Krugant
Setzt euch zu mir, Freunde. Krallenfinger wird erzählen. Ekri, häng die Felldecke vor die Tür. Nin, leg noch etwas Holz aufs Feuer. Es ist so kalt draußen.
Kommt nun, Freunde. Ich werde euch die Geschichte von einem kleinen Jungen erzählen, der vor vielen, vielen Wintern gelebt hat, und von der Reise, die er unternommen hat, ehe er hierher in die Felsenburg kam.
Hört meine Worte. Fühlt sie. Nehmt ihren Geruch wahr. Seht, wie sie ums Feuer tanzen. Und hört ihre Stimmen, wie sie euch locken, mitzukommen. Tut, was sie von euch verlangen, Freunde. Folgt meinen Worten auf das Meer hinaus und segelt mit ihnen fort, bis es auf die nördlichen Ebenen trifft. Dort liegt Krugant, ein Ort, von dem euch sicher eure Klanväter erzählt haben. Und dort in Krugant beginnt die Geschichte.
Ob dort die Zauberer wohnen? Nein, Nin. Das ist in Tuur, weiter im Süden, noch hinter Krett. Die Kruginer fürchten die Zauberei, und sie würden die Hexenmeister niemals in ihrer Stadt wohnen lassen. Denn Krugant ist von stolzen Kriegern bevölkert, den Nachkommen der ersten Klans der Ebene. Das sind gute Menschen. Ich bin noch immer dieser Meinung, auch nach all dem Bösen, das geschehen ist.
Fragst du schon wieder, Nin? Sei geduldig, mein Kind! Du darfst einen alten Mann nicht so drängen! Ihr werdet bald erfahren, was geschehen ist, denn ich erinnere mich an alles, als ob es gestern gewesen wäre. Also, schlagt die Decken um euch und denkt nicht an den Schneesturm draußen hinter den steinernen Mauern. Nein, seht ins Feuer und hört meine Geschichte.
Kro-Gan sagen eure Klanväter. Sie meinen Krugant. Keiner von ihnen war jemals dort, denn sie sind nicht so reiselustig, wie es das Felsenvolk gewesen ist. Aber nach allem, was sie von den herumreisenden Händlern erfahren haben, ist es eine wunderbare Stadt, und ich hoffe, dass ihr es eines Tages auf euch nehmen werdet, dort hinaufzusegeln. Ihr werdet den Ort an dem goldenen Streifen erkennen, der sich vor dem Grün der Ebene abhebt, das sich flach aus dem Meer erhebt. Kommt ihr näher, werdet ihr erkennen, dass es sich um eine steinerne Mole handelt. In Krugants Hafen werden eure Schiffe sicher vor jedem Unwetter sein, denn die steinerne Mole schützt die gesamte Seeseite der Stadt. Ihr müsst von Osten heransegeln, wenn ihr nicht auf den Schären auflaufen wollt, und wenn die Ebbe kommt und das Wasser sinkt, werdet ihr die verfaulten Masten und tangbewachsenen Decks der Schiffswracks zahlloser törichter Händler sehen. Doch hinter der Mole ist das Wasser tief, und dort pulsiert das Leben. In der Tauschzeit, die vom Frühsommer bis zum letzten Mond vor den Herbststürmen andauert, kann man trockenen Fußes vom Kai bis zur Moleneinfahrt laufen, von der Krugs steinerner Kopf alle wohlgesonnenen Männer willkommen heißt, feindliche Räuber hingegen mit einem Bann belegt. Ja, die Kruginer haben auf der westlichen Spitze der Mole einen steinernen Kopf errichtet, groß wie zwei Männer und breit wie einer. Niemand weiß, ob man diesen Kopf damals Krug taufte oder ob das der Name desjenigen war, der ihn aus dem Fels gehauen hat. Ich selbst glaube an das zweite, denn die Kruginer sind geschickte Steinmetze. Auch ihre Häuser sind aus Stein, und man erzählt sich, sie hätten diese Steine aus den Uferfelsen gehauen, die zu der Zeit, als sich die ersten Kruginer ansiedelten, den Strand bedeckten.
Ich erinnere mich an Krugant als eine Stadt der Mythen und allerlei fantastischer Dinge. Im Hafen erzählen sich die Seeleute Geschichten und besingen, was sie im Süden erlebt haben. Du kannst sie sehen, die in Seide gehüllten Arer, die dicken Seeräuber und die dunkelhaarigen Kretter, wie sie sich ans Dollbord ihrer Boote lehnen und sich mit den Händen an der Takelage festhalten. Und wenn du dich zum Rand der Kaimauer vorschleichst, kannst du sie bis weit in die Nacht erzählen hören, während sich das Licht ihrer Kohlelampen auf der schwarzen Wasserfläche spiegelt. Und unter euch gluckst das Wasser an den Pfählen, und ihr riecht den Tang und das Meer und das Ziegenfett von den Grillfeuern der Arer.
Tagsüber stehen die Händler auf der Kaimauer, die wie eine Straße am Meer entlangführt. In ihren Buden verkaufen sie Häute und Kräuter, Schwerter und Bogen, Seile aus Palmenfasern, Sklaven und magische Dinge aus Tuur.
Was sagst du, Nin? Dass sie böse sind? Dass nur Räuber mit Menschen handeln? Ja, da hast du Recht. Ich habe Frauen schreien gehört, als würde ihnen das Herz herausgerissen, als ihre Kinder verkauft und weggebracht wurden. Einmal habe ich gesehen, wie ein Arer mit seinen eisernen Fesseln einem Sklavenhändler bei einem letzten Versuch zu fliehen das Genick gebrochen hat. Es ist wahr, dass Sklavenhändler böse sind, aber ich habe nie daran gedacht, bis es mir selbst widerfuhr.
