Rindengesichter und Löwenzahnwein

 

Die Kruginer konnten Schnee noch nie leiden. Für sie bedeutete der Winter eine Zeit ohne Handel. Da blieb der Hafen leer, und wo sonst Stimmen brodelten, schlugen die Seile an die Masten der festgefrorenen Fischerboote. Der Schnee, der sich auf die Gassen gelegt hatte, durfte in Frieden liegen bleiben. Denn nach der Jagd auf die Dämonen und der Flucht der Händler hielten sich die Menschen am liebsten hinter verschlossenen Türen auf.

Und jetzt bitte ich euch, mich zu verstehen, Freunde. Ärgert euch nicht, grämt euch nicht, denn Karain war niemals verbittert. Sein Vater hatte keine andere Wahl. Die Nachbarn hatten begonnen, sich zu fragen, warum die Böttcherfamilie, die sonst immer so gastfreundlich gewesen war und sie des Abends oft nach Hause zu sich eingeladen hatte, jetzt nach Sonnenuntergang immer ihre Tür verschlossen hatte. Während der ganzen Nacht sahen sie Licht hinter den geschlossenen Fensterläden, und einige waren misstrauisch geworden.

»Karain lebt«, hatte der Bäcker, der auf der anderen Seite der Straße wohnte, behauptet. Er war im Wirtshaus und leerte Krugants letzte Flasche tuurischen Weins. »Sie halten ihn wie eine Ratte versteckt.«

Der Böttcher hatte mit seiner Frau gesprochen. Er wusste, dass Karain verschwinden musste, aber sie konnten nicht mit ihm gehen, denn das Neugeborene war gerade erst fünf Monate alt. Der Böttcher spielte mit dem Gedanken, seine anderen Söhne zu bitten, sich um die Werkstatt zu kümmern, während er mit Karain fortreiste, doch dann fragte er sich, was geschehen würde, wenn der Muru davon erfuhr. Dann würden weder seine Frau noch seine Kinder leben, wenn er zurückkehrte. Sie sahen ein, dass Karain alleine fortreisen musste, und dachten genau nach. Auf der Ebene im Norden und im Osten tobte der Krieg zwischen den Fonorern und den Vonern. Nicht für alles Gold, das sie besaßen, würden sie einen Karawanenführer überreden können, diesen Weg einzuschlagen. Die Schiffe waren bereits fortgesegelt, und wenn nur die Hälfte von dem, was sie hörten, stimmte, war die Furcht vor den Dämonen in den Städten entlang der Ostküste nur noch größer. Der einzige Ort, in den sie ihn schicken konnten, lag im Westen, der Westwald. Es war der Böttcher, der das aussprach, und kaum war der Name dieses düsteren Ortes gefallen, brach Karains Mutter in Tränen aus. Denn der Westwald war bei den Kruginern ebenso gefürchtet wie bei euch. Waldteufel, Erdriesen, all diese fürchterlichen Wesen lebten dort unter den verwachsenen Bäumen. Und weil sich kein Kruginer in den Westwald hineinwagte, war dies der einzige Ort, an den sie Karain schicken konnten. Nach diesem Gespräch ging der Böttcher zum Waffenschmied, legte all seine Goldmünzen auf den Tisch und kaufte ein Schwert, einen guten Bogen, Pfeile und einen Köcher. Er packte einen Rucksack mit Kleidern, Decken und Essen, und seine Frau nähte einen warmen Umhang.

 

An diesem Abend hörte Karain wie jeden Abend das Knirschen der Scharniere der Kellerfalltür. Er hatte fast den ganzen Tag verschlafen, und als ihm sein Vater die Hand entgegenstreckte und ihm hochhalf, erwartete er, den warmen Duft des Haferbreis zu riechen, den seine Mutter in der Regel fertig hatte. Aber es dampfte nicht aus der Schüssel auf dem Tisch. Seine Mutter saß an der Feuerstelle, und weder der Säugling noch seine Brüder waren auf. Vater hängte ihm einen schwarzen Reitumhang um. Als Karain seinen Mund öffnete, um zu fragen, was geschehen sollte, stand seine Mutter auf und kam auf ihn zu.

