Das Gebirge

 

Loke weckte mich. Sein Bart stach mir in die Augen, und seine Hände kniffen in meine Schultern.

»Wir können nicht länger warten.«

Ich bewegte den Kopf und spürte, dass Kirgit auf meinem Arm lag.

»Ich werde mit meinen Schülern aufbrechen, solange es noch geht.«

Ich schlug die Decke zurück, zog meinen Arm vorsichtig unter Kirgit weg und richtete mich auf. Die Waldgeister hatten ihre Hüte aufgesetzt. Auf dem Rücken trugen sie Wassersäcke, zusammengerollte Decken und Seile, und an ihren Gürteln hingen kleine Leinensäckchen.

»Noj sagt, dass sein Großvater ein paar Tagesmärsche von hier entfernt vom Gebirge herabgeklettert ist. Er hat mir den Weg beschrieben. Wir werden ihm folgen. Wenn wir auf die Ebene hinunterkommen, werden wir die Wurzel suchen. Wenn es stimmt, was Viani sagt, müssen wir nur den Vokkern folgen, wenn sie sich aufmachen, Wurzeln für die Pferde der Kretter auszugraben.«

Sie winkten und gingen langsam zur Tür. Ich begleitete sie.

»Wartet«, sagte ich. »Ich will mitkommen!«

Loke schüttelte den Kopf.

»Du musst hier bei Kirgit sein.«

Er schob die Tür auf. Ich wandte mich zu ihr um. Sie hatte sich auf die Seite gedreht. Ich wusste, dass sie es nicht mögen würde, wenn ich ging. Sie würde mich vermissen, wie ich sie vermissen würde.

Ich schüttelte den Gedanken ab und stapfte über schlafende Kinder und schnarchende Bärte zur Tür. Dann warf ich einen Blick zurück, um sicher zu sein, dass sie noch immer schlief, und schlüpfte durch die Tür.

Die Sonne schien. Männer und Frauen hockten an den Hüttenwänden mit Pfeilköchern in den Gürteln, und die Speere der Wachen glänzten in den Kalanen. Der Steinhaufen sicherte unverändert die Barrikade. Die Waldgeister standen auf ein paar langen Planken, die in den Schnee gelegt worden waren, während Noj und einige andere Männer zusahen. Ich rannte zu ihnen hinüber. Loke beugte sich nach unten und band eine Tauschlinge über seine Stiefelspitze.

»Ist das so, wie du es haben wolltest?« Noj schob seine Pelzmütze aus der Stirn.

»Die sind gut.« Loke nahm seinen Speer in die Hand und stützte sich damit ab, während er seine kurzen Beine vor- und zurückbewegte.

»Die Besten, die ich jemals hatte!« Bile schob sich mit seinem Speer vor. Mit den Planken unter den Füßen rutschte er einen Hügel hinunter, streckte die Arme aus, um das Gleichgewicht zu halten, und fiel um.

»Aber das ist lange her!« Er rappelte sich mit Schnee im Bart auf. Vile kicherte.

»Wir haben keine Zeit für solchen Unsinn!« Loke teilte seinen Bart und befestigte ihn mit einem Knoten hinter seinem Nacken. »Bindet jetzt eure Bärte hoch, Schüler, und dann lasst uns aufbrechen!«

Ich war in Anbetracht dieses merkwürdigen Anblicks wie angewurzelt stehen geblieben, begriff jetzt aber, was geschehen würde.

»Wohin wollt ihr?«, fragte ich, obgleich ich die Antwort kannte.

»Wir müssen den Frühling finden!« Vile grinste, während die Planken unter ihm wegrutschten. Loke brummte.

»Sie nehmen die Route über den Alten Weg.« Noj legte seine Hand auf meinen Nacken und deutete ins Gebirge hoch. »Das ist der einzige Weg hier heraus, auch wenn er gegen Ende zu einer richtigen Klettertour wird.«

Ich sah ihn an. Ich fühlte mich an diesem Tag wie ein erwachsener Mann und wusste, dass alles vergebens sein würde, wenn die Waldgeister es nicht schafften.

»Lass mich sie begleiten«, sagte ich. »Ich bin kein Krieger, aber ich bin daheim in Krugant oft an den Masten der Schiffe hochgeklettert.«

Ich log.

»Ich bin euch hier doch keine große Hilfe.«

Noj schob seine Mütze noch weiter hoch, bevor er sie abnahm und sich seine Glatze kratzte.

»Tu, was du willst, Vogelmann, aber ist es denn wirklich so sicher, das mit dem ewigen Winter? Und außerdem, nach allem, was Loke gesagt hat, werdet ihr es nicht bis zu diesem Gamle schaffen, selbst wenn ihr die Wurzel findet.«

Er wandte sich an Loke, der ihn durch seine buschigen, weißen Augenbrauen anstarrte.

»Also warum wollt ihr euer Leben im Gebirge aufs Spiel setzen?«

»Den Mut!« Lokes Gesicht wurde hart. »Wir verlieren nie den Mut!«

Er stach seinen Speer in den Schnee. Noj senkte den Kopf und nickte, ehe er sich wieder an mich wandte.

»Viele hier werden trauern, wenn du nicht zurückkehrst, Vogelmann. Musst du wirklich gehen?«

»Gib mir etwas Wasser und Trockenfleisch«, sagte ich, »und ich verspreche dir, dass ich unbeschadet zurückkehre.«

Ich hastete zur Hütte und schlich mich hinein. Dort zog ich die Jacke an und rollte meinen Umhang zusammen. Kirgit wachte auf, als ich meine Decke zusammenschlug und mit den ledernen Riemen festzurrte. Ich sah sie nicht an, nahm meinen Umhang unter den Arm und drehte mich zur Tür. Sie begleitete mich zu den Waldgeistern hinaus.

»Was ist los?«, fragte sie. »Wo wollt ihr hin?«

»Sie wollen den Alten Weg über das Gebirge nehmen«, sagte Noj. »Sie müssen die Wurzel finden.«

»Die Wurzel? Die, die sie haben müssen, damit der Frühling kommt? Ist das denn sicher, dass das wirklich so ist? Karain?«

Sie legte die Arme um mich. Die Federn knisterten unter ihrer Umarmung.

