Der Kampf auf der Felsenbrücke
Die Nachtschicht endete eine Stunde vor Sonnenaufgang. Kenner kam herein und schüttelte den Kretter am Kragen, und ich dachte, dass ich mich jetzt endlich wieder nach draußen schleichen konnte. Doch es dauerte lang, bis er sich endlich sein Kettenhemd und seinen Umhang angezogen hatte. Sie redeten über viele Sachen, die ich nicht verstand, doch dann sagte Kenner, dass die Anführer für heute einen Angriff geplant hätten, worauf der Kretter mit einem Grunzen antwortete. Ich glaube nicht, dass ihm die Neuigkeiten gefielen. Er packte Speer, Bogen und Köcher, die neben der Tür standen, und trat nach draußen. Ich musste warten, bis Kenner sich hingelegt hatte und schlief, denn ich wollte nicht riskieren, dass er mich entdeckte. Erst als er so laut schnarchte, dass sich die Balken bogen, schob ich mich unter der Bank hervor und schlich mich nach draußen. Ich watete durch den Schnee um das Zelt herum, schnallte die Skier an, warf meinen Rucksack über die Schulter und schob mich in meinen Spuren wieder zurück.
Es war noch immer Nacht, wenngleich der Himmel nicht mehr ganz so dunkel war wie in dem Moment, als ich mich ins Zelt geschlichen hatte. Die Wolken hatten sich verzogen. Ich hockte mich gleich hinter der ersten Anhöhe in den Schnee und las die Zeichen in den Sternen, denn in Krugant befragten die weisen Frauen für die Seeleute die Sterne. Und dort, zwischen Schütze, Bär und Wagen, sah ich den Mond. Nur ein schmaler Schatten auf der rechten Seite fehlte.
Ich hockte dort im Schnee, während der Tag über die Ebene huschte. Mein Vater hatte mir gezeigt, wie man die Tage anhand des Mondes zählen konnte, und jetzt erkannte ich, dass schon in zwei Tagen Vollmond sein würde. War der morgige Tag vergangen, wäre es zu spät. Dann wäre der vierte Wintervollmond verloschen.
Ich hatte kaum Hoffnung, als ich mich aufrichtete und weiter in die Senke hinunterrutschte. Für mich war der ewige Winter bereits angebrochen. Doch wenn es mir gelang, die Waldgeister zu retten, konnten wir es vielleicht in die Felsenburg schaffen und dort noch eine Weile leben? Loke hatte nicht gesagt, wie lange es dauern würde, bis der Winter die Welt verschluckte.
Von der Anhöhe aus spähte ich erneut ins Lager, doch ohne auch nur eine Spur von Loke und den Schülern zu erkennen. Bei helllichtem Tag konnte ich es kaum wagen, Löcher in die Zelte zu schneiden, und außerdem glaubte ich eher, dass die Kretter sie frieren ließen und irgendwo im Freien angebunden hatten.
Ich schlich mich weiter und weiter zum Südende des Lagers vor. Dort fiel das Gelände zu den Klippen der Felsenburg hin ab. Von dort aus konnte ich die Umzäunung erkennen und die Pferde unter ihrem Dach, doch keine Waldgeister. Also ging ich in einem weiten Bogen wieder um das Lager herum, bis ich erneut hinter den Zelten stand, die ich untersucht hatte. Und als ich meine Jacke unter dem Schulterriemen des Rucksacks zurechtzog, sah ich es. Das Pferd mit den vier kleinen Gestalten über dem Rücken. Die Kretter führten es die Felsenbrücke empor, und in den Händen hielten sie ihre Morgensterne. Ja, ich konnte es gut erkennen. Wie sie das Pferd mit der Peitsche den schmalen Grat emportrieben und die Waldgeister schließlich, nur einen Steinwurf vom Tor entfernt, vom Rücken des Tieres stießen und sie in den Schnee warfen. Einer der Kretter trug ein blaues Gewand. Seine Haare waren so lang, dass sie bis zu seinem Gürtel hinabreichten. Er hob seine Keule über ihnen in die Höhe.