Trotzdem müsst ihr mir glauben, wenn ich euch sage, dass auch den Menschenhändlern ein Platz auf dem Markt in Krugant zukam. Denn dort findet sich alles, was die bekannte Welt zu bieten hat. Wenn ihr dort an den Buden entlanglauft, riecht ihr den Duft ferner Länder und träumt euch auf die himmlischsten, sagenumwobensten Inseln. Noch heute habe ich den Geruch der Kräuterwürstchen aus den Sieben Reichen und den Duft frisch gefangenen Aals in Seegras in der Nase. Der bittere Gestank des geölten Steinholzes auf dem Tisch der Waffenschmiede sticht in meiner Nase, während mich der verführerische Duft parfümierter Menschen aus Ländern, von denen niemand je gehört hat, schwindlig werden lässt. Und über dem Ganzen schwirren die Worte in einer Unzahl fremder Sprachen wie Vögel von Bude zu Bude.
Ja, welche Geschichten gibt es dort nicht zu hören? Wilde Gerüchte und Seeräubergarn gedeihen dort wie Disteln auf einer Pferdekoppel. Die Kruginer sind Menschen, die gerne alles Mögliche glauben, und wohl deshalb haben sich die Gerüchte so schnell verbreitet.
Aber lasst mich euch jetzt in die Straßen und Gassen von Krugant entführen! Dort, zwischen den gelben Häusern, in deren Sandsteinwände der Regen tiefe Rinnen gegraben hat, reiten die Krieger der Ebene zu ihren zahllosen Gefechten. Dort könnt ihr Fonorer in ihren glitzernden Rüstungen auf bemalten Wildpferden sehen, die sie mit ihren Füßen leiten. Oder Leihschwerter aus dem Norden, mit breiten Schultern und dicken Bärten in ihren Bärenfellen, große Männer mit enormen Äxten. Einmal habe ich gesehen, wie einer von ihnen einen Kretter einfach entzweigehackt hat, vom Kopf bis zum Schritt, aber ihr braucht euch nicht zu fürchten, denn von allen Völkern, die nach Krugant kommen, sind die Bewohner des Nordens die verträglichsten.
»Grum«, wird er in seinen Bart brummen und dich an sich drücken. Und dann bist du sein Freund in diesem und dem kommenden Leben, und auch wenn die nördlichen Völker in ihren groben Fellen oft merkwürdig riechen mögen, ist es gut, sie als Freunde zu haben, und ich sage euch: Niemand ist so edel zu Frauen und Kindern wie der Nordmensch. Ich erinnere mich daran, dass einmal eine Landstreicherin gehängt werden sollte. Das macht man so in Krugant, sie töten Menschen, die stehlen. Und diese Frau hatte Edelsteine von einem Goldschmied gestohlen, und sie wollte nicht verraten, wo sie die versteckt hatte. Die meisten glaubten, sie hätte sie verloren oder dass wieder andere sie ihr gestohlen hätten. Aber wie dem auch sei, sie sollte gehängt werden. An diesem Tag standen drei Nordmenschen auf dem Richtplatz, und als die Frau zum Galgen hochgeführt wurde, hörte ich sie in der Menge brüllen. Die Menschen traten zur Seite, und drei Wilde mit Äxten in den Händen stürmten nach vorn zum Galgen, schubsten die Wachen zur Seite und lösten die Fesseln der Frau. Als die städtischen Soldaten kamen, hatten sie den Richtplatz bereits zu Kleinholz gehackt, den Galgen heruntergerissen und mit ihr das Weite gesucht. Niemand hat sie seitdem gesehen, aber an diesem Abend feierten die Kruginer. Eigentlich mochte es niemand, wenn Menschen gehängt wurden, sodass die Befreiung wirklich ein Grund zum Feiern war. Ihr müsst wissen, dass Krugant nicht wie die Felsenburg ist, denn in Krugant gab es Menschen, die mehr zu sagen hatten als andere. Das waren die Reichen, die die Vermögen hatten und Sklaven, die sie umsorgten. Diese Menschen hatten sich zu etwas, das sie Laag nannten, verbunden. Das Laag bezahlte die Soldaten, und die Soldaten sorgten für Ruhe und Ordnung; es waren also die Reichen, Menschen wie der Goldschmied, die in Krugant regierten. Trotzdem – es war ein spannender Ort. Ich könnte lange über Krugant berichten, doch ich muss sehen, dass ich mit meiner Geschichte weiterkomme. Denn Krugants Gassen hatten auch ihre Schatten. Und auch in den Gemütern der Kruginer waren dunkle Winkel verborgen.
Am Rande der Ebene, wo die wenigen Kruginerbauern ihre Felder hatten, wohnte eine Böttcherfamilie. Sie waren nicht reich, verdienten aber genug, um jeden Abend gut zu essen, und wenn sich die Flicken auf ihren Kleidern zu sehr häuften, kauften sie neue Hosen und Jacken beim Schneider unten am Hafen.
Das Haus, in dem sie wohnten, war eine alte Wirtschaft, in der die Kutscher übernachteten, ehe die Klansfehde begann und der Weg über die Ebene zuwucherte. Hier hatten auch der Vater und Großvater des Böttchers gewohnt und ihre Frauen und Kinder warm durch die Winter gebracht. Wie seine Vorfahren hatte er eine große Familie, und in diesem Sommer hatte seine Frau ihr viertes Kind, ein Mädchen, bekommen.
Die drei Söhne waren fast immer draußen, denn das kleine Kind war ein richtiger Schreihals. Schon früh am Morgen arbeiteten sie mit ihrem Vater in dem alten Stall, den sie als Werkstatt nutzten. Sie schlugen Stäbe aus den Stämmen, die mit Schiffen von der Ostküste herbeigeschafft worden waren, und spannten sie in den Schraubstock ein, damit sie später in die Eisenringe passten. Sie nagelten Deckel und bohrten Auslasslöcher und rollten die Tonnen dann durch die Gassen der Stadt zu den Seeleuten, Bäckern und all den anderen Händlern Krugants. Des Abends warfen sie Messer auf eine aus Heu gebundene Zielscheibe und übten sich mit Pfeil und Bogen. Manchmal schlenderten sie auch zum Hafen hinunter und lauschten den Geschichten der Seeleute oder sahen zu, wie die Arer ihre Schwerter an den Vertäuungsketten der Schiffe schliffen.