»Wie sicher bist du, dass der Rabe, der im Traum zu dir gesprochen hat, nicht bloß ein Traum war? Bist du so sicher, dass du im Gebirge erfrieren willst?«

Da brachten mir die Männer zwei Latten, die, abgesehen von ihrer Länge, wie die der Waldgeister aussahen, und einen leichten Speer mit abgerundeter Spitze.

Noj versuchte, Kirgit zu beruhigen. Vorsichtig, als wäre sie ein glühend heißer Stein aus der Feuerstelle, streckte er seine Hand aus, um sie zu berühren.

»Er ist der Vogelmann, Kirgit. Er muss tun dürfen, was er will!«

Kirgit ballte die Fäuste und drehte sich um.

»Du wirst abstürzen!«

Ich befestigte die Riemen über meinen Schuhspitzen, wie ich es bei Loke gesehen hatte, und stützte mich auf den Speer. Die Beine hafteten nicht mehr auf dem Boden. Sie glitten mitsamt den Planken hin und her, als stünde ich auf blankem Eis. Kirgit stand wortlos neben mir, als mir die Männer Wasserschlauch, Verpflegungssack, Brennholz, die zusammengerollte Decke und einen großen Schafsledersack gaben. Ich knüpfte den Umhang vor dem Hals zu, band alles auf dem Rucksack fest und warf ihn über die Schulter.

»Komm jetzt«, sagte Loke. Er stampfte mit den Planken auf und sah mich über seinen verfilzten Bartschal hinweg an. »Du weißt schon, dass ich nicht von dir verlange, mitzukommen?«

Ich wünschte mir, er hätte diesen letzten Satz nicht gesagt. Kirgit flehte mich an zu bleiben, und auch einige der Männer waren der Meinung, dass es sicher am besten sei, wenn ich während der Belagerung am Ort sei.

»Können wir euch nicht wenigstens ein paar Leute mitgeben?« Noj setzte seine Mütze wieder auf. »Jetzt, da das Tor verbarrikadiert ist, haben wir mehr Leute hier, als wir benötigen, um in den Kalanen Wache zu halten.«

»Nein!« Loke schob sich mit seinem Speer an. »Bleibt hier und sorgt dafür, dass die Trolle draußen bleiben!«

Die Waldgeister setzten sich in Bewegung. Sie glitten über den Schnee, machten ein paar staksige Schritte und schoben sich mit ihrem Speer weiter.

»Kirgit«, flüsterte ich.

Sie nahm meine Hand und streichelte mir über die Federn.

»Du bist die Erste, die…« Mein Hals wurde heiß, und ich konnte nichts mehr sagen, und so rückte ich den Schulterriemen zurecht und atmete tief ein.

»Ich komme wieder«, sagte ich und blickte zu dem Weg hoch, der sich ins Gebirge hinaufschlängelte. Unmittelbar unter den Wolken bog ein Weg nach Norden ab, während der andere weiter in den Drachenrauch hinaufführte. Ich konnte nur hoffen, dass die Waldgeister wussten, wohin wir mussten.

»Ich werde an dich denken.« Sie ließ meine Hand los und ging zu den anderen zurück. Das Sonnenlicht glitzerte in den Tränen unter ihren Augen.

Ich drehte mich um und warf keinen Blick mehr zurück.

 

Es ging leicht, solange es flach war. Durch die Latten versank ich nicht im Schnee, sondern lief leicht wie ein Eichhörnchen darüber. Ich holte die Waldgeister schnei] ein, indem ich mich mit dem Speer zwischen den Beinen vorwärts schob.

In Krugant war ich, wenn das Eis dick genug war, im Hafen Schlittschuh gelaufen und zwischen festgefrorenen Schiffen, Ankerketten und vereisten Vertäuungen hindurchgeglitten. Doch als wir begannen, in die Berge hinaufzusteigen, erkannte ich, dass das hier etwas ganz anderes war. Die Latten rutschten zurück, wenn ich nach oben wollte, und wären sie nicht mit einer Schnur an meinen Beinen festgebunden gewesen, wären sie sicher wieder bis ganz hinunter ins Tal gerutscht. Die Waldgeister schienen aber einige Erfahrung damit zu haben, denn sie liefen die steilsten Steigungen empor und stützten sich noch nicht einmal mit dem Speer ab. Es dauerte eine Weile, bis Loke mir erklärte, dass ich die Latten – er nannte sie Skier – in den Schnee treten müsse, um Halt zu bekommen. Ich tat, was er sagte, und dann ging es besser.

Auf halber Höhe des Hanges hörten wir Schafe blöken. Wir querten Dutzende von Spuren mit Hufabdrücken und Losung, und links von uns sahen wir, einen guten Steinwurf entfernt, zwei Schäfer in einer Herde Schafe. Die Tiere hatten graue Wolle, die bis auf den Schnee herabhing, spitze Krummhörner und schwarze Gesichter. Sie hatten kaum etwas mit den Schafen daheim in Krugant gemein. Die Schäfer grüßten uns, klatschten in die Hände und jagten die Schafe nach unten.

Wir blieben lange auf diesem Weg, und die ganze Zeit über hatte ich so ein seltsames Gefühl, als ob ich etwas schrecklich Falsches getan hätte. War es der Gedanke daran, dass ich Kirgit zurückgelassen hatte, während die Kretter draußen vor den Mauern der Felsenburg lauerten? Ein solches Gefühl hatte ich nie zuvor verspürt. Was würde geschehen, wenn sich die Kretter aufs Neue entschlossen, anzugreifen? Das war jederzeit möglich. Vielleicht war es bereits geschehen, ohne dass ich es wusste. Das Gefühl quäke mich, obgleich mir bewusst war, dass es keinen Unterschied machte, ob ich da war oder nicht. Erst als Loke seinen Rucksack absetzte und sagte, dass wir jetzt rasten sollten, wagte ich es, ins Tal hinabzuschauen.