»Seht unsere Macht!« Er schrie zur Felsenburg hinauf. »Wir haben das Zwergenvolk gefangen! Wir opfern sie für das Kriegsglück!«
Menschen kamen in den Kalanen zum Vorschein. Ich erkannte sie wieder. Männer und Frauen des Felsenvolkes. Noj und Kirgit. Ich sah, wie schön sie war, und spürte die Wärme in meinem Herzen. Da wusste ich, was ich zu tun hatte.
Ich hörte meine eigene Stimme. Ich schrie wie ein Rabe.
Der Kretter ließ seine Keule sinken, und während ich zwischen den Zelten hindurchglitt, kamen die Krieger heraus. Sie umzingelten mich und verfolgten mich mit gezückten Säbeln durch das Lager.
»Nehmt mich!«, flüsterte ich. Es hörte sich so merkwürdig an. Ich schob mich über den festgetretenen Schnee vorbei an Lagerfeuern, Zelten und einem schlafenden Vokker. Dann erreichte ich die Felsenbrücke.
»Nehmt mich!«, rief ich. »Lasst die Waldgeister gehen. Lasst das Felsenvolk in Ruhe. Ich bin es, den ihr wollt!«. Die Kretter ließen die Waldgeister, noch immer an Händen und Füßen gebunden, im Schnee liegen. Das blaue Gewand kam auf mich zu, und ich spürte Hände, die meine Arme packten. Die Krieger hielten mich fest, während er mir mit seinem Gesicht ganz nahe kam.
»Dämon…«, fauchte er, und während der Abgesandte der Kretter wie eine Ratte ausgesehen hatte, war dieser hier eine Schlange.
»Ein guter Handel… Wir hätten den Verteidigungsring doch nicht durchbrechen können.«
Dann rannte er zurück auf die Felsenbrücke, schwang seine Keule über dem Kopf und schrie.
»Die Belagerung ist zu Ende! Wir haben, was wir wollten, Felsenmenschen! Jetzt werdet ihr sehen, wie der Vogelmann brennt!«
Ich sah Kirgit auf dem Aussichtsposten. Weinte sie dort oben in Nojs Armen? Mehr konnte ich nicht sehen, denn die Kretter drehten mich um und trugen mich mit gestreckten Armen davon. Sie sangen. Sie lachten. Ich weiß nicht, ob sie das taten, weil sie wussten, dass der Kampf vorüber war, oder weil sie mich hinrichten würden. Sie bauten die Zelte ab, rollten die Segeltücher schneller als jeder Seemann zusammen und trieben die Pferde aus der Umzäunung nach draußen. Ich wurde von einem Vokker festgehalten, der mir ins Ohr lachte und auf meine Kopffedern sabberte. Über die Zeltstangen hinweg konnte ich sehen, wie sich die noch immer gefesselten Waldgeister auf der Felsenbrücke herumrollten.
Nicht weit von mir entfernt schlugen die Kretter einen Pfahl in den Boden, an dessen Fuß sie Zweige und Holzscheite aufstapelten. Sie wollten mich verbrennen, wie in Krett. Erst jetzt musste ich wieder an die schreckliche Hitze denken, die damals unter meinen Stiefeln gebrodelt hatte. Ich wand mich in der Umklammerung des Vokkers und bereute, was ich getan hatte. Ich hatte Angst, denn ich wollte nicht sterben. Als mich der Vokker in den Schnee hinabdrückte, warf ich einen letzten Blick zum Himmel. Doch jetzt flogen keine Vögel. Ich war allein.
Als mich die Kretter anhoben, war all meine Kraft bereits aus meinem Körper entwichen. Ich hoffte, dass mir die Götter gnädig waren. Konnten sie mich nicht in die andere Welt holen und mir die Flammen ersparen?