Meine Geschichte wird von dem ältesten der drei Söhne handeln, einem Jungen, dreizehn Winter alt mit Namen Karain. Solange er sich erinnern konnte, hatte er in der Werkstatt geholfen. Er hatte gelernt, wie er die Holzbalken zuhauen musste, damit das Öl nicht aus den Tonnen rann, wie er die Eisenbänder erhitzen musste, bevor er sie befestigen konnte, und all das andere, das Böttcher wissen müssen. Der Vater hatte mit diesem Jungen mehr Zeit verbracht als mit den beiden anderen zusammen, denn er wollte, dass Karain der beste Handwerker in ganz Krugant wurde. Ihr müsst verstehen, er wusste sehr wohl, dass sein Sohn an keinem anderen Ort in die Lehre hätte gehen können, denn Karain war mit nur drei Fingern an jeder Hand geboren worden. Seine Oberlippe war gespalten, und sein ganzes Gesicht war wie bei einem Tier mit Haaren bedeckt. Doch seine Augen waren blau wie der Himmel.
»Karain«, sagte der Vater, wenn der Junge über den Hobel gebeugt dastand. »Leg dein Gewicht genau auf das Holz, dann wird der Schnitt gerader.«
Und wenn sie ihr Tagwerk beendet hatten und sich abends zum Essen um den Tisch versammelten, während die Mutter Brei in die Schalen goss, lobte er ihn und sagte, sodass alle es hören konnten:
»Heute warst du aufmerksam, Karain. Du hast das Handwerk in deinen Händen.«
Ich erzähle euch das, damit ihr versteht. Es war keine Boshaftigkeit, die den Böttcher und seine Frau zu dem trieb, was sie später taten.
Ich erinnere mich an den folgenden Tag. Karain und seine Brüder hatten beim Schmied Eisenbänder geholt und stiegen den steilen Segeltrockenhang im Osten der Stadt empor. Wie gewöhnlich trug er die schwerste Last, so wie es sich für den ältesten Sohn gehörte. Er kämpfte damit, die schweren Bänder auf seiner Schulter zu halten, ehe seine Krallenfinger den Halt verloren. Oben auf dem Hang, von wo aus man eine gute Sicht über die Stadt und den Hafen hatte, setzte er seine Last ab. Er konnte die Schiffe sehen, die Mole und das endlose Meer. Zwei Kretter gingen vorbei, warfen einen Blick auf ihn und murmelten sich etwas in ihrer Sprache zu.
Karain kümmerte sich nicht darum und richtete seinen Blick zum Himmel. War das dort oben ein Rabe? Das schwarze Kreuz schwebte hoch über der Stadt.
»Schaut mal!« Er deutete nach oben.
»Ein Krah«, sagte Mir und blinzelte zum Himmel. Der jüngste der Brüder verwendete noch immer für fast alles seine Kinderausdrücke. Er lächelte unter seinem Pony hervor und vergrub die Hände in den Taschen seiner Friesjacke.
»Rabe!« Arga kratzte sich am Kopf und lachte. »Das heißt Rabe.«
Karain beobachtete die beiden. Arga hatte genauso dunkle Augen wie Mir, aber er war zwei Jahre älter. Erst vor kurzem hatten sie seinen zehnten Geburtstag gefeiert und Vater hatte ihm so eine bestickte Lederweste geschenkt, wie sie die Erwachsenen tragen. Arga hatte sie heute angezogen, und Karain hätte wetten können, dass sein Bruder sehr stolz war. Jetzt flüsterte er Mir, wie sooft, etwas zu. Die beiden hatten so viele Geheimnisse. Er fühlte sich dann immer ein wenig als Außenstehender. Arga legte Mir die Hand auf die Schulter, zeigte zu dem Raben empor und lachte. Karain blickte wieder zum Himmel. Als ob der schwarze Vogel zum Lachen wäre! Der Rabe kreiste nach unten und ließ sich dann von der Luft über den Hafen tragen. Dort scheuchte er ein paar Möwen auf und setzte sich schließlich auf den steinernen Kopf. Mit den Möwen flogen auch die anderen Seevögel auf, und unzählige Flügel flatterten um die Masten herum.
»Geht schon mal heim! Ich möchte hier noch eine Weile bleiben.« Karain forderte seine Brüder mit einem Wink auf zu gehen. Arga war es langsam leid, dass immer er bestimmte, doch noch taten sie, was Karain sagte. Sie schulterten die Eisenbänder und machten sich auf den Weg. Karain wandte sich wieder dem Meer zu. Die Seevögel kreisten jetzt in einem großen Schwarm. Eine Schar schwarzrückiger Papageientaucher, gefleckte Raubmöwen, weiße Basstölpel und Möwen. Ja, er kannte sie alle. Oft ging er auf die Mole hinaus und sah von dort aus stundenlang zu, wie die Seevögel über dem Wasser kreisten.
Karain folgte ihnen mit den Augen. Sie flogen im Bogen über die Schären, die gerade eben aus dem Wasser ragten, und landeten rechts von der Mole auf dem Strand. Der Rabe blieb alleine auf Krugs steinernem Kopf zurück.
Der Schlag traf seinen Arm. Er stolperte über die Eisenbänder nach vorn in den trockenen Pferdemist. Eine Reihe von Beinen erhob sich vor ihm, einige waren nackt, andere von ledernen Hosen verhüllt. Sie kreisten ihn ein, und während er sich aufrappelte, wurde das erwartungsvolle Lachen lauter. Er wusste, was geschehen würde. Wie konnte er nur so dumm sein, Arga und Mir nach Hause zu schicken!
»Federnase guckt sich wieder die Vögel an!« Der Sohn des Bäckers trat vor. Er war dick und hatte rote Backen, genau wie sein Vater. Seine fetten, weiß wie Speckwürstchen glänzenden Unterarme zitterten vor freudiger Erwartung, als er sie in die Hüften stemmte und grinste. Die anderen lachten. Karain sah sie an. Es waren immer die Gleichen. Die vier Seilmacherbrüder und die Söhne vom Goldschmied und Muru.
»Hab ich dich nicht gebeten, einen Sack über dein scheußliches Gesicht zu ziehen?« Der Bäckersohn kam breitbeinig auf ihn zu, das machte er immer so. Karain antwortete nicht; er sah zwischen ihnen hindurch und hoffte, irgendwo in der Nähe Arer oder Kelsmänner zu erblicken. Falls sie es denn gewagt hätten, gegen die Söhne der Männer des Laag einzuschreiten.
