden und wie die Voner im Kampf um die Krabbenbucht in die Tiefe stürzen. Doch Noj summte sein Lied ebenso unbeschwert wie unten auf der Ebene. In der Felswand konnte Karain jetzt winzige Fenster und größere Öffnungen erkennen, aus denen ihnen lederbekleidete Menschen mit Fackeln in den Händen zuwinkten. Und vor den Schlitten erkannte er eine mächtige Eichentür mit eisernen Beschlägen und einem Ring, der derart groß war, dass er gut zu dem Riesen gepasst hätte, von dem Kirgit erzählt hatte.

Der erste Schlitten war jetzt am Ziel. Holz knirschte und Eisen kreischte, als sich das Tor öffnete.

 

Und das ist wahr, Freunde: So war es, als ich zum ersten Mal in die Felsenburg gekommen bin. Meine Überraschung, eine ganze Stadt hinter den Klippen zu finden, war groß. Ich weiß noch, dass ich mich auf dem Bock aufgerichtet habe und nicht glauben konnte, was ich sah. Der flache Platz war zu groß, um ein Burghof zu sein, er war mehr wie ein Tal. Und die Steinhäuser, die sich an die Felswand schmiegten, sahen mit ihren gelb erleuchteten Fenstern so warm aus! Ich roch frisch gebratenes Schafsfleisch und hörte Menschen lachen. Ich weiß noch ganz genau, wie schön das für mich war. Und in Richtung der Ebene erkannte ich die Klippen. Sie rahmten den Platz ein. Ganz oben waren Fackeln zu erkennen und Löcher, in denen die Wachen standen, wie brennende Augen, die das davor liegende Land beobachteten. Die Kalane, dachte ich. Die Aussichtsfenster, die sie in die Felswände geschlagen hatten. Auf der anderen Seite des Tals lag das Gebirge, von dem Kirgit erzählt hatte: ein geneigter Hang mit Wegen, die sich wie schwarze Muster vom Schnee abhoben. Die Wege verschwanden in einem Land aus steinernen Schutthalden und Abgründen, und ganz dort oben hing der Drachenrauch in dicken Schwaden, wie ein Schleier, der die Menschen daran hindern sollte, die heiligen Berggipfel zu sehen. Und als die Schlitten an den Hütten hielten und Männer und Frauen herbeigerannt kamen, um uns zu begrüßen, hörte ich zum ersten Mal, wie die Vögel aus der Felswand aufflogen. Ich sah nach oben und erkannte Adler, Falken, Krähen und Raben und wusste, dass ich zu Hause war.

Wir kletterten aus den Schlitten, und die Pferde wurden ausgespannt. Damals gab es hier einen Stall. Ich erinnere mich noch gut daran. Er war nur ein paar Schritte vom Tor entfernt, und die Hütten standen Seite an Seite an der Felswand das ganze Tal hinauf. Der Stall war so gebaut, dass die Felswand als Rückwand dient. Die Hütte von deinen Eltern, Ekri, liegt dort, wo früher der Stall war. Die Pferde hatten darin warme Einsteilplätze, und Noj kümmerte sich darum, dass alle genug Heu bekamen.

 

Wie glücklich diese Tage doch waren! Das Felsenvolk nahm mich mit Freundschaft und Respekt auf, und ich fühlte mich bei ihnen wie ein Mensch. Sie öffneten mir ihre Häuser, und die Waldgeister und ich durften uns am Feuer wärmen. Loke und seinen Schülern wurde viel Aufmerksamkeit geschenkt, und aus dem, was Loke erzählte, erkannte man, dass sein Auftrag wichtig war. Aber ich war es, den sie am liebsten um sich hatten. Sie sangen ihre Lieder über den letzten Vogelmann, der davonging, bevor die Ältesten geboren worden waren. Er hatte ihnen ein gutes Leben vorhergesagt. Und jetzt war es an mir, zu hören, was der Himmelsvogel Kragg zu sagen hatte. Es überraschte mich nicht, dass auch sie den Namen erwähnten, den ich im Traum gehört hatte. Hinter den Klippen und bei all den Vögeln, die über uns kreisten, und den Wachen hoch oben in den Kalanen war nichts unvorstellbar.

Ich erzählte von meinem Traum. Und sprach von der Frist von vier Monaten. Auch wenn ich an ihren verwunderten Gesichtern erkannte, dass sie nicht recht an die Drohung eines ewig währenden Winters glauben konnten, nickten sie und sagten, dass sie helfen wollten. Und Hilfe habe ich seither immer von ihnen erhalten. Nin, Kleiner Tenn, Ekri, ich brauche so oft Hilfe. Ihr sitzt hier unter dem Fell bei mir und spürt, dass ich nicht so bin wie ihr. Die schwarzen Federn, die meinen Körper verbergen, die Krallenfinger und die zu Flügeln gewordenen Arme. Und meine Beine sind schwächer geworden, als habe sich all meine Kraft in den Schultern versammelt.