»Hier ist deine Jacke«, sagte sie und nahm die Winterjacke vom Haken an der Wand. »Und zieh die warme Hose an, die wir letztes Jahr gekauft haben.« Sie half ihm beim Anziehen, bevor sie ihn an sich drückte. »Sei stark«, flüsterte sie und fuhr ihm mit der Hand durchs Haar.

Er spürte, wie sie zitterte, als sie ihn zum letzten Mal an sich drückte. Dann küsste sie ihn auf die Stirn und drehte sich um.

Sein Vater hob den Rucksack auf, der am Kamin lehnte. Dann ging er zum Schlafraum hinüber, zog den Vorhang zur Seite und öffnete die Hintertür.

»Wir müssen jetzt gehen, Karain.« Er ging die Treppe hinunter, und Karain folgte ihm.

Sie umrundeten die Werkstatt und rannten über die alte Koppel. Karain drehte sich ein letztes Mal um und sah seine Mutter winken, und er wusste, dass sie ihm mit ihren Tränen Glück wünschte.

 

Die Wanderung in dieser Nacht war ein besonderes Erlebnis für Karain. Nach Monaten, während derer er im Haus eingesperrt gewesen war, war er nun endlich wieder draußen, und die Freude, die er verspürte, überdeckte alles andere. Er folgte seinem Vater über die schneebedeckten Äcker und spürte die frische Luft im Hals. Der Nachtwind fuhr ihm durchs Haar und brachte den Geruch des Salzwassers mit. Er hörte das Klatschen der Welle an der Mole und das Klackern der Seile an den Masten. Erst als der Himmel verschwand und sich die Dunkelheit über sie senkte, spürte er, dass etwas nicht stimmte.

»Komm«, rief sein Vater und drehte sich, fast unsichtbar in seinem Umhang, zu ihm um. Karain sah ihn an und bekam es mit der Angst zu tun, denn sie waren in den Wald gegangen, den Ort, über den er so viele schreckliche Geschichten gehört hatte. Unmittelbar über seinem Kopf flochten sich die Äste der Bäume ineinander, und von überall her starrten ihn die Bäume mit ihren verunstalteten Gesichtern auf den moosbewachsenen Rinden an. Die Nacht war hier finsterer, und er hatte den Eindruck, als würden Ratten um seine Füße herumhuschen. Die Baumstämme raunten ihm böse Worte zu, und er vermochte sich nicht gegen seine Tränen zu wehren. Aber der Böttcher zog ihn an sich und tröstete ihn.

»Sei jetzt stark, Karain. Du darfst nicht…«

Nie zuvor hatte Karain seinen Vater so traurig erlebt.

»Weine nicht«, sagte er. »Ich bin bei dir.«

 

Sie gingen nicht weiter. An einem Stamm hockten sie sich hin und warteten. Sie sahen niemanden, aber Karain spürte Vaters Fäuste auf seinen Schultern. Mit der Zeit gewöhnte er sich an das Dunkel, und die Gesichter der Baumstämme wurden deutlicher. Sie waren wie grausame Teufel, festgefroren auf der Rinde, mit höhnischem Grinsen und schiefen Augen.

Seine Füße waren kalt, und er zog sie unter seinen Umhang, während einzelne Schneeflocken wie weiße Sterne zwischen den Ästen herabrieselten. Der Böttcher öffnete den Rucksack und zog einen Umhang heraus; es war genau so eine Seemannskutte, wie sie sich Karain zur letzten Sonnenwende gewünscht hatte. Sein Vater zog ein paar Handschuhe aus einer der Taschen und half Karain, sie anzuziehen. Sie waren ganz neu. Karain dachte, dass seine Mutter sie genäht haben musste, denn sie hatten nur drei Finger. Zum Schluss gab der Böttcher seinem Sohn den dicken Lodenschal, den er selbst um den Hals trug, und das Beutelchen mit Feuerstein und Zunder, das immer an seinem Gürtel hing.

»Jetzt siehst du aus wie ein Krieger«, sagte er und streichelte ihm über die Haare. Karain ergriff seine Hände und hielt sie zwischen den seinen fest.

 

Er musste eingeschlafen sein, denn als er erwachte, war er allein. Er lag zusammengerollt unter seiner Kutte, und neben ihm stand sein Rucksack. Das Schwert, der Bogen und der Pfeilköcher lehnten an einem Baumstamm.