»Antworte!« Der Bäckersohn ballte die Faust und hob sie drohend vor ihm in die Höhe. Karain beugte sich hinunter, um die Eisenbänder aufzuheben, und als der Schlag seinen Rücken traf, hockte er sich hin und zog seinen Körper zu einem harten Bündel zusammen. Er ließ die Tritte und Schläge auf sich einprasseln, und als es endlich vorüber war, hielt er sich die Hände vor die Ohren, um das höhnische Gelächter nicht hören zu müssen. Erst als sich die Schritte nach unten entfernten, öffnete er die Augen und rollte sich auf den Rücken. Sie schlugen nicht so hart, wenn er sich nicht wehrte. Das Gelächter und die Hänseleien waren das Schlimmste. Er atmete aus. Vater hatte gesagt, dass er sich darum nicht kümmern sollte. Sie würden damit aufhören, wenn sie erst älter wären, meinte er. Karain wusste, dass er sich irrte. Der Sohn des Bäckers war schlecht. Er mochte es, andere leiden zu sehen.
Karain stütze sich auf die Ellenbogen auf und wischte sich Pferdemist und Dreck von den Kleidern. Da sah er den Raben. Er saß auf dem First der Fischtrockenhalle, gleich rechts von ihm. Die Sonne glitzerte in den schwarzen Augen des Vogels. Er rief. Dann senkte er den Kopf und starrte Karain an. Karain stand auf und sammelte die Eisenbänder ein. Da flog der Rabe auf, flatterte unter das offene Dach und zwischen den Reihen von Trockenfisch hindurch, bis er auf der anderen Seite der Halle wieder herauskam und dicht über dem Boden zum Hafen hinuntersegelte. Dann flog er über das Meer. Merkwürdig, dachte Karain. Für gewöhnlich lebten die Raben in den Wäldern im Westen.
Er ging langsam den Hügel zu den Braustuben hinunter, die den Hafen säumten, nur unterbrochen von den Trockengestellen für die Netze und den Lagerhäusern. Zwei Arer diskutierten wild mit zwei Krettern. Das war ganz untypisch für sie; die blonden Männer kümmerten sich in der Regel nicht um Geschwätz. Bald erreichte er die Wirtshausstraße und bog nach rechts zum Gasthaus ab. Auch hier war mehr Leben als sonst. Kelsmänner rannten an ihm vorbei in Richtung Hafen und sahen ihn verwundert an. Vor den Tonnen, die den Eingang des Wirtshauses darstellten, stand ein Tuurer und hielt aufgeregt lange Reden. Karain lächelte vor sich hin und dachte, dass sicher wieder die Rede von Seeräubern war oder dass wieder irgendein Walschwarm eines der Schiffe draußen auf dem Meer versenkt hatte. So etwas ließ die Seeleute immer unruhig werden.
Er nahm eine Abkürzung und erreichte schließlich die Straße, in der er wohnte. Erleichtert hängte er die drei Eisenbänder über die Balken in der Werkstatt.
An diesem Abend kam der Schmied nach dem Essen zu Besuch. Zuerst glaubte Karain, er habe vergessen für die Bänder zu zahlen, und suchte an seinem Bund nach dem Säckchen mit dem Geld. Doch Vagge kam nicht, um Geld einzutreiben. Er hatte Neuigkeiten.
»Heute ist ein Schiff aus Krett angekommen«, sagte er, während ihm die Frau des Böttchers Bier in seinen Krug goss. Er kratzte sich an seinem struppigen Bart, schob das eine Bein über das andere und stützte seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab.
»Und mit dem Schiff kam etwas, das mir Angst macht.«
Karain setzte sich neben seinem Vater an den Tisch. Er mochte den Schmied, denn er war einer der Erwachsenen, die ihn ganz normal behandelten und ihm nicht aus dem Weg gingen.
»Angst, sagst du?« Sein Vater zog die Augenbrauen hoch und trank einen Schluck aus seinem eigenen Krug. »Warum? Sind Pestratten an Bord?«
Der Schmied lächelte, lehnte sich über den Tisch und fuhr Karain durch die Haare.
»Nein, weder Ratten noch Mehlkäfer oder Schimmelpilze.« Er stellte seinen Krug hin und ließ seinen Blick auf den Flammen der Feuerstelle ruhen.
»Aber mit den Krettern ist ein Gerücht in Umlauf geraten.«
»Ein Gerücht?« Sein Vater grinste. »Was für ein Gerücht? Und wer sollte denn diesen abergläubischen Krettern glauben?«
»Soviel ich weiß, hatten sie heute im Wirtshaus viele Zuhörer.« Der Schmied schluckte und umklammerte seinen Krug. Er sah zu Karain hinüber und blickte ihn unentwegt an, während er weitersprach. »Sie haben erzählt, dass die Städte im Osten des Meeres von Dämonen heimgesucht worden wären und dass diese die Gestalt von missgebildeten Menschen angenommen hätten.«
Jetzt hob er seinen Krug an, und Karain, der von seinem Blick gefangen gewesen war, erhob sich vom Tisch. Er ließ die Männer reden und schöpfte sich eine Kelle Wasser aus der Tonne an der Tür. Dann sah er sich im Raum um. Seine Mutter saß auf der Bank unter dem Fenster und nähte eine Hose, während Arga und Mir mit ihren Tieren, die sie aus Tannenzapfen gebaut hatten, spielten. Er trank einen Schluck und schlich sich dann hinüber zum Kamin. Dort stellte er sich hinter den Rücken seines Vaters und tat so, als wärme er sich am Feuer die Hände.
»Sie haben gesehen, wie die Dämonen die Menschen um ihren Verstand gebracht haben!« Die Stimme des Schmieds war leise und eindringlich. »Wie sie es miteinander getrieben und neue Missgeburten im Laufe nur einer Nacht geboren haben. Und jetzt sollen die Dämonen, wenn ich glauben soll, was ich gehört habe, auf dem Weg nach Norden sein.«
»Das darfst du nicht!« Die Stimme seines Vaters klang zornig. »Ich kenne dich als einen vernünftigen Mann, Vagge. Einen, der zu viel Selbstachtung und Lebenserfahrung hat, um die Lügen dieser einfältigen Kretter zu glauben!«
»Aber was, wenn die Dämonen hierher kommen? Was sollen wir dann tun? Ich meine, das war doch auch der Grund, weshalb wir den bemalten Tuur in diesem Frühjahr vertrieben haben! Wir wollen hier doch keine Zauberei!«
Sein Vater lachte.