Sie rissen mir die Jacke vom Leib und banden meine Arme an den Pfahl. Es überraschte mich nicht, dass sie auch meine Beine fesselten und das Holz bis zu meinen Knien aufschichteten. Dieses Mal sollte sie niemand daran hindern, mich brennen zu sehen.
Ich wandte meinen Kopf zur Felsenburg, während sich die Kretter um mich herum versammelten. Die Felsenmenschen standen nicht mehr in den Kalanen. Ich klagte sie nicht an. Aber ich vermisste Kirgit. Sie hätte mir jetzt helfen können – allein ihr Anblick hätte mir gut getan. Sie hätte mir etwas zugerufen und mir Mut gemacht, wenn die Flammen mich zu verzehren begannen. Doch jetzt, da der Rauch emporquoll und die Wärme sich unter meinen Stiefeln ausbreitete, hörte ich nur den Jubel der Kretter.
Ich wandte mich zum Himmel. Ich wollte nicht sehen, was mit mir geschah. Doch als das Feuer an meinen Beinen leckte, schrie ich. Ich konnte es nicht zurückhalten. Mein Körper begann sich zu winden. Wie gerne wäre ich still gewesen, wie gerne hätte ich es den Krettern verwehrt, mich leiden zu sehen. Ihre Schreie vermischten sich mit dem Prasseln des Feuers, und das Einzige, was ich sah, waren Rauch und Flammen.
Ich sah nicht, dass sich das Tor am Ende der Felsenbrücke nach außen öffnete, und auch nicht die Felsenkrieger, die mit Speeren und Bogen auf die Kretter zustürmten. Erst als der Pfeilregen über uns herniederging und die Kretter bemerkten, dass sie angegriffen wurden, hörte ich Noj.
»Wir kommen, Vogelmann!« Das Schreien und Brüllen kämpfender Männer schnitt in meine Ohren.
Wieder Nojs Stimme. »Halte aus!«
Dann tauchten zwei Männer in dem Rauch auf, zwei Felsenkrieger. Sie traten in die Flammen, warfen den Pfahl um und zogen mich aus dem Feuer. Dort durchtrennten sie die Riemen, und während der eine Wache hielt, wälzte mich der andere im Schnee herum, zerrte mir die Stiefel von den Füßen und warf Schnee über sie.
»Kannst du gehen?« Er winkelte meine Beine an und zog mich hoch. Ich bekam meinen Arm über seine Schulter, und so begannen wir, uns in Richtung Felsenbrücke vorzutasten. Um uns herum wirbelten die Krieger, sie schlugen aufeinander ein und stürzten mit blutigen Bäuchen zu Boden. Die Felsenkrieger trugen Schneeschuhe, und mit ihren Speeren war es ihnen gelungen, die Kretter in den Tiefschnee zu treiben, wo sie leichte Beute für die Bogenschützen waren. Ich sah nur einen einzigen Vokker, und der rannte mit Pfeilen im Rücken davon. Auf dem Weg zur Felsenbrücke scharten sich weitere Männer um uns. Unter ihnen war Noj. Er gab uns mit seinem Speer Deckung.
»Wir mussten erst die Steine wegräumen«, sagte er über seine Schulter hinweg. »Sonst hätten wir früher angegriffen.«
Ich glaubte schon, wir hätten es geschafft, als wir auf der Felsenbrücke waren, denn hier waren keine Feinde mehr zu sehen. Doch hinter uns, Kinder, hatten die Kretter, die noch am Leben waren, ihre Bogen gespannt, und jetzt sandten sie uns ihren letzten Gruß. Ich hörte ein Summen, wie eine Hummel, die sich plötzlich entschieden hatte, in mein Ohr zu fliegen, und dann kamen die Schreie. Noj sackte, einen Pfeil im Schenkel, in die Knie, und hinter mir stürzten die Felsenkrieger mit Pfeilen in Rücken und Schultern zu Boden.
»Legt euch hin!« Noj rollte sich auf die Seite. »Legt euch hin, bevor sie wieder schießen!«
Wir taten, was er gesagt hatte, doch als meine zerschundenen Beine unter mir nachgaben, sah ich, dass die Kretter ihre Bogen zum Himmel richteten.