Das Kretterlager war noch immer durch die Klippen verdeckt, doch ich sah dort unten den Rauch mehrerer Feuer. Unmittelbar unter den Wolken vermischte er sich mit dem Qualm, der aus den Dachöffnungen der Häuser in der Stadt stammte. Ich sah, dass wir bereits sehr hoch waren, denn die Menschen sahen zwischen den Steinhäusern wie kleine Pünktchen aus. In der Kalane über dem Tor erkannte ich jemanden, der uns zuwinkte. Wir winkten zurück. Sie wünschen uns eine gute Reise, dachte ich. Wir waren zu weit entfernt, um irgendwelche Gesichter zu erkennen, doch vor der Häuptlingshütte stand vollkommen regungslos eine Gestalt und beobachtete uns.

Wir aßen ein wenig von dem Proviant. Ich kaute einen Streifen Trockenfleisch, und die Waldgeister öffneten ihre Leinensäckchen.

»Sie haben uns all ihre Pilze gegeben«, berichtete mir Bile mit vollem Mund. »Wir werden jedenfalls keinen Hunger haben!«

 

Wir gingen an diesem Tag weit. Die Beine schmerzten, als wir endlich bei der Weggabelung ankamen. Die Riemen nagten an den Schultern, aber am allermeisten war ich es leid, immer mit diesen Skiern herumzulaufen. Je müder ich wurde, umso öfter glitten die Latten unter meinen Füßen weg, sodass die Waldgeister auf dem letzten Stück des Weges immer wieder auf mich warten mussten.

Unmittelbar an der Verzweigung der Wege fand Bul einen geschützten Platz unter einer Felsplatte. Wir steckten die Skier in den Schnee und krochen hinein. Der Fels war so breit wie zwei Männer, und unter ihm war der Boden schneefrei. Trockene Heide knackte unter unseren Füßen und knirschte, als wir uns hinlegten. Ich blieb liegen und starrte nach draußen, während die Waldgeister Säckchen und zusammengerollte Decken auspackten. Der Berghang war glatt und weich wie Sand unter den Schneemassen. Dort, wo Zacken und Felsvorsprünge grau aus dem Weiß hervorstachen, waren die Schneewehen hoch wie Häuser. Von meinem Platz aus konnte ich den Talboden nicht sehen, doch ich sah die Felswände und die oberste Kalane. Nebel lag über den Gipfeln der Klippen, und ich erkannte, dass er auch uns bald einhüllen würde. Das ist merkwürdig, dachte ich, Nebel im Winter. Zu Hause in Krugant hing der Rauhnebel im Winter oft dick wie eine Suppe über dem Hafen, doch wir wussten, dass er vom offenen Wasser hinter der Mole hereintrieb. Ich konnte mir aber nicht erklären, wo der Nebel hier im Gebirge herkam. Vielleicht stimmte es ja, was die alten Wandervölker berichteten – dass es Drachen waren, die Rauch atmeten? Aber das Pergament, das Noj mir gegeben hatte, behauptete doch, Kragg sei der einzige Drache, der den Kampf gegen Tarkin überlebt habe. Und Kragg trug die Gestalt eines Raben.

Ich hörte die Waldgeister mit Zweigen hantieren.

»Stell den Topf hierher«, sagte Bul, »auf die trockene Heide.«

Ich drehte mich auf die Seite. Bul hatte aus trockener Heide ein Häufchen für ein Lagerfeuer aufgeschichtet. Er gab Bile den Flintstein und blies in die Glut. Loke streckte sein Hinterteil in die Höhe und schnupperte an einem Busch, der zur Hälfte mit Schnee bedeckt war.

»Kann das denn sein…« Er packte den Busch und schüttelte den Schnee ab. Dann pflückte er ein paar schwarze Kugeln, die an den Zweigen hingen. Er roch an ihnen.

»Schüler!« Er riss die Augen auf und streckte ihnen die Hand hin. »Seht, was ich gefunden habe!«

Bile und Vile sprangen auf, beugten sich wie hungrige Hunde über seine Hand und schnupperten, sodass ihre Nasen hin und her zuckten.

»Strauchbeeren!« Bile sah Vile an und lächelte. Dann stürzten sie sich auf den Busch.

 

Bul schmolz in einem Topf Schnee. Loke steckte die gefrorenen Beeren in den Mund und kaute auf ihnen herum, ehe er sie ins Wasser spuckte.

»Warte nur, gleich kannst du das beste Getränk der Welt probieren.« Er zwinkerte mir zu. »Strauchbeersaft!«

Nach all dem herben Zeug, das mir der Trolljäger während der Überfahrt eingeflößt hatte, hatte ich kaum hohe Erwartungen. Doch der Beerensud war nicht herb, sondern einfach nur süß. Loke zeigte mir den Busch, erklärte mir, wo diese Pflanzen wuchsen und wie die Beeren im Sommer aussahen. Normalerweise trocknete und zermahlte er die Beeren, doch jetzt müsse er es nach althergebrachter Weise tun, erklärte er lächelnd.

Wir hatten es an diesem Abend gut. Ich rollte den Schafsfellsack aus und bemerkte, dass er groß genug war, um darin zu schlafen. Bald wärmten die Schafsfelle so gut, dass ich sowohl Hose als auch Jacke ausziehen musste. Während wir dalagen und Strauchbeersaft tranken, brachten mir die Waldgeister Lieder in ihrer eigenen Sprache bei. Sie handelten von Wanderungen und Trolljagd, und Loke hatte für all seine Taten Verse. Er begann mit einförmigen Lauten zu singen, und bald waren sowohl ich als auch die Waldgeister eingeschlafen.

 

Am nächsten Morgen waren wir früh auf den Beinen. Ich taute ein paar Brocken Fleisch im Mund auf und schluckte sie gemeinsam mit einer Hand voll Schnee herunter. Dann fuhren wir auf den Latten zu der Weggabelung zurück und bogen nach links, Richtung Norden, ab. Hier verschwand der Pfad, der uns seit dem Talboden den Weg gewiesen hatte, unter dem Schnee. Einzelne Stöcke sollten uns fortan leiten. Alte Speere und abgebrochene Zweige waren etwa im Abstand von einem Steinwurf in den Boden gesteckt worden. Sie zeichneten einen leicht geschwungenen Streifen ins Gebirge, bis sie im Nebel verschwanden.