Aber denkt nicht daran, Kinder. Lasst uns zu diesem Abend zurückkehren. Denn während sich das Felsenvolk um mich und die Waldgeister scharte, stand Noj am Feuer auf und sagte, es braue sich ein Sturm zusammen und dass niemand vor das Tor gehen solle, ehe es sich nicht wieder aufklarte. Er hatte es kaum ausgesprochen, als der Wind in den Klippen zu heulen begann. Ich weiß noch, dass ich aus der Hütte trat und sah, wie sich die Wachen an ihren langen Tauen genauso rasch abseilten wie die Kelsmänner aus der Takelage ihrer Schiffe. Und über ihnen wurde der Schnee von den Bergen durch die Luft gefegt.

Das Felsenvolk schloss Fensterläden und Türen, und ich erkannte an ihren Blicken, dass das nicht normal war. Gemeinsam mit den Waldgeistern fand ich in Nojs Haus Schutz. Es war geräumig und bot entlang der Wände reichlich Platz zum Schlafen. An der hinteren Wand der Hütte befand sich eine gemauerte Feuerstelle, die so hoch war, dass ein erwachsener Mann aufrecht darauf stehen konnte. Vor der Feuerstelle lagen Steine, damit die Funken nicht ins Innere des Raumes fliegen konnten. Linker Hand war ein schmales längliches Bord, auf dem Töpfe, Tassen und Schalen standen. Der Tisch befand sich auf der anderen Seite, mit groben Stühlen und einer fleckigen Leinendecke. Wir saßen auf einem Hirschfell vor dem Feuer, und an den Wänden ringsherum hingen getrocknetes Fleisch, Bogen, Pfeilköcher, Bockshörner, Decken und was die Häuptlingsfamilie sonst noch besaß. Auch Kirgits Mutter war im Haus, eine dunkelhaarige Frau mit ebenso lebhaften Augen wie Kirgit. Sie streichelte ihrer Tochter durchs Haar und beschwerte sich dabei, wie schmutzig sich diese gemacht habe. Dann zog sie die Hüte von ihren Füßen und nahm ein paar Lodenschuhe von einer Eisenstange neben dem Kamin. Vile trat zu ihr vor, verbeugte sich, sah auf ihre Füße und streckte seine Hände aus. Als Kirgit ihm die Hüte zurückgab und sich noch einmal bedankte, setzte er den seinen auf den Kopf und lächelte von Ohr zu Ohr. Es kümmerte ihn ganz offensichtlich nicht, dass der Hut vollkommen durchnässt war. Den anderen gab er Loke, doch der Trolljäger war vernünftig genug, ihn zum Trocknen auf den Boden vor der Feuerstelle zu legen.

»So stark waren die Schneestürme noch nie«, sagte Noj, während er den Topf über das Feuer stellte. »Und ihr sagt, dass das nie mehr aufhört?«

»Wenn wir die Wurzel nicht finden.« Loke zupfte an seinem geflochtenen Bart. »Wenn der Gamle nicht seine Wurzel bekommt, ehe der vierte Vollmond verlischt.«

»Aber das ist bald«, sagte Noj. Er zog einen Stuhl vom Tisch und setzte sich. Ich weiß noch, wie er seine Mütze abnahm und eine tief gefurchte Stirn offenbarte. »Nur noch ein knapper Monat.«

»Ich weiß.« Loke kratzte sich in den Haaren.

Doch ich wusste das nicht. Ich hatte die Monde nicht gezählt, nicht so wie mein Vater es mich gelehrt hatte. In der ersten Zeit hatte ich mich ja vor dem Stadtheer versteckt, und nachdem wir aus Krugant geflohen waren, war so viel geschehen.

»Und noch etwas.« Noj legte seine Mütze auf den Tisch. »Ihr sprecht von einer Wurzel. Wie sollen wir die jetzt finden? Alle Büsche und Bäume sind unter dem Schnee begraben, und der Frost reicht viele Fuß tief in den Boden!«

Daran hatte Loke anscheinend nicht gedacht. Er vergrub seine Hände in seinem Bart und starrte finster in die Flammen.

 

An diesem Abend haben wir nicht mehr miteinander gesprochen. Kirgit verkroch sich auf ihrem Schlafplatz, und Noj und seine Frau krochen unter die Felle auf der anderen Seite des Raumes. Die Waldgeister rollten sich zu einem einzigen großen Barthaufen vor dem Feuer zusammen. Ich selbst saß auf einem Stuhl am Tisch. Ich dachte nach. Ich hörte, wie die Drachen Wind und Schnee über die Berggipfel brüllten, und spürte die kalte Zugluft, die durch die Spalte zwischen den Fensterläden eindrang. Ein Mond… Die Zeit rann uns durch die Finger.