Karain nahm die Kutte, rollte sie zusammen und befestigte sie auf dem Rucksack. Es gelang ihm nicht sogleich, denn die Riemen waren festgefroren und für seine Krallenfinger viel zu dünn. Aber er nahm seinen Mund zu Hilfe, wie er es in der Werkstatt gelernt hatte, und befestigte dann das Schwert an seinem Gürtel. Den Bogen nahm er in die eine Hand und hängte sich dann den Köcher mit den Pfeilen über die Schulter. Als er bereit war, stand er einen Augenblick ganz still da und lauschte. Er konnte das Hämmern aus der Schmiede unten am Hafen hören. Die Hunde auf dem Nordhof bellten. Dann drehte er sich um und ging weiter in den Wald hinein.

 

Welche Gedanken gingen Karain an diesem Tag durch den Kopf? Er war zum ersten Mal in seinem Leben allein. Sein Vater hatte ihn in den Westwald geführt und ihn verlassen und ihn damit einem Schicksal übergeben, an das er nicht einmal zu denken wagte. Hier gab es Trolle und Bären und Jäger, die Menschen fraßen. Die Alten erzählten von Bäumen, die den Geist verstorbener Wanderer durch ihre Wurzeln aufgenommen hatten und die verlorenen Seelen für immer festhielten. Während er zwischen den Stämmen hindurchging, schienen die Rindengesichter sein Spiegelbild anzunehmen. Er blickte auf seine verkrüppelten Finger hinab, die den Bogen umklammerten. So sah kein Mensch aus, dachte er. Und sein Gesichter fuhr sich mit seiner anderen Krallenhand über die Oberlippe, wo sich die Scharte bis zur Nase hochzog –, das war nicht das Gesicht eines Menschen.

Bei diesem Gedanken blieb er stehen und drehte sich zur Stadt um. Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht war er wirklich ein Dämon, ein hässlicher, verkrüppelter Teufel. Vielleicht hatte sein Vater ihn deshalb mit hierher genommen, in den Wald der bösen Geister. Karain rückte den Rucksack zurecht und senkte den Kopf; er wollte weitergehen. Nie zuvor war er so einsam gewesen. Es schmerzte in seiner Brust. Doch für ihn gab es keinen Weg zurück. Ging er wieder nach Hause, würde der Muru Mutter und Vater und sicher auch seine Geschwister töten.

 

Karain wusste es selbst nicht, doch der Weg, den er einschlug, führte in eine Schlucht. Unbeabsichtigt hatte er den leichtesten Weg durch den Wald gewählt, und da die Bäume am besten auf den Anhöhen wuchsen, führte Karains Weg immer weiter nach Südwesten in die Schluchtstrecke, die sich einen Tagesmarsch weit erstreckte. Der Wald war so dicht, dass beinahe kein Schnee auf den Boden mit seinen knotigen, verschlungenen Wurzeln und den festgefrorenen Blättern gefallen war. Aber Karain war nicht besonders groß und gelenkig genug, um sich einen Weg durch das Dickicht und die Wurzelfallen zu bahnen. Bald war er unten in der Schlucht, wo sich ein Wildwechsel an den verwelkten Farnkrautbüscheln entlangschlängelte. An beiden Seiten erkannte er die senkrechten Felswände, an deren Oberkanten sich die Bäume mit ihren riesigen, regenwurmgleichen Wurzeln festklammerten.

Er wusste nicht, wie lange er schon am Boden der Schlucht entlanggelaufen war, als er plötzlich bemerkte, dass die Schatten um ihn herum das Dunkel der Nacht angenommen hatten und die Vögel, die den ganzen Tag über in den Baumwipfeln gezwitschert hatten, verstummt waren. Jetzt waren andere Tiere zu hören. Irgendwo im Westen hörte er ein scharfes, schallendes Lachen, und hinter ihm raschelte etwas im Laub. Karain fand unter einem Felsvorsprung Schutz. Dort schob er seine Kappe in den Nacken und band sich seinen Schal um die Hüften. Er ließ den Umhang von seinen Schultern gleiten und öffnete den obersten Knopf seiner Jacke, denn durch das Wandern war ihm warm geworden. Seine Mutter hatte Muster auf die Ärmel und rund um die Knopflöcher gestickt, das konnte er jetzt erkennen. Der goldene Faden leuchtete ihm aus dem Lodengrau entgegen. Hatte sie ihm auch einen guten Segen für seine Reise in die Hose gestickt? Er schob die Jackenschöße beiseite und den einen Fuß über sein Knie. Der Goldfaden zog sich in Bordüren über die Naht bis hinunter zu den hirschledernen Stiefeln, die vor Öl stanken. Vater hat sie richtig getränkt, damit ich keine nassen Füße bekomme, dachte er und zog die Decke aus seinem Rucksack. Unter ihr lag ein Schlauch mit Wasser und darunter ein Leinenbeutel und ein Paar lederne Gamaschen. Er schlang die Decke um sich und trank einen Schluck Wasser, bevor er den Beutel öffnete. Der Duft von getrockneten Äpfeln und gesalzenem Fleisch kitzelte seine Nase. Etwas Besseres kannte er nicht! Er nahm ein Stückchen der gewürzten Tuur-Äpfel. Zu Hause bekam er getrocknetes Obst nur an Neumond, dem Tag, an dem die Handwerker nicht arbeiten müssen.