Nur wenige Schritte vom Nachtlager entfernt begann sich die Landschaft zu verändern. Die glatten Schneeflächen wurden von riesigen Steinen und Felsbrocken, groß wie Schiffsrümpfe, zerrissen. Manche von ihnen stachen wie scharfe Zähne in den Himmel. Andere lagen kreuz und quer und versperrten uns den Weg. Doch Loke fand immer einen Weg um sie herum, als erzählten ihm die Steine, wie er gehen müsse. Wir krabbelten über Geröllhalden und tasteten uns steile Abhänge hinunter. Als wir zum ersten Mal rasteten, war ich vom Kopf bis zu den Füßen voller Schnee, und meine Knie und mein Hosenboden waren nass.

Loke erklärte, Noj habe ihm den Weg auf einer alten Haut gezeigt. Der Häuptling hätte die Karte, auf der der Alte Weg eingezeichnet war, von seinem Vater geerbt. Als ich fragte, warum wir die Haut nicht mitgenommen hatten, deutete Loke auf seinen Kopf.

»Das haben wir«, sagte er. »Hier drinnen.«

Ich hätte mir trotzdem gewünscht, er hätte sie nicht bloß in seiner Erinnerung, denn der Weg, den er beschrieb, war schwer im Gedächtnis zu behalten.

»Zwei Tage an den Markierungsstöcken entlang, dann rechts an einem nasenförmigen Fels vorbei und dann einen Tag genau nach Westen. Dann sollten wir auf einen Absatz kommen, der an einer Felswand entlangführt, und diesem eineinhalb Tage lang folgen. Wenn wir zur Felskluft kommen, müssen wir in einem Höhlengang eine ganze Weile nach unten kriechen, und wenn wir wieder herauskommen, gilt es nur noch, den letzten Abhang hinunterzuklettern.«

Bul kratzte seinen Bartscheitel und zog den Knoten im Nacken zurecht.

»Und wenn wir unten sind, gehen wir zurück zur Felsenburg und halten nach Trollen Ausschau.«

»Richtig«, sagte Bile und drehte den Schaft seines Speers in der Hand. »Und dann folgen wir ihnen, wenn sie sich aufmachen, Wurzeln für die Pferde auszugraben, und wenn sie eine Rote Runde Wurzel finden, nehmen wir sie ihnen ab!«

»Gute Schüler!«, sagte Loke lächelnd. »Es tut gut, zu hören, dass ihr mir zugehört habt. Aber los jetzt, lasst uns weitergehen!«

Er schob sich mit seinem Speer zwischen den Beinen weiter, und Bul, Bile und Vile folgten dicht hinter ihm.

Die sind nicht richtig klar im Kopf, dachte ich und zog die Riemen an meinen Stiefelspitzen fest. Wir sollten froh sein, wenn es uns überhaupt gelang, vom Gebirge herunterzukommen. Und selbst wenn es uns gelingen sollte, einem Vokker, der Pferdefutter suchte, die Wurzel abzunehmen, wie sollten wir dann an den Krettern auf der Felsenbrücke vorbeikommen?

 

Ich weihte die Waldgeister nicht in meine Gedanken ein. Loke wirkte so sicher, während er uns vorbei an Klippen und Bergrücken und durch Klüfte führte, in denen der Schnee sich mannshoch auftürmte. Ohne die Latten, oder Skier, wären wir niemals so schnell vorwärts gekommen.

Als es dunkel wurde, fanden wir Schutz in einer Höhle. Vile hatte sie gefunden, das heißt, eigentlich hatte die Höhle ihn gefunden, denn er hatte auf der Spitze einer kleinen Anhöhe die Kontrolle über seine Latten verloren und war auf der falschen Seite hinabgeschossen. Seine Spuren führten unter einen Felsbrocken, der auf die Seite gekippt war. Wir folgten ihnen und fanden Vile in einer verlassenen Bärenhöhle. Es stank schrecklich dort drinnen, aber es war trocken. Wir sparten Holz, zerbrachen das Eis in unseren Schläuchen und tranken so viel, wie wir konnten. Loke sagte, es sei wichtig, zu trinken, um die Wärme im Körper zu halten.

 

In dieser Nacht flog ich wieder. Aber es war wolkenlos. Unter mir lagen nur schneeweiße Flächen. Es überraschte mich nicht. Die Welt war tot, warum sollte ich also etwas anderes sehen als Winter?

Da roch ich Rauch. Ich sah die Felswand und die Rauchsäule, die aus dem dahinter liegenden Tal aufstieg. Feuer, dachte ich, Leben, und ließ mich von meinen Flügeln dorthin tragen. Ich glitt über die letzten Klippen und sah ein Städtchen und Menschen zwischen den Hütten. Es gab dort auch Frauen und Kinder, und in einem Pferch standen Pferde mit Fohlen. Ich wollte zu ihnen hinunter und ein Mensch sein, doch ich wusste, dass ich das nicht konnte. Also setzte ich mich auf die Spitze des Felsens und faltete die Flügel zusammen.

Ich blieb dort sitzen, bis es dunkel wurde. Ich wollte diesen letzten Menschen so gerne nahe sein, ehe ich wieder über das Schneeland flatterte. Ich wollte so gerne etwas von der Wärme verspüren, die sie umgab.

Am nächsten Morgen saß ich noch immer da. Ich sah Männer und Frauen aus den Hütten kommen, lächeln und einander grüßen. Und ich hörte, wie ihr Lachen vom Brüllen des Berges erstickt wurde, als sich die eine Seite des Berges löste und auf das Tal hinabzugleiten begann. Einige der Menschen rannten auf die Felsen zu, doch die Lawine holte sie ein. Sie zerschmetterte die Häuser, erstickte die Pferde und zuletzt auch noch die wenigen Menschen, denen es gelungen war, sich an den Steintreppen unter mir festzuklammern.