»Nein!«, schrie ich. »Lauft!« Ich zog mich mit den Armen nach vorn, ehe sie mir wieder aufhalfen.
Als die Kretter ihre Pfeile abschossen, hoben die Felsenkrieger die letzten Verwundeten hoch und begannen zu laufen. Die Pfeile flogen in einem hohen Bogen in den Himmel und schossen auf uns hinab, doch dieses Mal wurden nur zwei der Männer getroffen. Sie humpelten mit Pfeilen in den Schultern weiter. Oben auf der Felsenbrücke drehten sich die Felsenkrieger um und schossen zurück. Auch ich bekam einen Bogen. Sie hielten mich aufrecht, während ich die Sehne spannte, und mit reichlich Hass und gutem Zielen traf ich einen Kretter. Zweimal beschossen wir sie mit Jagdpfeilen. Das gab uns Zeit zu fliehen. Auf dem Weg sammelten wir auch die Waldgeister ein, denn mit mir auf dem Scheiterhaufen, sagte Noj, hätten sie keine Zeit gehabt, sich um sie zu kümmern. Dann kletterten wir über die Steine und waren im Innern der Felsenburg.
Die Frauen kümmerten sich um die Verletzten. Viani und Kirgit halfen Noj und mir in die Hütte und zogen uns dort aus. Die Federn an meinen Beinen waren versengt, und schwarze Wunden klafften in der Haut. An meinen Knien waren Blasen, und bei jeder meiner Bewegungen hatte ich stechende Schmerzen. Loke bat mich, still zu liegen, und ging zu Noj hinüber, der sich schreiend hin und her wand, als Viani ihm die Hose auftrennte. Loke erklärte, wie wichtig es sei, den Mut zu bewahren, insbesondere jetzt, da wir die Pfeile herausziehen mussten. Noj habe Glück gehabt, sagte der Trolljäger, denn der Pfeil habe seinen Schenkel durchstoßen, ohne etwas zu brechen. Er brach die Pfeilspitze ab und zog den Schaft aus der Wunde, ohne sich um Nojs Geschrei zu kümmern.
Mit blutigen Händen wandte sich der Waldgeist dann mir zu, und ich dachte sofort daran, wie er Turvis zerschmettertes Bein abgetrennt hatte. Er fuhr mit seinen Fingern über meine Beine und legte sein Gesicht in Falten, ehe er Bul bat, Birkenrinde zu holen. Den Schülern befahl er, Fasern von der Rinde abzutrennen, die er dann in seinem Mund zerkaute. Ich wagte nicht zu fragen, was er vorhatte, denn falls mir die Beine abgenommen werden mussten, wollte ich das am liebsten gar nicht wissen. Doch Loke beruhigte mich, als er den Rindenbrei in die Wunden spuckte.
»Das war knapp«, erklärte er lächelnd. »Aber diese Rindenumschläge werden deine Schmerzen lindern und die Wunden schnell verheilen lassen.«
Noch ein Mund voll Brei landete auf meiner brennenden Haut. Danach sprach er mit Viani und erhielt ein Leinentuch, das er entzweiriss. Er wickelte es um meine Beine, und dann musste ich eine von Kirgits Winterhosen anziehen, damit der Verband nicht rutschte. Kirgit selbst brachte mir warmen Brei, und nach ein paar Schlucken von Nojs selbstgebrautem Bier fühlte ich mich so stark, dass ich eine Decke um mich schlug und mich an den Tisch setzte. Ich saß lange dort, Kinder, und konnte nicht begreifen, dass ich zweimal von den krettischen Scheiterhaufen gerettet worden war. Kirgit streichelte meinen Rücken und sagte, Kragg habe mich unter seine Fittiche genommen.