»Der einzige Grund, den ich kenne, ist doch wohl der, dass er Liebesstaub in den Wein des Goldschmieds gestreut hat! Eine guter Streich, wenn du mich fragst!«
»Vielleicht ein Streich, aber stell dir nur vor, was hätte passieren können, wenn er seine Zauberkräfte anderweitig genutzt hätte!«
Sein Vater hob seinen Krug.
»Du wohnst zu nah am Hafen, Vagge. Du hörst da zu viel Unsinn. Lass uns trinken. Prost. Morgen müssen wir wieder arbeiten.«
Die zwei Männer stießen mit ihren Krügen an, kippten das Bier hinunter und wischten sich den Schaum aus ihren Bärten. Danach stand Vagge auf und ging zur Tür. Erneut spürte Karain seinen bohrenden Blick. Dann schob der Schmied die Tür auf und verschwand in die Nacht hinaus.
»Schlafenszeit!« Sein Vater klatschte in die Hände, schob den Stuhl an die Wand und räumte die Krüge weg.
»Hinaus mit euch! Wascht euch jetzt! Ich komme später nach oben.«
Karain trat mit seinen Brüdern hinter den Vorhang unter der Treppe. In diesem Raum schliefen Mutter und Vater. Die Nase der Kleinen ragte nur gerade eben aus den Kissen des Kinderbettchens hervor, das sie aus einer halben Tonne geschreinert und mit Beinen versehen hatten. Nach den Gesetzen der Stadt durfte sie erst nach ihrem ersten Winter einen Namen bekommen, doch seine Mutter hatte bereits begonnen, sie Avn zu nennen, wie die Meeresgöttin von Krugant.
Die Tür zum Hinterhof war am Ende des Raumes. Arga und Mir hatten sie bereits aufgerissen und sprangen die steinerne Treppe hinunter. Karain schlenderte hinter ihnen her und ließ sie sich an der Regenwassertonne in der Ecke austoben, während er sich selbst auf der Treppe hinhockte. Eine Katze schlich aus dem verfallenen Schuppen auf der linken Hofseite, in dem die Kutscher früher einmal zu übernachten pflegten. Genau gegenüber der Treppe war die Werkstatt und rechts davon der alte Stall. Doch zwischen Stall und Hauswand hindurch konnte er ein Stück des Weges erkennen und dahinter das Glitzern des Wassers. Wenn der Wind vom Meer kam, konnte er sogar noch hier oben den Geruch des Tangs wahrnehmen. Doch an diesem Abend kam der Wind von Norden.
Nachdem er sich gewaschen hatte, ging er wieder in die Stube und kletterte von dort die Treppe zum Dachboden empor. Arga und Mir lagen bereits ruhig in ihrem breiten Bett unter der Fensteröffnung. Er selbst setzte sich auf seine schmale Pritsche und zog sich die Decke um die Schultern. Er mochte nicht, was der Schmied gesagt hatte. Jetzt begriff er, warum im Wirtshaus so ein Aufruhr gewesen war. Dämonen… Der Schmied war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen, aber an diesem Abend hatte er besorgt gewirkt. Waren Dämonen wirklich so gefährlich? Und warum hatte ihn Vagge so merkwürdig angeschaut?
Da knirschte es auf der Treppe. Sein Vater kam mit einem Öllämpchen in der Hand nach oben.
»Ich dachte mir schon, dass du nicht so schnell einschläfst«, sagte er und streckte ihm eine zusammengerollte Haut entgegen. »Was meinst du, Karain, sollen wir da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben?«
Karain nickte, kroch unter die Decke und stützte seinen Kopf an der Wand ab. Vater setzte sich neben ihn, stellte die Öllampe auf den breiten Bettpfosten und kratzte sich am Bauch. Das Pergament knisterte, als er es entrollte.
»Wir müssen leise sein.« Er warf einen Blick zu dem anderen Bett hinüber. »Arga und Mir schlafen.«
Karain rieb sich mit seinen Krallenfingern die Augen. Auch er war müde.
Sein Vater deutete auf dem Pergament auf eine Stelle, etwa eine Handbreit unter der Oberkante. Karain legte die Rolle in seinen Schoß und fuhr mit dem Handrücken über das alte Ziegenleder. Es war vier Fuß lang und zwei Fuß breit, und die Zeichen darauf waren mit Tierblut geschrieben worden. Ganz oben stand »Krim ganma«. Das war eine der Pergamentrollen, die Vater in der Kiste unter der Treppe aufbewahrte. Karain wusste, dass sein Vater bereits seit vielen Jahren Schriftrollen sammelte, und diese hier beinhaltete den dritten Teil der Geschichte von Krim. Es war eine Geschichte über große Kämpfe, Belagerungen und Heldenmut, niedergeschrieben von gelehrten Männern und aufbewahrt in Kels’ Schriftenkammer. Karain liebte es zu lesen, denn im Reich der Worte gab es keine Bäckersöhne oder Fremde, die ihn merkwürdig anstarrten. Dort konnte er alles selbst bestimmen.
»Lies jetzt«, forderte ihn sein Vater auf. »Krims Rede, so weit warst du gekommen.« Er trommelte mit seinem Zeigefinger auf das Pergament. »In den neuen Siedlungen an der Küste.«
Karain atmete tief ein und ließ die Zeichen zu Worten werden, zu Bildern, und rasch verwandelte sich das Pergament zu einer gewaltigen Ebene, über die mit Speeren und Bogen bewaffnete Krieger ritten. Er roch die Pferde und die geölten Rüstungen, hörte das Trommeln der Hufe auf dem Boden und die heiseren Schreie der kämpfenden Männer. Dann begann er zu lesen:
»Und dort fand der Grausame Trockenfisch, Pelz und Gold. Er ließ seine Männer die Hütten abbrennen, bereicherte sich selbst und zog weiter gen Norden. Die Städte entlang des Meeres waren verlassen, denn ihm voraus eilten seine beiden mächtigsten Krieger: Angst und Hörensagen.«
Karain hörte auf zu lesen. Er sah seinen Vater an.