Ich sah hinab. Der Schnee hatte das Tal aufgefüllt wie Wasser einen Bottich. Nur ein paar zerborstene Dachbalken verrieten, das es hier einmal eine Stadt gegeben hatte.

Mein eigener Schrei zerriss klagend den Himmel, als ich über die Ebenen segelte. Und jetzt hatte es wieder zu schneien begonnen.

 

Wir sahen es erst am nächsten Morgen, als wir den Hügel emporstiegen und zu der Höhle unter dem Felsen zurückschauten, in der wir geschlafen hatten. Die Skispuren führten in eine von zwei Öffnungen der Bärenhöhle. Der Fels war unten breit und lief oben schmal zu.

»Die Nase!« Loke kratzte sich unter seinem Hut und lachte. »Wir haben in einem Nasenloch übernachtet!«

Ich sah es selbst. Der riesige Felsklotz sah aus wie eine Nase.

»Folgt mir.« Loke schoss den Hang hinunter. »Direkt nach Westen!«

 

Die Waldgeister schwangen sich nach unten, als hätten sie nie etwas anderes getan. Jedes Mal, wenn ich stürzte und aufschrie, mussten sie auf mich warten, und das war nicht selten. Manchmal waren die Hänge so steil, dass ich die Skier abschnallte und nach unten watete. Loke führte uns schräg am Hang nach unten, und nur dreimal mussten wir kleinere Anstiege bewältigen.

Wenn wir mit derartiger Geschwindigkeit weitermachten, dachte ich, würden wir bald unten sein. Von den langen Hängen unterhalb des Berges konnte ich manchmal die Ebene hinter einem Rand von grauen Klippen erkennen. Wenn wir nur einen Weg dort hindurch fanden, wären wir unten, noch ehe es dunkel wurde. Doch als die Sonne hoch am Himmel stand und ich sicher war, dass wir das Gebirge bald hinter uns haben würden, schwangen die Waldgeister plötzlich abrupt nach links herum und warfen sich in den Schnee. Und da entdeckte auch ich den Abgrund, der sich vor mir auftat. Ich hockte mich hin und ließ mich zur Seite fallen, sodass der Schnee aufwirbelte.

An dieser Stelle machten wir eine Pause. Wir aßen und tranken und schauten in den Abgrund hinunter. Loke erklärte, dass wir jetzt den Absatz erreicht hätten, dem wir eineinhalb Tage folgen sollten. Noj hatte uns Zeiten genannt, die stimmten, wenn man Schneeschuhe benutzte. Da wir auf Skiern standen, waren wir schneller vorwärts gekommen. Jetzt hieß es einfach, dem Absatz zu folgen.

 

Von allen Orten, über die ich je erzählt habe, war dieser der Fantastischste. Linker Hand ragten die Felswände steil empor, und unter uns fielen senkrechte Wände in ein Wirrwar von Klippen ab, die wie scharfe Klingen emporragten. Ja, zwischen uns und der Ebene lag ein Gürtel aus Geröll und Blöcken, die derart zerrissen dalagen, als hätte ein Heer von Riesen dort seine Schwerter abgelegt.

Wir bewegten uns mühsam über den Absatz vorwärts, der so schmal war, dass wir nirgendwo auch nur zu zweit nebeneinander gehen konnten. Beständig spürte ich ein ungeheures Verlangen, mich in den Abgrund zu stürzen und durch die Luft auf die Ebene zuzugleiten. Aber ich tat es nicht. Vielleicht, weil ich dort keinen Vogel gesehen habe. Nur ein einziges Mal habe ich ein geflügeltes Wesen am Himmel entdeckt. Ich habe ihm zugerufen, aber es antwortete nicht.

 

Als die Dunkelheit kam, kauerten wir uns, den Rücken an die Felswand gelehnt, unter unseren Decken zusammen. Wir stapelten drei der Holzscheite, die wir mit uns trugen, übereinander und versuchten, sie mit etwas Zunder zu entzünden. Niemals zuvor hatte ich es erlebt, dass die Waldgeister es aufgaben, ein Feuer zu machen, doch an diesem Ort taten sie es.

»Wir sind zu weit von zu Hause entfernt«, sagte Loke und sprach bis zum nächsten Morgen kein Wort mehr.

Ich machte in dieser Nacht kein Auge zu, denn kaum dass wir uns hingelegt hatten, begann es zu stürmen. Wir banden uns die Taue um die Hüften und befestigten sie an einem Felsvorsprung. Ich hockte da, während mir der Schnee in meine halb offenen Augen biss, und fror, wie ich niemals zuvor und auch seither nie mehr gefroren habe.

Was sagt ihr, Freunde, das Gleiche habe ich auch über die Seereise gesagt, die uns von Krugant weggeführt hat? Habe ich mich auch da über die Kälte beklagt?

Und wenn schon. Lasst mich jammern, wie ich will. Ich bin alt. Leg ein paar Wacholderzweige aufs Feuer, Tenn. Sie riechen so gut, wenn sie brennen.

Soll ich euch von dem Höhlengang erzählen, Nin? Dem, von dem Loke gesprochen hat, als er erklärte, wie unser Weg verlaufen würde? Ja, wir können die Nacht und die Wanderung am nächsten Tag auslassen, als wir die Skier abschnallen und uns durch das Unwetter vorwärts kämpfen mussten. Denn zum Schluss erreichten wir die Kluft, an der der Absatz endete. Hinter einer Schneewehe fanden wir eine Felsspalte. Wir nahmen unsere Rucksäcke ab und pressten sie durch die vereiste Öffnung, bevor wir uns selbst ins Dunkel hineinschoben.