Als die Sonne unterging, stützte ich mich auf einen Speerschaft und humpelte nach draußen. Ich wollte über das, was geschehen war, nachdenken und auch darüber, was geschehen würde, wenn der Gamle seine Wurzel nicht bekam. Ich hockte mich auf den Holzhaufen neben der Tür und streckte meine Beine vorsichtig aus. Die Schafe, die ich am ersten Tag unserer Wanderung durch das Gebirge gesehen hatte, standen nur einen Steinwurf von mir entfernt dicht gedrängt am Hang. Die Vögel kreisten über dem Tal, während die Dämmerung langsam von den Felswänden herabglitt.
Nach einer Weile kamen die Waldgeister. Vile kletterte an meine Seite. Er legte seine Hand auf meinen Rücken und wischte sich mit seiner kleinen Faust sein Auge trocken. Er musste nichts sagen; ich verstand auch so, dass er Angst gehabt hatte.
Bile begann, einen Zweig in kleine Stückchen zu zerbrechen, als hätte er nichts Besseres zu tun. Loke und Bul verschränkten die Arme vor der Brust, blieben stehen und starrten zum Himmel. Sie sagten nichts, doch in der Stille hörte ich die Verzweiflung. Sie hatten den Gamle betrogen. Jetzt mussten wir auf den ewig währenden Winter warten.
»Es tut mir Leid«, sagte ich. »Ich hätte euch ein besserer Pfadfinder sein sollen. Wenn ich auf unserer Reise von Krugant nach Süden besser auf den Mast aufgepasst hätte, wären wir vielleicht direkt hierher gekommen. Dann wären wir längst zurück im Westwald.«
Loke schaute zu den Vögeln empor, die noch immer über uns kreisten. Der Abendwind spielte in seinen schulterlangen Haaren. Doch Bul schob seine Daumen unter den Gürtel und trat breitbeinig auf mich zu. Er lächelte nicht, doch so wie er mich ansah, wusste er etwas, das ich nicht wusste. Vile begann zu grinsen. Bile sammelte die Holzstückchen in einer Hand zusammen und legte die andere auf Buls Schulter.
»Erzähl es ihm jetzt. Vielleicht gibt das ja ein bisschen Trost.«
Bul kniff die Lippen unter seinem Bart zusammen, denn jetzt zuckte ein Lächeln an seinen Mundwinkeln. Loke strich sich mit den Händen über den Bart und räusperte sich dann.
»Ich bin stolz auf unseren Bul. Wir haben die Wurzel gefunden, weißt du. Wir haben sie im Lager der Kretter gefunden.«
Ich sprang von dem Holzhaufen auf, ohne mich um meine schmerzenden Knie zu kümmern. Die Waldgeister hatten endlich die Rote Runde Wurzel gefunden!
»Wo ist sie?«
Loke lachte derart, dass seine Augen in den Falten verschwanden. Bul hob seinen Zeigefinger, deutete auf mich und drehte ihn dann um und zeigte auf seinen Bauch.
»Du hast sie gegessen?« Ich musste einfach fragen, auch wenn es eindeutig war, so wie der Waldgeist dastand und sich auf den Bauch klopfte.
»Er musste«, erklärte Bile lachend. »Der Kretter kam. Wir haben sie in dem Pferch gefunden, in dem sie uns gefesselt hatten. Komm schon Bul, spuck sie aus!«
Er klopfte Bul auf den Rücken.
»Ja, warte nicht, bis sie am anderen Ende wieder herauskommt!« Loke packte Buls Bart und schob ihm die Haare ins Gesicht. »Kitzel deinen Hals mit den Haaren, dann kommt sie schon wieder heraus!«
Bul lächelte nicht mehr. Der Gedanke daran, die Wurzel zu erbrechen, war nicht gerade verlockend. Doch er war ein echter Waldgeist, und so stützte er seinen einen Arm auf seinem Knie auf, beugte sich vor und schob das Ende seines Barts in seinen Mund. Zuerst hustete er leicht, doch dann begann es in seinem Hals zu gurgeln. Er ließ den Bart los und begann zu würgen. Dann schloss er den Mund, würgte wieder und spuckte schließlich die Wurzel in den Schnee. Loke wischte sie mit dem Ärmel seiner Jacke ab und hielt sie mir vor die Nase.