Zu Hause… Er fragte sich, was sie dort jetzt wohl taten. Ob sie ihn sehr vermissten? Er spürte, wie sich die Schmerzen wieder in seiner Brust einnisteten. Die Kälte der Nacht wurde noch bitterer, und die Geräusche um ihn herum kamen näher. Was bewegte sich dort oben auf der Böschung? War das ein Schatten dort zwischen den Bäumen? Ein Heulen erklang aus dem Norden, und der Schatten fiel in sich zusammen. Karain stand mit der Decke über den Schultern auf und trat auf den Wildwechsel. Direkt über ihm öffnete sich das schneebedeckte Dach der Äste zum Himmel. Wind war aufgekommen, und die hin und her schwingenden Äste warfen kleine Schneehäufchen auf ihn herab.

Dann wurden die Wolken am Himmel weggetrieben, und der Mond schien in die Schlucht hinunter. Der Schatten oben auf der Böschung war kein Schatten. Das Geschöpf stand dicht an der Kante und winkte ihm zu. Seine Arme waren lang wie Ruder, und sein moosbewachsener Kopf war so groß wie der Oberkörper eines ausgewachsenen Mannes. Dann öffneten sich die Kiefer des Riesen, gelbe, faulige Zähne kamen zum Vorschein, und ein gurgelnder Laut ertönte.

Karain fiel das halb zerkaute Apfelstückchen aus dem Mund. Er spürte, wie sich sein Hals zuschnürte. Das Geschöpf hangelte sich an der Felswand herunter. Sein haariger Rücken hatte die Ausmaße eines Ruderboots. Ein Brüllen ließ den Wald erzittern, und das Geschöpf hielt einen Augenblick inne und antwortete. Es klang, als ob hundert verrückt gewordene Hunde gleichzeitig heulten. Das Wesen schloss seinen Ruf mit dem gurgelnden Laut ab und kletterte weiter.

Karain schnappte sich Bogen und Rucksack und hastete davon. Er stolperte ins Dunkel hinein und hörte das dumpfe Dröhnen, als das Geschöpf auf den Boden der Schlucht hinabsprang. Dann war wieder ein Heulen zu hören, und Karain spürte eine Angst, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte, ein Gefühl von Kälte und Hoffnungslosigkeit, das seine Beine schwer und seine Arme schwach werden ließ. Er wusste nicht, warum, doch irgendetwas brachte ihn dazu zu schreien. Hinter ihm knackten die Zweige unter dem Gewicht des vorpreschenden Geschöpfes.

Da stieß er mit dem Fuß an etwas Hartes, stolperte durch die Luft und schlug mit dem Gesicht auf dem Boden auf. Er rollte sich zur Seite und tastete mit der Hand nach seinem Schwert. Das gurgelnde Geräusch war dicht hinter ihm. Die Schritte donnerten im Laub.

Es gelang Karain, seinen Rücken an einem Baumstamm hochzuschieben und das Schwert zu ergreifen. Mit zitternden Händen hielt er die schwere Waffe umklammert. Das Gurgeln wurde zu einem Fauchen, und er wusste, dass sich das Geschöpf bereitmachte, ihn zu töten. Doch da hörte er ein anderes Geräusch, so etwas wie das Stapfen von Füßen.

»Fackeln!«, rief eine Stimme, und plötzlich leuchteten um ihn herum vier Fackeln auf.