 

Noj und seine Männer hatten Fackeln in unsere Decken gewickelt. Wir schlugen die Flintsteine aneinander und pressten Zunder gegen das Harz und die aufgewickelte Birkenrinde. Ich musste vorangehen, denn da ich der Größte war, leuchtete die Fackel am besten, wenn ich sie trug. Und so führte ich uns durch Gänge, in denen die Eiszapfen bis auf den Boden reichten, über Bäche, die unter ihrer Eisdecke glucksten, und unter eingefrorenen Wasserfällen hindurch nach unten. Wir krochen durch Löcher, die so schmal waren, dass die Federn auf meinem Arm abbrachen, als ich mich hindurchzwängte, und wanderten durch Räume, in denen das Echo keine Ruhe gab. Hallen, so groß, dass das Licht der Fackel weder Decken noch Wände erreichte. Es roch nach nasser Erde und einer Spur Verwesung. An einer Stelle kamen wir an einem Skelett vorbei, das, wie Loke meinte, von einem Troll stammen musste. Es war doppelt so lang wie ich, und aus dem Schädel starrten uns die Reißzähne an. Wir sahen auch die weißen Gebeine von Füchsen und Schafen, die sich hierher verirrt haben mussten. Vielleicht, um Schutz vor einem Sturm zu finden?

Es war weiter, als wir gedacht hatten. Jedes Mal, wenn sich der Weg verzweigte, wählte ich die Route, die sich nach unten zu wenden schien. Und wenn beide Gänge auf der gleichen Ebene weiterzuführen schienen, ließ ich Loke entscheiden. Mein Gefühl sagte mir, dass wir mal hinauf- und mal hinabgingen, und ich glaube, wir irrten dort drinnen bis tief in die Nacht herum. Schließlich legten wir unsere Skier hin, die wir die ganze Zeit getragen hatten, und stellten uns im Kreis um die Fackel.

»Ich vermisse die Bäume«, sagte Vile und rieb sich die Augenwinkel trocken.

Loke schnürte sein Leinensäckchen auf und begann auf einem getrockneten Pilz herumzukauen. Er löste seinen Bart und klappte ihn auf seinen Bauch hinunter.

»Ich frage mich, ob wir hier jemals wieder rauskommen.« Bile fingerte an der Zapfenkette herum und sah, wenn das überhaupt möglich war, noch bekümmerter aus als sein Bruder. Bul schnaubte und drehte sich zur Seite.

»Noj hat mir nicht gesagt, wie lange es dauert, bis man wieder ins Licht hinauskommt.« Loke drehte seinen Kopf hin und her und starrte ins Dunkel. »Aber er hat gesagt, dass wir versuchen sollten, hier drinnen keinen Lärm zu machen.«

»Vielleicht gibt es hier Waldteufel!« Vile schob sich näher an die Fackel heran und verbarg seine Hände unter dem Bart.

»Waldteufel gehören in den Wald«, sagte Loke. »Ich glaube nicht…«

Da hörten wir Stimmen und das Knirschen von Schritten.

Loke erstickte die Fackel mit seinem Bart. Die Dunkelheit packte mich.

Ich spürte, wie Viles Hände meine Beine umklammerten.

»Waldteufel! Ich hab’s gewusst! Jetzt ist es aus mit uns!«

Wir hielten den Atem an, während die Geräusche der Füße näher kamen. Zwischen den Schritten hörte ich noch einen anderen Laut. Etwas Schweres wurde über den eisigen Steinboden gezogen.

»Grehehe!« Die Stimme klang so, als wäre sie nur ein paar Armlängen entfernt.

»Kretter gutt, hmm?« Eine tiefe Stimme antwortete. Dann knallte etwas gegen eine Felswand, und Steine schabten über Steine. Ich spürte einen Luftzug auf meinen Federn.

Wieder erklangen die Schritte, doch jetzt wurden sie leiser.

»Komm«, sagte Loke. »Lass uns nachsehen!«

Ich krabbelte hinter ihm her auf das Licht zu, das uns plötzlich aus einer Öffnung im Fels entgegenstrahlte. Eine gut zwei Mann hohe Steintür stand in dem Gang, den wir gerade passiert hatten, offen. Ich wollte mich sträuben, doch Loke war bereits durch die Tür geschlüpft.

Vile sah mich an, schluckte und folgte mir.

Gebeugt huschten wir in den Gang und zu einem Steinhaufen hinüber, hinter dem sich bereits Loke, Bul und Bile versteckt hatten. Unter uns, am Ende eines Pfades, der sich zwischen Schutthaufen und Tropfsteinsäulen hindurchschlängelte, befand sich eine große Halle. In der Mitte brannte ein Feuer, und an diesem Feuer sah ich, was das schleifende Geräusch im Gang hervorgerufen hatte: zwei Pferdekadaver. Entlang der Wände brannte es aus Gefäßen, die wie Schädel ohne Schädeldecke aussahen. Der Boden der Halle war mit gewaltigen Steinen bedeckt, doch hinten an der Wand bewegte sich etwas.

»Das ist unheimlich«, flüsterte ich.

»Unheimlich«, wiederholte Vile.

Loke legte seinen Zeigefinger vor den Mund und kletterte etwas höher.

Da hörte ich den Gesang.

»Moo… vooo… So! So!«

Das waren helle Stimmen, und – hörte ich dort unten das Gelächter von Kindern?

Jetzt begannen sich die Steine zu drehen. Der Gesang wurde lauter. Das Gelächter klang immer verrückter, und die Wände begannen plötzlich zu leben. Sie wurden zu Köpfen, Haaren, Armen. Sie sprossen aus dem Boden, traten gegen die Steine und tanzten. Und auch den uralten grauhaarigen Buckeln, die eben noch Steine gewesen waren, wuchsen Beine unter ihren gebeugten Rücken, und sie tanzten mit.

»Vokker!« Loke nickte vor sich hin. »Alte, Frauen und Kinder! Hier haben sie die also.«

Daran hatte ich noch nicht gedacht. Bis jetzt hatte ich nur männliche Vokker gesehen. Hier tanzten die Frauen um die Pferdekadaver und die Männer herum, die sie ihnen gebracht hatten. Kinder hüpften auf und ab, drehten sich, packten ihren Schwanz, der unter ihren Fellen hervorlugte, und heulten vor Freude. Und die Alten schlurften mit ihren verfilzten Haaren hinterher.