»Die Rote Runde Wurzel! Wir haben sie schließlich doch noch gefunden.«
»Ja«, sagte Bile. »Nur schade, dass es zu spät ist.«
Ich habe Loke nur einmal böse erlebt, Kinder, und das war damals, als Bile diese Worte sagte. Das Gesicht des Trolljägers verfärbte sich rot. Er zerrte an seinen geflochtenen Barthaaren und sah aus, als wolle er allein den ewig währenden Winter zum Schmilzen bringen.
»Mut! Mut! Ihr vergesst das immer wieder! Ihr Waschlappen! Ihr habt kein Recht, den Mut zu verlieren!«
Vile sank neben mir zusammen und umklammerte mein Bein. Bile versteckte sich hinter Bul, dessen Mund schmal wie ein Runenstrich wurde.
»Wir haben noch einen Tag und eine Nacht!« Loke hob seinen Arm zum Himmel, als wolle er alle bekannten und unbekannten Götter um Hilfe anflehen.
»Ihr müsst doch wissen, dass noch so viel geschehen kann, Schüler!« Er spannte seine Brust und schloss die Augen, bevor er ausatmete und sich an die Stirn fasste.
»Aber ich habe Angst.«
Er begann seinen Kopf hin und her zu bewegen.
»Nein, ich sollte nicht auf euch böse sein, meine Schüler. Kommt jetzt, es ist Zeit zum Schlafen. Morgen werden wir klarer sehen. Dann müssen wir das Volk der Großen darauf vorbereiten, was geschehen wird, wenn kein…«
Bei diesen Worten sah er mich an.
»Wenn kein Wunder geschieht.«
Die Waldgeister schoben die Tür auf. Vianis Gesang und Nojs Gelächter strömten uns wie ein warmer Wind entgegen. Dann knirschten die Zargen, und alles wurde wieder still.
Als der Mond am Himmel im Osten aufging, hinkte auch ich wieder hinein. In der Tür drehte ich mich noch einmal um und sah, dass der schmale Schatten jetzt nur mehr die Breite einer Messerklinge hatte. In einem Tag würde Vollmond sein.
Kirgit half mir, mich neben Noj hinzulegen, und zog mir die Hose aus. Loke bat sie, den Leinenumschlag abzuwickeln, und ich sah, dass die Schwellung bereits zurückgegangen war. Der Trolljäger kaute noch einmal Rinde und schmierte damit die schlimmsten Stellen ein. Dann wickelte er das Leinen wieder um mein Bein und setzte sich zu seinen Schülern an die Feuerstelle. Kirgit hielt meine Hand, während Viani Nojs Pfeilwunde frisch verband. Der Häuptling selbst sah frischer aus als jemals zuvor, nur die Schweißtropfen auf seiner Stirn verrieten, dass er Schmerzen hatte. Er zeigte mir die Narben auf Brust und Bauch, die von einem Bären stammten, der ihn angegriffen hatte, als er noch jung gewesen war und Eindruck bei Viani schinden wollte. Kirgit und Viani lachten darüber. Dann durfte ich den geharzten Wein probieren, den er in dem Schlauch über seinem Bett aufbewahrte und der immer dann hervorgeholt wurde, wenn es für ihn und die anderen Männer Grund zum Feiern gab, weil sie die Kretter im Kampf oder mit einem guten Handel überlistet hatten, und danach lachte auch ich. Er richtete sich an der Wand auf und begann eine Geschichte zu erzählen, wie er Fische aus den Netzen der Kretter gestohlen hatte, bis Viani ihn schließlich bitten musste, sich auszuruhen. Kirgit machte mir neben den Waldgeistern ein paar Decken zurecht und begann gemeinsam mit ihrer Mutter zu singen, bis ich einschlief.