»Der ist viel zu groß!«, piepste es von einer der Fackeln, die sich zurückzuziehen begann. »Hasenfuß!«, erwiderte die erste Stimme. »Bul! Den Speer… jetzt!«

In diesem Moment schossen zwei Fackeln nach vorn. Das Fauchen wurde zu einem Brüllen, und Karain hörte die schweren Schritte auf dem Boden.

»Du mieser Troll! Komm zurück!« Die Stimme der ersten Fackel klang ärgerlich. »Gib meinen Schülern wenigstens die Chance, etwas zu lernen!«

Die Schritte wurden leiser, und jetzt war ein neuerliches Heulen zu hören, doch viel weiter entfernt.

Die Fackeln kamen zurück.

»Wir haben es geschafft«, ertönte die piepsige Stimme. »Wir haben es geschafft!«

»Bul und ich haben es geschafft«, antwortete die andere Fackel gereizt. »Du hast dich doch wie üblich wieder ganz im Hintergrund gehalten. Aber das nächste Mal tauschen wir die Plätze, Vile, und dann kannst du dir mal die Zähne ausbeißen.«

 

Ja, Freunde, es waren Loke und seine Schüler, die Karain retteten. Sie hatten den ganzen Weg von Erste Schneeflocke zurückgelegt und fast das Meer erreicht. Es war reiner Zufall, dass sie den Troll auf der Böschung entdeckt hatten, denn eigentlich waren sie dorthin gegangen, um nach Süßwurzeln zu graben, bevor der Frost den Boden zu hart werden ließ. Doch als Loke das Gebrüll hörte, zögerte er nicht. Er brachte Bile, Vile und Bul dazu, ihre Fackeln zu entzünden und sich mit ihren Umhängen zu tarnen. Dann rannten sie auf das Geräusch zu und überraschten den Erdriesen mit den Flammen, die er fürchtete wie sonst nichts auf der Welt.

Karain vermochte sich, noch immer steif vor Angst, nicht zu bewegen. Die Waldgeister stapelten ein paar Zweige übereinander, zündeten sie an und hatten bald unmittelbar neben ihm ihren Lagerplatz aufgeschlagen. Sie saßen still da, während die Flammen ihre Gesichter erhellten. Karain, der soeben dem schrecklichsten Geschöpf entkommen war, von dem jemals in den Geschichten Krugants die Rede gewesen war, war nicht minder überrascht über die kleinen Moosmänner. Und die Waldgeister schielten zu ihm empor und fragten sich, was Karain für ein Wesen war, denn er ähnelte keinem Geschöpf, das sie zuvor gesehen hatten. Deshalb blieben sie einfach alle, wo sie waren: Karain mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen und die Waldgeister mit misstrauisch gerunzelter Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen über ihren buschigen Bärten.

Schließlich sagte Loke:

»Ich glaube, er ist ein Hässling.« Und auch wenn Karain glaubte, der Moosmann sei der Ansicht, er sei hässlich, war das wirklich nicht das, was Loke meinte. Denn die Waldgeister haben zwei Namen für uns Menschen: Hässlinge und Das Große Volk.

»Hässlinge haben keine Federn im Gesicht«, sagte Bile, und dann begannen sich die Waldgeister zu streiten, was für ein Wesen Karain war. Und Karain sah ihnen dabei zu und erkannte, dass sie ihm nichts Böses wollten. Sie hatten ihre Speere zu Boden gelegt, und Karain musste sich eingestehen, dass er die kleinen Krieger eigentlich recht nett fand. Schließlich kam Loke auf die Idee, das Geschöpf zu fragen, was es sei; so könnten sie dann auch herausfinden, ob es sprechen könne.

Loke beugte sich dicht über das Feuer und drehte sein hell erleuchtetes Gesicht zu Karain hoch.

»Ein Troll bist du nicht, denn Trolle fressen die ihren nicht. Bist du ein Teufel oder sonst irgendwie gefährlich?«

Karain fühlte, dass er jetzt etwas sagen sollte, denn die vier Moosmänner starrten ihn über das Feuer hinweg an – und eines kann ich euch sagen, Freunde, ein Waldgeist kann selbst den wildesten Stier in Grund und Boden starren, wenn er es will.