Rundherum immer im Kreis ging es, während sich die Vokkermänner mit den Fäusten auf den Brustkorb trommelten und die Augen verdrehten. Und dann stürzten sich die Vokkerfrauen plötzlich in einer einzigen Bewegung auf die Pferde. Sie zerfetzten das Fleisch, warfen die blutigen Pferdekörper hoch in die Luft, sprangen hinterher und schnappten sich Fleisch und Knochen.

Als es nichts mehr zu zerreißen gab, verschmolzen sie wieder mit den Wänden, gefolgt von den Kindern, die wie bettelnde Fuchswelpen an ihren Fersen klebten. Die Grauhaarigen sammelten die Knochensplitter vom Boden zusammen und wurden wieder zu Stein.

Die Vokkermänner sahen einander an, seufzten, kratzten sich den Nacken und machten sich auf den Rückweg.

»Die kommen hierher!« Vile huschte zur Tür.

»Ja«, sagte Loke und kletterte vom Haufen herunter. »Ich habe genug gesehen, um zu verstehen.«

Wir schlüpften durch die Tür und gingen nach rechts. Dort versteckten wir uns hinter einem Felsblock. Bald darauf kamen die Vokker heraus. Sie schoben die Tür zu und schwankten den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren.

 

Wieder leitete ich die Waldgeister durch den Fels. Ich hoffte nur, dass nicht noch mehr Vokkerhallen vor uns lagen, denn die eine, die ich gesehen hatte, reichte mir vollauf.

Wir folgten einem langen Gang, der uns geradewegs in den Berg hineinzuführen schien, bis die Fackel plötzlich ausgeblasen wurde.

»Das war nur ein Windstoß«, sagte Loke. »Keine Angst. Vile?«

Ich spürte Viles Arme an meinem Bein.

»Ich zünde sie wieder an.« Bile raschelte mit dem Zunder.

Bul kratzte mit dem Flintstein über etwas Hartes, und Funken flogen im Dunkel. Ich sah seine Hände den kleinen Schwamm umschließen.

»Gib mir die Fackel.«

Ich reichte sie ihm, und der Waldgeist hielt sie über die kleine Flamme, bis die Rinde Feuer fing. Vile ließ mein Bein los und huschte weg, verfolgt von Lokes Blick, der ihn strenger, als ich es jemals zuvor gesehen hatte, musterte.

»Ich glaube, draußen stürmt es.« Bile sah in die Fackel, deren Flammen unruhig auf seinen Bart zuflackerten.

»Ja.« Loke kratzte sich am Kinn. »Und die Windböe war ziemlich kräftig, und das heißt, dass es hier irgendwo in der Nähe eine Öffnung geben muss.«

Er stützte sich auf seinen Speer. »Vielleicht sollten wir versuchen, die jetzt zu finden.«

»Ja«, sagte Bul und erhob sich. »Es macht keinen Sinn, hier mitten im Berg zu hocken!« Bile verdrehte die Augen und klopfte Vile auf die Schultern, und dann waren wir wieder unterwegs.

 

Kaum einen Steinwurf entfernt, wenn man solche Maßeinheiten bei einer Wanderung im Innern eines Berges verwenden kann, fanden wir die Öffnung. Vile rutschte auf einem Fleckchen Schnee aus, und während er sich mit der Eisschicht unter dem Weiß abplagte, sahen wir, dass sich in der Decke ein großes Loch auftat. Ja, es war etwa eine Pferdelänge breit und öffnete sich wie ein Kegel zu den Sternen. Der Wind heulte über die schneebedeckten Kanten.

»Wir haben es nicht sofort gesehen, weil es Nacht ist«, meinte Bile.

Wir umrundeten einen gefrorenen Wasserfall, der sich an die Felswand klammerte, und nicht weit dahinter endete der Gang bei einem Felsvorsprung. Schnee wirbelte zwischen den Eiszapfen herein, die von der Decke herabhingen.

Bul marschierte zur Kante vor, legte sich auf die Knie und sah hinunter. Es sah aus, als würde er in die Nacht hinauskippen, doch schließlich winkte er uns zu, ihm zu folgen.

Die Felswand war hier nicht so steil. Sie war in Scharten und Felsvorsprünge zerklüftet, auf denen vereinzelte Eisbuckel und Schneefelder thronten. Und ganz dort unten, hinter Überhängen und dem Schuttkegel am Bergfuß, lag die Ebene. Ich ließ meinen Blick bis an ihr Ende gleiten. War es das Meer, das ich dort hinten erkannte? Ein dunkelblauer Rand trennte das Weiß vom Schwarz den Himmels.

Wir waren am richtigen Ort. Hier mussten wir hinunter.

 

Wir lagerten unter dem Felsvorsprung. Ich band unsere Taue zusammen, wie ich es bei den Seeleuten gesehen hatte, löste die Enden, verknotete die einzelnen Fasern und schnitt dann einen Faden ab, um damit die Seilschöße zu umwickeln.

Als das Kletterseil fertig war, gab ich es Loke.

Er legte es um einen Stein, klemmte es unter den Arm und legte sich nach hinten.

»Gutes Handwerk.« Er zerrte an den Verknotungen und ließ das Seil dann zu Boden fallen. »Das werden wir morgen brauchen.«

Dann tätschelte er meine Krallenfinger und lächelte.

»Doch jetzt müssen wir schlafen. Wir sollten das wenige, das uns von der Nacht noch bleibt, nutzen, um wieder zu Kräften zu kommen.«

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Felswand und spürte, dass er Recht hatte. Ich schaffte es nicht einmal mehr, die Schafsfelle auszurollen.

 

Kirgit war im Schlaf bei mir. Meine Träume führten zu ihr. Sie umarmte mich, damit ich nicht fror, wärmte meine Hände, und ich empfand Frieden. Doch mit einem Mal stand sie auf und ging ohne ein Wort davon. Ich blieb alleine im Dunkel zurück und spürte, wie der Boden zu zittern begann. Weit entfernt hörte ich ein Sausen, wie ein Wind, der sich näherte. Das Sausen wurde zu einem Dröhnen, als ob all der Schnee auf dem Berg lebendig und zu einem gewaltigen Krieger geworden wäre. Und vielleicht war es auch so, denn als Loke schrie und mich aus dem Schlaf rüttelte, brüllte mich der Schneeriese an, als wollte er mir den Gnadenstoß versetzen.