»Glaubst du, was der Schmied sagt?«
Der Böttcher lächelte und schüttelte den Kopf.
»Er ist abergläubisch, mein Sohn. Darum musst du dich nicht kümmern. Lies weiter.«
Karain suchte die Stelle, an der er aufgehört hatte, und fuhr fort.
»Aber am Rotlaubwald hatten sich die Klans versammelt, wie es bereits geschrieben stand. Ihr Anführer war Von, Großvater und Vater von Von. Ein Kampf, hieß es, und die Götter kämen hinunter und kämpften an ihrer Seite. Unter Krims Männern war Der-Die-Lanze-Trägt, und auf Seiten der Klans kämpften die, deren Namen ich nicht nennen kann. Das Gras war rot, und der Schweiß der Kämpfenden legte sich wie Nebel über das Schlachtfeld, als Krim die Lanze zu Boden legte und zu den Klans sprach. Für drei Tonnen Gold würde er mit seinen Männern nach Norden reiten und das Land zwischen den Bergen, dem Westwald und dem Meer befrieden. Und die Klans holten drei Tonnen Gold, denn sie waren müde und bluteten aus zahllosen Wunden. Das, sagen viele, war der Keim für die Klansfe… feh… Was steht hier?«
Karain deutet auf die Kelszeichen, die ein für ihn unmögliches Wort zu bilden schienen. Vater beugte sich über das Pergament und hielt es unter das Licht der Öllampe.
»Fehden, Klansfehden. Lies weiter.«
Karain las das Wort noch einmal.
»Klansfehden. So kauften sich die Klans und ihre Nachkommen in Krugant von der Belagerung frei. Viele sagen, die Klans hätten durch diese Handlung Scham auf sich geladen, denn sie seien dem Kampf ausgewichen und hätten Deni, den sie ihren Kriegsgott nennen, verhöhnt. Ich sage euch, Er wird sie das nächste Mal, wenn sie in den Kampf ziehen, nicht behüten.«
Karain rollte den obersten Teil des Pergaments ein.
»Hier ist es zu Ende, Vater. Und hier steht…«
»Lies jedes einzelne Zeichen, Karain. Dann verstehst du schon, was da steht.«
Karain hielt es unter das Licht und buchstabierte sich mit einem Krallenfinger durch den Text.
»Niedergeschrieben von N-e-m-h-a-r, Schrift-g-e-1-e-h-r-t-e-r unter H-ø-v-e-r, König von Kels.«
»Das ist richtig.« Vater nahm ihm das Pergament ab und rollte es zusammen. »Schriftgelehrter, wie du bald auch einer sein wirst. Hier in der Stadt können nur wenige schreiben und lesen, Karain, und wenn du erwachsen bist, wirst du das gut gebrauchen können. Die Menschen werden zu dir gehen, um einen Rat zu bekommen. Aber jetzt schlaf. Wir lesen an einem anderen Abend weiter.«
Sein Vater nahm die Öllampe mit und stieg die Treppe hinunter. Karain hörte ihn mit Mutter sprechen, aber er vermochte die leisen Worte nicht zu verstehen. Er kroch unter seine Decke und legte seinen Kopf auf das Sackleinen, das er als Kissen nutzte. Die alten Geschichten ließen in ihm immer das gleiche Gefühl aufkommen, wie wenn er auf der Mole stand und über das Meer blickte. Dort, wo das Meer endete und die Geschichten aufhörten, musste es doch etwas anderes geben – fremde Länder und andere Zeiten. Jetzt begann seine Mutter ein Schlaflied zu singen, wie sie es jeden Abend getan hatte, seit Avn geboren war. Es handelte von den »verschwundenen Drachen«, die vor langer Zeit auf den Ebenen gelebt hatten. Nur Kelsmänner und die Krieger der Ebene glaubten noch immer an diese Sage, aber die Melodie eignete sich gut zum Einschlafen. Karain schaute an die Decke und ließ die Schatten zu Figuren werden, genau wie die Worte auf dem Pergament. Ritter und Schwertträger, mächtige Kämpfe auf der Ebene. Er schloss die Augen und stellte sich vor, einer von ihnen zu sein. Er ritt, einen Bogen auf dem Rücken, einen Dolch unter dem Gürtel und einen Speer in der Hand, über die Hügel. Schneller und schneller ging es im Takt der Hufe, die wie ein Trommelwirbel klangen. Immer schneller, bis er vom Boden abhob, denn das Pferd war verschwunden, er war kein Reiter mehr. Schwarze Schwingen trugen ihn zum Schlachtfeld.
Unmittelbar nach dem Frühstück am nächsten Morgen kam der Zimmermann und berichtete ihnen, dass das Material erst später kommen würde. Das Schiff aus dem Rotlaubwald war noch nicht in Sicht, sagte er, und so gab der Böttcher seinen Söhnen für den Rest des Tages frei. Karain erzählte von seinem Traum, und kurz darauf rannten die Brüder mit ausgestreckten Armen auf dem Innenhof herum und spielten Vögel. Arga war eine große Mantelmöwe, Mir lief in Kreisen umher und streckte seinen Hals wie ein Schwan, und Karain war der Rabe. Als sich der Böttcher über den Lärm beschwerte, führte Karain seine Geschwister auf die Straße hinaus. Sie nahmen den Weg zum Wirtshaus hinunter, wobei sie die ganze Zeit, jeder in seiner eigenen Vogelsprache, herumschrien. Karain wusste, dass zu dieser Zeit des Tages am meisten Leben an den Verkaufsbuden am Kai war, und ging über die Wirtshausgasse direkt zum Hafen hinunter. Als sie den hölzernen Kai betraten, ließen sie die Arme sinken und wurden still. Karain wusste, dass sich viele große Männer an den Buden aufhielten. Hier handelten sowohl Krieger als auch Seeleute, und wenn er Glück hatte und nicht störte, konnte er vielleicht die eine oder andere Geschichte aufschnappen.