»Ich bin Karain«, sagte Karain, denn das war das Einzige, was ihm in dieser Situation einfiel.

»Ein Karain«, sagte Loke bedeutungsschwer und nickte den anderen zu. »Und was macht ein Karain hier draußen in der Nacht? Trollfutter spielen?«

»Trollfutter?«, wiederholte Karain und versteckte seine Hände unter seinen Achseln. Er wollte auf keinen Fall, dass sie glaubten, er sei ein Teufel. »Ich… Ich weiß nicht.«

»Der Karein weiß es nicht«, wiederholte Loke.

»Nein«, sagte Karain. Er konnte es nicht leiden, wenn sein Name falsch ausgesprochen wurde, denn er war nach seinem Großvater benannt. »Nicht Karein! Karain. Ich heiße Karain!«

Loke kratzte sich am Bart.

»Ich glaube…«, sagte er und schob sich seinen Hut in den Nacken, »du sprichst in der Sprache der Hässlinge… Du bist einer vom Großen Volk! Aber der Wundersamste, den ich seit langem gesehen habe.«

Karain lächelte, denn obgleich ihn der Moosmann wieder Hässling genannt hatte, hatte es freundlich geklungen.

»Vielleicht hat er Hunger«, sagte Bile und schnürte seinen Essenssack auf. »Ich habe noch ein paar Steinpilze…«

Er reichte Vile einen eingetrockneten Pilz, und Vile gab ihn an Karain weiter.

»Das ist das Beste, was ich hab.« Bile lächelte und rieb sich die Nase. »Du kannst ihn so essen, wie er ist, ich habe ihn bereits gegrillt.«

Karain betastete den dunklen Pilz. Wenigstens waren keine Madenlöcher zu erkennen, dachte er und nahm einen Bissen. Es war nicht gerade das Beste, was er bisher gegessen hatte, doch das schwammige Pilzfleisch schmeckte nicht schlecht. Er schluckte und nahm einen weiteren Bissen, während sich die Waldgeister vergnügt anschauten.

»Woher kommst du?«, fragte Loke, während er seinen Grillstab und ein paar Trüffel aus seinem Sack kramte.

»Aus Krugant.« Karain hatte einen weiteren Bissen im Mund und spürte, dass Steinpilze wahrhaft sättigend waren.

»Aha«, sagte Loke und spießte vier dicke Trüffel auf seinen Stecken. Er hatte einen interessanten Gedanken, der den Plan vielleicht einfacher werden ließ.

»Was du nicht sagst! Vielleicht kannst du uns bei etwas helfen?«

Da fiel ihm Bul ins Wort.

»Nein«, rief er, »das geht nicht. Wir können doch keinen Hässling mitnehmen. Nur… du weißt schon, wenn sie alt sind.«

Loke zog seinen Mund zusammen und kratzte sich am Bart.

»Wohin willst du?« Er deutete mit seinem Stecken auf Karain. »Warum bist du hier im Wald? Die meisten Kruginer leben doch in der Stadt.«

»Ich… gestern… der Muru…«, sagte Karain, und die Moosmänner starrten ihn nur noch mehr an. Loke, der ein kluger Waldgeist war, sagte, dass die Hässlinge oft große und schwierige Gedanken in ihren Köpfen hätten.

Er trat zu Karain und legte ihm seine Hand auf den Unterarm.

»Wir sind keine bösen Wesen, was man auch immer in der Stadt behauptet. Wir wollen dir nichts Böses.«

Er brachte Karain dazu, seine Hände unter den Achseln hervorzuholen, und nahm seine krallenartigen Finger in die seinen.

»Ich verstehe«, sagte Loke und schaute sich Karains Hände genauer an. Er beugte die Fingerglieder vor und zurück, betastete die scharfen Nägel und die schuppenartige Haut.

»Und jetzt solltest du uns erklären, warum du hier bist. Danach kannst du ein bisschen schlafen. Wir werden aufpassen und das Feuer hüten.«

Und dann erzählte Karain, was alles geschehen war, seit das erste Gerücht aufgekommen war. Er erzählte vom Muru und dem Stadtheer und von der Zeit, die er versteckt im Keller verbracht hatte. Er ließ nichts aus, bis hin zu diesem Wesen, das ihn verfolgt und durch die Dunkelheit gejagt hatte.

