Fünf Kerben

 

Ihr versteht schon, dass ich es bin, von dem ich die ganze Zeit erzählt habe. Ihr seid klug, klüger als eure Eltern, die mich für eine Art Tier halten, eine Laune der Götter. Sie hören, dass ich mit den Worten der Menschen spreche, glauben aber doch nur ihren Augen. Sie sehen meine Krallen und die zum Schnabel zusammengewachsenen Zahne. Und ihr, meine jungen Freunde… wie seltsam es für euch sein muss, mich jetzt zu sehen, da ihr wisst, dass ich einmal wie ihr war.

Wie es mit Volom-Kar und dem Gamle weiterging?

Das wollte ich euch gerade erzählen. Es fügt sich jetzt gut ein. Wir sind Karain, dem Jungen aus Krugant, und den Waldgeistern von Krett bis hierher in die Felsenburg gefolgt und haben gesehen, wie sie in die Hütten gegangen sind, um Schutz zu suchen.

Der Gamle und Volom-Kar wussten nichts davon. Karains Zwillingsbruder war zu ihnen hinaufgeflogen und hatte erzählt, dass die Waldgeister gerettet und weiter auf dem Weg nach Norden waren. Doch mehr wussten sie nicht.

»Gamle«, sagte Volom-Kar, als er sich den Schnee abbürstete und die Decke vor die Tür zog. Er war auf dem Hügel gewesen und hatte das Wetter begutachtet. Nach vielen Tagen mit besserem Wetter hatte es wieder angefangen zu schneien. Die Hütte lag tief unter dem Schnee verborgen, und nur ein Loch in all dem Weiß verriet, dass jemand dort unten hauste.

»Bist du sicher, dass du nicht versuchen kannst, nach dem Frühling zu rufen?« Er krabbelte zu dem Gamle und half ihm hoch.

»Ja«, Gamle zog die Decke bis zu seinem Bart hoch. Seine eingefallenen Wangen zitterten, als er hustete.

»Der Winter hört, dass ich nicht gesund bin, und dann traut sich der Frühling nicht heraus. Da ist er eigen, der Frühling.« Er legte sich wieder hin. »Lass mich jetzt in Ruhe. Ich werde hier schlafen, bis Loke kommt. Und wenn er nicht kommt…«

Er drehte sich auf die Seite und seufzte.

»Dann bemühe dich nicht, mich zu wecken.«

Volom-Kar schüttelte den Kopf und setzte sich auf seinen gewohnten Platz auf den Stapel Holz an der Tür. Er legte Wacholderrinde auf die Glut. Es knackte, als sie Feuer fing und sich zusammenrollte. Mit ein paar Zweigen brachte er das Feuer zum Leuchten und lehnte sich dann mit dem Rücken an die Wand aus Fichtenzweigen. Die Wärme hielt sich gut unter all dem Schnee. Da es sehr schwer war, Brennholz zu finden, sparte er, so gut es nur ging. Des Morgens ging er in den Fichtenwald, kletterte hoch in die Bäume empor und fragte nach trockenen Ästen, die der Wind noch nicht abgebrochen hatte. Jeden Tag musste er weitere Strecken zurücklegen, und bald würde die Holzsuche so lange dauern, dass er es nicht mehr schaffte, vor der Dämmerung zurück zu sein. Wenn es nur nicht so viel geschneit hätte!

Er aß jetzt Birkenrinde. Alles andere war verbraucht. Oft fragte er sich, wie es jetzt wohl den anderen Waldgeistern erging. Wenn der Schnee im ganzen Westwald so hoch lag, hatten sie sich hoffentlich Skier geschnitten. Sie würden wohl irgendwie mit Hilfe von Rinde überleben, wie er. Und vielleicht fanden sie ein paar Vogelbeeren oder einen Schwamm an einem alten Baum. Aber wie erging es den Tieren? Was machten die Hirsche jetzt?

Volom-Kar war voller Sorge. Er legte sich die Decke um und flocht noch einen weiteren Zopf in seinen Bart, während Gamle auf der anderen Seite des Feuers schnarchte. Vier Monde, dachte er und fischte seinen Primstab aus den Zweigen unter dem Dach. Die Kerben verliefen wie Mäusebisse entlang der Kante des Stabes. Sie führten am ersten und zweiten Mondzirkel vorbei und endeten fünf Kerben hinter dem dritten Mond. Wenn er die erste Kerbe hinter dem vierten Mond machen musste, war es zu spät.

Volom-Kar löste eine Schnur an seinem Gürtel. Damit hatte er sein scharfes Messer, einen länglichen Flintstein, dessen eine Seite abgesprungen war und eine Klinge bildete, befestigt. Die Jäger hatten ihm ein eisernes Messer gegeben, als er vor zwanzig Wintern bei ihnen gewesen war, aber das hatte er Griom gegeben. Er zog die alten Bräuche vor.

Mit seinem Messer ritzte er eine winzige Kerbe in seinen Primstab, gleich neben der vorigen. Er pustete die Kerbe sauber, fuhr mit dem Daumen darüber und hängte den Primstab wieder unter die Decke.

Jetzt zählte er keine Monde mehr. Jetzt zählte er Tage.