Die Brüder verschwanden zwischen ledergekleideten Arern, prahlenden Nordmännern und Rüstung tragenden Kelsmännern. Arga und Mir gingen dicht hinter ihrem Bruder her. Karain lächelte zufrieden, wohl wissend, dass seine Brüder auf ihn angewiesen waren, wenn es darum ging, Geschichten am Hafen mitzubekommen. Er kroch unter einem Tisch hindurch, auf dem Tintenfischarme in der Sonne glitzerten. Auf der anderen Seite stieß er an das Bein eines Nordmannes, der sich zu ihm hinunterbeugte und wie ein Pferd wieherte. Dann leitete er seine Brüder an einem Stapel von Speerschäften vorbei, bis er an einem aufgerollten Tau stehen blieb. Dort war ein Schiff vertäut, auf dessen Deck ein etwa ochsenkarrengroßer, leerer Käfig stand. Hinter der Reling stand ein großer Kretter mit krummem Rücken, der, wie es für reiche Sklavenhändler üblich war, von Kopf bis Fuß in Seide gekleidet war. Er sprach mit einem vornehm gekleideten Tuurer mit einem goldenen Armband, der auf der anderen Seite der Taurolle stand. Karain winkte seine Brüder zu sich, denn die Sklavenhändler waren für gute Geschichten aus fremden Ländern bekannt. Aber an diesem Tag waren sie nicht in der Stimmung für Geschichten.
»Dämonen«, sagte der Tuurer und fingerte an seinem Armband herum. »Sie benützen jetzt Kinder. Sie verstecken sich in ihnen, aber du kannst sie an ihren Gesichtern erkennen. Sie sind ganz verzerrt.«
»Ja«, antwortete der Kretter. »Wie die aufgesprungene Rinde eines Baumes. Widerlich.«
Da bemerkte Karain, dass er von seinen Brüdern betrachtet wurde. Sie zogen an seinem Arm, aber er wollte mehr hören, er hatte Geschichten schon immer so geliebt.
»Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch hier sind«, flüsterte der Mann mit dem goldenen Armband und schielte zwischen den Buden hindurch. Da fiel sein Blick auf Karain, der sich, das Seilende zwischen den Fingern, mit dem Rücken an die Taurolle lehnte. Er sah die Krallenfinger und das behaarte Gesicht und blieb wie festgenagelt auf den Kaiplanken stehen. Dann begann sein Kinn zu zittern, bevor er schluckte und Luft holte.
»Dämonen! Dämonen!«, schrie er aus vollem Hals und stürmte wild gestikulierend und immer wieder auf Karain zurückdeutend mit flatterndem Gewand davon. Und wirklich alle, angefangen von den Seeleuten auf den entferntesten Schiffen bis hin zu den Buden auf der anderen Seite des Marktplatzes, blickten auf Karain und waren still. Das Gerücht von den Dämonen hatte ein Antlitz bekommen.
Noch am gleichen Abend, die Böttcherfamilie saß gerade zum Essen am Tisch, klopfte es an der Tür. Der Böttcher öffnete, und draußen stand das städtische Söldnerheer mit Fackeln und Galgenstrick, ein gutes Dutzend Männer, bezahlt für dieses Jahr. Die Flammen spiegelten sich auf den Schulterplatten und den blank geschliffenen Speerspitzen. Auf der Türschwelle stand der Muru mit gerunzelter Stirn. Seine gebrochene Nase war in Richtung seines linken Ohres verschoben. Er war der Anführer der Soldaten und trug eine knöchellange Rüstung in Rot und Gelb, den Farben des Laag.
»Ihr versteht sicher, was wir tun müssen.« Seine Nasenlöcher weiteten sich, und er deutete auf Karain, der mit seiner Suppenschale am Tisch saß.
»Wir dürfen nichts riskieren.« Seine gelben Augen wurden schmal wie Schießscharten, als er in den Raum trat. Aber der Böttcher stellte sich ihm in den Weg.
»Nein«, sagte er.
Karain konnte sehen, wie der Schweiß von seiner Stirn perlte, und er wusste, wie dreist und gewagt das Vorgehen seines Vaters war. Wer sich dem Stadtheer widersetzte, konnte wegen Aufwiegelei verurteilt werden.
»Wir… Ich…« Der Böttcher stammelte und strich sich mit der Hand über seinen dicken Bauch. »Ich werde mich selbst darum kümmern.«
»Nun«, sagte der Muru und zog die Buchstaben derart in die Länge, dass seine Stimme wie das Schnurren einer Katze klang. Die Schießschartenaugen wurden, wenn das überhaupt möglich war, noch schmaler, als er seinen Blick von Karain abwandte und stattdessen den Böttcher ansah.
Karain war bereit, aufzuspringen und sich vor seinen Vater zu stellen, denn sicher würde der Muru jetzt dem Heer den Befehl geben, seinen Vater zu töten. Aber er lächelte nur und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Bis morgen früh muss das bewerkstelligt sein.«
Und Karain hörte, wie sein Vater versprach, das mit dem Dämon schon zu erledigen, auf dass sich keiner mehr Sorgen machen müsse. Nach diesen Worten verließ der Muru den Raum und verschwand gemeinsam mit seinen Soldaten hinter der Straßenecke.
Ich kann euch sagen, Freunde, dass die Reichen in der Stadt ganz und gar nicht die gleiche Meinung über die dämonischen Gerüchte hatten wie der Böttcher. Sie hatten die Geschehnisse am Hafen mitbekommen und sich ihren Teil gedacht. Der Sohn des Böttchers sah ja nun wirklich aus wie einer dieser berüchtigten Dämonen, von denen die Seeleute erzählt hatten. Ein Missgebildeter, dachten sie, ein vom Teufel besessenes Wesen, das unsere Kornlager vernichten, unsere Schiffe versenken und unsere Kunden verscheuchen kann! Der Böttcher war kein mächtiger Mann; niemand würde sich also auflehnen, wenn sie seinen Sohn hängten. Und bei der Furcht, die in der Stadt vor den Dämonen umging, waren ohnehin wohl die meisten Kruginer der Ansicht, dass es besser war, solche Wesen auszumerzen und kein derart hohes Risiko einzugehen.