»Das war ein Troll«, sagte Loke. »Die gefährlichsten Wesen im Westwald. Gut für dich, dass wir hier waren.«

Vile und Bile hatten den Krug mit dem Löwenzahnwein aus Lokes Sack geholt, und jetzt kamen sie zu Karain und reichten ihm das Gefäß.

»Das tut gut, um den Trollschrecken aus deinem Körper zu verjagen«, sagte Vile, der Erfahrung in so etwas hatte.

Karain setzte den Krug an die Lippen und trank einen großen Schluck. Zuerst schmeckte er einfach nur bitteres Wasser, doch dann begann sein Hals zu brennen. Er prustete das letzte bisschen, das noch in seinem Mund verblieben war, durch die Lippen über das Feuer, wo es hell aufloderte, und Vile und Bile klatschten sich vor Lachen auf die Schenkel und fielen nach hinten um.

Loke sah sie streng an und nahm den Krug.

»Kümmer dich nicht um sie.« Er drückte den Korken in den Hals des Kruges. »Sie werden wohl nie Weißbärte werden.«

Karain wischte sich den Mund ab. Die zwei Moosmänner kugelten sich im Laub herum.

»Sag jetzt«, fragte Loke und sah ihn wieder an, »wo willst du hin?«

»Ich weiß nicht.« Karain sagte die Wahrheit.

»Kannst du segeln?«, fragte Loke.

»Segeln?« Karain verstand nicht, warum er das fragte.

»Ja, kannst du ein Boottier über das Meer leiten?« Loke schwang mit dem Oberkörper vor und zurück, wobei er mit den Händen Wellenbewegungen machte.

»Ich bin bei gutem Wetter ein bisschen im Hafen herumgesegelt«, sagte Karain. »Vater hat ein Ruderboot mit Mast und Ruderbaum.« Er senkte den Blick. Die Erinnerungen an die glücklichen Tage vor der Dämonenjagd legten sich schwer auf seine Lider. Er erinnerte sich daran, wie er auf der Kante der Kaimauer gesessen und zugesehen hatte, wie die Seeleute ihre Schiffe sicher an der Mole vorbeimanövriert hatten.

»Du kennst also die Launen der Boottiere und weißt sie zu zügeln?« Loke strich seinen Bart über seine Brust und sah ihn eindringlich an.

»Launen?« Karain schluckte. Die starrenden Augen des Moosmannes hielten ihn fest. »Nein, ich segel nicht wie ein Kelsmann, wenn es das ist, was du meinst! Ich bin nur ein bisschen im Schutz der Mole hin und her gekreuzt.«

»Gekreuzt?« Loke setzte den Krug auf seine Knie und nickte vor sich hin. »Das hört sich gut an. Morgen Nacht schleichen wir uns in die Stadt und stehlen ein Boottier, und dann segelst du uns nach Süden.«

»Nein, das ist kein Guter Plan.« Bul schüttelte den Kopf. »Das ist gegen die Regeln.«

»Regeln?« Loke zog die Augenbrauen hoch und runzelte die Stirn. »Wo hast du das denn her?«

»Die Alten sagen…«, versuchte sich Bul.

»Wir können das Hässlingkind doch nicht hier lassen, wo in ein paar Tagen die Trollzeit beginnt! Nein, und außerdem kann keiner von uns segeln, und Boottiere müssen gesegelt werden, so viel habe ich verstanden. Das ist wie mit den Pferden; sie müssen von jemandem geleitet werden, der sich damit auskennt.«

Loke klappte seinen Bart nach unten, der sich beim Sprechen wieder hochgebogen hatte. Er war mit dem Großen Plan jetzt zufrieden und wollte keine weiteren Einwände hören. Der Trolljäger nahm die Decken seiner Lehrlinge und gab sie gemeinsam mit der seinen Karain.

Bul bewachte den nördlichen Eingang der Schlucht und Bile den im Süden. Loke und Vile blieben am Feuer sitzen und summten leise. Obgleich die Decken der Waldgeister klein waren, wärmten sie gut, und bald hatte Karain sowohl Trolle als auch Boottiere vergessen. Auf der anderen Seite der Flammen saßen die beiden Moosmänner mit geschlossenen Augen. Sie summten einander zu, wie wenn sie sprächen, mit fragenden Lauten, traurigen Tönen und Geräuschen, die er nicht verstand.