»Hak den Speer irgendwo ein und halt dich fest!« Ich sah noch ein Stück seines Bartes, bevor sich der Waldgeist, den Speer wie ein Pickel im Fels verankert, zu Boden warf. Dann drehte ich mich um, und der Eisriese schlug zu.

Die Lawine wälzte mich auf die Seite und hob mich an. Der Himmel schoss auf mich zu, und dann schwebte ich über die Kante in den Abgrund. Ich fiel mit dem Schnee und dachte, dass ich, der ich Federn hatte und mit den Vögeln sprach, fliegen könnte, doch ich hatte noch immer Arme, keine Flügel. Während des Sturzes tasteten meine Krallen nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, und das Seil berührte meine Hand. Ich weiß noch, dass ich es um mein Handgelenk wickelte und hoffte, dass es oben noch immer befestigt war. Das alles geschah im Laufe nur eines einzigen Augenblicks. Der Ruck war so hart, dass ich glaubte, mein Arm würde aus meiner Schulter gerissen. Schneemassen prasselten über mich, und es schien kein Ende nehmen zu wollen, doch schließlich wurde es still.

Ich hing wie eine Spinne an ihrem Faden. Das Seil hatte sich um meine Krallen gewickelt und die Haut meines Handgelenks aufgerissen. Ich spürte, wie das Blut in den Ärmel meiner Jacke rann. Dann schwang ich mich herum und fand mit der anderen Hand Halt in einer Felsspalte. Ich zog mich heran, bis ich mich mit meinen Füßen auf einen Eiswulst stellen konnte, packte mit der anderen Hand das Seil und klammerte mich an die Felswand. Als ich den Schnee wegtrat, stieß ich unter dem Eis auf eine Felsenhöhle, löste das Seil und hockte mich hinein.

Erst jetzt dachte ich an die Waldgeister. Waren sie dem Schnee gefolgt? Ich warf einen Blick auf die gewaltigen Felsbrocken viele Mastlängen unter mir. Wenn sie dort lagen, waren sie von einer mehr als mannshohen Schneedecke begraben. Zum ersten Mal seit mein Vater mich verlassen hatte, spürte ich die Einsamkeit. Ich sah, wie das Blut von meinem Handgelenk troff, kümmerte mich aber nicht darum. Ich weinte, ließ das Tau los und hätte ebenso gut in die Tiefe stürzen können. Doch da hörte ich, wie sich jemand unmittelbar vor mir schnäuzte, wie ein alter, erkälteter Mann. Ich blickte nach oben, und dort hing Loke. Er hatte das Seil zwischen seine Rindenstiefel geklemmt.

»Hier bist du?« Er lächelte schief, bewegte das Tau und ließ sich unmittelbar neben mich plumpsen. »Ich habe deinen Rucksack und deine Skier festgehalten.«

Das Seil verschwand nach oben.

»Leg es doppelt!« Loke schrie nach oben. »Dann können wir es mitnehmen!«

Er runzelte die Stirn und blickte auf meine Hand hinab.

»Du bist verletzt!« Er legte meine Krallenhand auf seinen Schoß und begann seine Taschen zu durchstöbern. Schließlich holte er einen dünnen Schal unter seinem Bart hervor.

»So.« Er wickelte ihn um die Wunde, während meine Skier und mein Rucksack vor uns hin und her baumelten. »Jetzt bist du so gut wie neu.«

Er stand auf und rief: »Bul! Bile, Vile! Worauf wartet ihr?«

»Vile will nicht.«

Loke löste den Rucksack vom Seil und stellte ihn neben mich.

»Er muss!«

Loke bekam darauf keine Antwort. Kurz darauf seilten sich Bul und Bile ab, und schließlich kletterte auch Vile wie eine junge Katze an einem Baumstamm nach unten. Bile half ihm in die Felshöhle hinein und zog am Seilende. Während Loke das Seil aufwickelte und Vile sich über die Höhe, das Wetter und die Lawine beschwerte, bemerkte ich, dass es hell zu werden begann. Das Sonnenlicht blinzelte über das Meer im Osten, und die blauen Schatten hinter den Schneeverwehungen schrumpften zusammen.

 

Wir seilten uns von Absatz zu Absatz ab. Manchmal mussten wir hin und her schaukeln, um Halt zu finden, wenn wir das Ende des Seils erreicht hatten. Wo wir keine Steine fanden, um die wir die Tauschlingen legen konnten, hackten wir mit unseren Speeren einen Haken ins Eis. Es ging rasch hinunter bis auf die Geröllhalde, und der Abstieg vom Gebirge, den ich für den schwierigsten Teil unserer Reise gehalten hatte, wurde der leichteste. Gegen Mittag waren wir unten und schoben uns auf den Skiern über den Lawinenschnee. Als wir den letzten Abhang vor der Ebene erreichten, hielten wir an und aßen. Bile zeigte mir, wie ich mich bewegen sollte, und beugte dabei ein Knie weit herunter, und den Rest des Tages fuhren wir am Fuß des Berges entlang.

 

Nachdem wir am Abend Schutz hinter einem Felsbrocken gefunden hatten, stapelte Loke das Holz zu vier Haufen auf.

»Für vier Nächte«, sagte er. »Ich habe die Entfernung berechnet, seit wir in die Berge gegangen sind, und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass wir vier Tagesmärsche auf der Ebene von der Felsenburg entfernt sein müssen. Wenn wir ankommen, müssen wir uns beeilen, die Wurzel zu finden.«

Ich rollte mich unter dem Schafsfell zusammen und sah Bul an, der in die Glut unter den Zweigen blies, die uns die ganze Nacht warm halten sollten. Die Wurzel finden… Jetzt begann das Schlimmste.