Früh am nächsten Morgen traf der Böttcher das städtische Heer draußen vor der Tür.
»Der Dämon, der in meinem Sohn gehaust hat, ist tot«, sagte er und hielt eines von Karains blauen Hemden hoch. Er hatte einen Krug mit Ochsenblut, den seine Frau für Blutwurst geholt hatte, über den Stoff gekippt. Der Muru rieb das Hemd zwischen seinen Fingern, roch daran und schien nicht gerade überzeugt zu sein.
»Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten!« Der Böttcher fuhr sich mit dem Finger über den Hals, um seine blutige Handlung zu unterstreichen. »Die Leiche habe ich heute Nacht mit einem Stein um den Hals im Meer versenkt!«
»Ich glaube dir nicht, Fassbinder!« Der Muru musterte ihn aus schmalen Augen und öffnete die Tür hinter ihm. Dann durchsuchte er alle Räume, während die Frau des Böttchers wortlos am Kamin stand. Schließlich trat er wieder nach draußen.
»Ich kann ihn nicht finden, also hast du wohl die Wahrheit gesagt.« Er klopfte dem Böttcher mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Wenn ich aber herausfinde, dass du lügst…«, er zog seinen Dolch eine Handbreit weit aus der Scheide und zeigte ihm die Klinge, »… dann wirst du der Letzte deiner Familie sein, der auf dem Marktplatz stirbt!« Der Böttcher wartete, bis das Stadtheer hinter dem Hügel in der Wirtshausgasse verschwunden war. Dann ging er ins Haus, verriegelte die Tür, schob den Tisch vor den Kamin und klappte den Teppich zur Seite. Er öffnete die Klapptür zum Keller und half Karain nach oben.
Jetzt begann eine schwierige Zeit für die Böttcherfamilie. Tagsüber hielten sie Karain im Verborgenen, und des Nachts mussten sie aufpassen, dass keiner der Nachbarn Karains Stimme hörte. Der Böttcher glaubte, dass sie nur eine Weile warten müssten und dass Karain sicher wieder zum Vorschein kommen durfte, wenn die Menschen diese wahnwitzigen Gerüchte über Dämonen erst einmal vergessen hatten. Aber in ihrem Innern wussten sie alle, dass es nicht so sein würde. Denn Krugant war vollkommen verändert. Die Neuigkeit, dass der Böttcher seinen Sohn getötet hatte, breitete sich wie ein Heuschreckenschwarm über einem Feld aus, und bald sprach niemand mehr von etwas anderem. Manche erzählten, sie hätten gesehen, wie der Böttcher Karain im Stadtbrunnen ertränkt hätte und dass alle, die von diesem Wasser tranken, selbst besessen sein würden. Andere behaupteten, sie hätten Karains Geist während der Nacht durch die Straßen irren sehen und dass sein Körper eine noch üblere Gestalt angenommen habe, mit Insektenbeinen und leuchtenden grünen Augen. Doch alle waren sich sicher, dass die Dämonen jetzt in Krugant waren.
Seeleute ankerten im Hafen und erzählten von schrecklichen Geschöpfen, die sich in den Siedlungen an der Ostküste angesiedelt hätten und ihre Untaten vollbrachten, indem sie vom Geist der Menschen Besitz ergriffen. Ja, die gleichen Seeleute, die die wundersamsten Geschichten aus fernen Ländern erzählt hatten, redeten jetzt von Untergang und Verderben. In Kajman, nördlich von Tuur, hatte sich ein alter Mann in einem Bierfass ertränkt, und in einem Städtchen im Rotlaubwald hatte ein Schmied seine eigene Schmiede angezündet und sich und seine ganze Familie verbrannt. Niemand konnte sich daran erinnern, dass so etwas jemals zuvor geschehen war, denn jetzt waren es die Dämonen, die an allem Übel schuld waren.
Die Reichen wollten die Furcht vor den Dämonen von der Stadt fern halten, doch indem sie das Stadtheer zum Böttcher entsandten, machten sie einen großen Fehler. Denn jetzt packten die Händler ihre Buden zusammen und setzten die Segel. Zuerst segelten die Kretter davon, sie waren bekannt für ihren Aberglauben, doch dann ruderten auch die Arer in ihren Langschiffen aufs Meer hinaus. Und eines Tages sammelten sich dann die Fonorer auf dem Marktplatz und ritten auf der Ebene davon, gefolgt von den Nordmännern, die sich schnaubend auf den Weg über die Hügel im Norden machten.
Bald blieben nur noch die Kruginer zurück, und jetzt begann die Jagd auf die Dämonen. All der neidische Argwohn, der in den Köpfen der Kruginer gesteckt und leise gegärt hatte, flackerte plötzlich wie ein Feuer voller Hass auf. In der Mühle, in der sich die Menschen getroffen hatten, um Bier oder Wein zu trinken und zu reden und sich über den Kornpreis auszutauschen, schwirrten jetzt die Anschuldigungen über die Tische. Irgendjemand musste ja die Schuld an dem Unglück haben, das die Stadt so plötzlich heimgesucht hatte. Jeder, der nicht so aussah wie alle anderen, der hinkte, nur ein Auge hatte oder sich merkwürdig aufführte, wurde verdächtigt. Viele boten Gold, um mit den Handelsschiffen nach Süden reisen zu können, aber die Seeleute waren nur selten bereit, sie mitzunehmen. Ja, es geschahen grausame Dinge in Krugant, Dinge, über die ich am liebsten nicht sprechen würde. Und während der ganzen Zeit, in der die Menschen auf der Jagd nach dem Schuldigen des Tages durch die Straßen hasteten, war Karain unter der Klapptür im Keller verborgen. Er hörte, was geschah, und des Nachts, wenn er durch die Spalte der Fensterläden lugte, sah er, wie das Stadtheer mit seinen Fackeln die dunklen Nischen absuchte.
Während des Tages schlief er. Seine Träume waren wie immer, er sah Städte, in denen Vögel die Turmspitzen umkreisten. Und er selbst stand auf der höchsten Spitze unter dem Himmel und flatterte mit den Flügeln. Er schrie wie sie und übte – wie ein Möwenjunges – zu fliegen.