Die Verwandlung

 

Die Flammen fraßen sich durch die Äste empor. Karain spürte den Qualm in den Augen, und wenn er die Lider schloss, rannen Tränen über seine Wangen. Er zerrte an seinen Fesseln und schnürte damit den Waldgeistern nur noch mehr die Luft ab. Das Mädchen, sie hatte nackte Beine, begann zu schreien.

Er schob seine Beine zu ihr hinüber und trat ihr gegen die Waden.

»Hier! Stell dich auf meine Stiefel!«

Sie sah ihn mit weit aufgerissenen, tränennassen Augen durch den Rauch an. Karain spürte ihr Gewicht auf seinen Stiefelspitzen. Unter ihm begann der Scheiterhaufen zu knacken. Durch das Knistern der Flammen und das Geschrei der Menschen hörte er die Waldgeister singen. Die gleichen Worte, wieder und wieder, wie ein Gebet. Es wird nicht lange dauern, dachte er, als die Flammen an seinen Beinen emporleckten.

 

Es geschah so rasch. Karain konnte nie richtig erklären, was mit ihm passierte. Er hörte Flügelschläge, viele Flügelschläge. Er sah schwarze Gestalten wie fallende Sterne vom Himmel durch den Rauch nach unten stürzen. Das Tau löste sich, und Krallen kratzten an seinen Schultern und Händen. Dann wurde er vom Feuer emporgehoben und schwebte aus den Flammen hinaus. Neben sich sah er die Waldgeister, die wie Fische in den Krallen der Raben hingen, die in einem Schwarm um sie herumflogen. Auch das Mädchen wurde auf gleiche Weise getragen, und jetzt schmerzten seine Arme wie niemals zuvor. Die Raben flogen mit ihm hoch über das Feuer, während die Schaulustigen aus Furcht vor dem Angriff des größten Vogelschwarms, den sie je zu Gesicht bekommen hatten, eilig das Weite suchten. Es waren Möwen, Falken, Stare und kleinere Vögel. Ja sogar Hühner und Gänse kamen schnatternd über die Straße gewatschelt, um bei dem Angriff mitzuwirken. In ihrer Panik hatten die Kretter den Wagen, auf dem das Mädchen zum Scheiterhaufen gebracht worden war, stehen lassen. Die Raben setzten Karain und die Waldgeister darauf ab.

»Schon wieder ein Wagen«, sagte Vile, als Karain auf den Kutschbock kletterte. »Wo soll das nur enden?«

Nur weg hier, dachte Karain und trieb das Pferd an. Es wieherte und bäumte sich im Zaumzeug auf, bevor es davongaloppierte, sodass die Waldgeister wild durcheinander purzelten. Karain verwendete die Zügel am ehesten, um sich daran festzuhalten, denn das Pferd schien den Weg aus der Stadt hinaus zu kennen. Der Wagen schoss an Buden und nach ihm greifenden Händen vorbei und holperte dann in einer kleinen Gasse über einen Stapel mit Früchten. Schließlich kamen sie auf einen lehmigen Weg, auf dem ein Mann versuchte, das Zaumzeug zu packen. Seine Schreie erstickten im Matsch, als die Räder über ihn hinwegrollten. Dann führte ihr Weg an einem Platz mit Zelten vorbei, bis sie schließlich die Stadt hinter sich gelassen und Gras unter den Rädern hatten.

»Das ist die falsche Richtung, Karain!« Loke kletterte an seine Seite. »Dreh um!« Er zeigte über den Kopf des Pferdes, wo die Landschaft direkt in den Himmel überging.

Karain wurde sich plötzlich bewusst, dass er nie zuvor einen Wagen gelenkt hatte. Er war nicht einmal geritten. Aber er erinnerte sich an einen Sommer, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und ihn ein Fonorer auf seinem Pferd hatte sitzen lassen. Was hatte er noch gesagt? Was hatte der Krieger mit dem Panzerhemd gesagt, um die Richtung zu ändern?

»Tu was!« Loke saß rittlings auf dem Bock, und sein Bart flatterte im Wind.

Karain riss an den Zügeln, aber das Pferd galoppierte weiter. Die Steilküste kam ihnen rasend schnell entgegen. Er schloss die Augen und versuchte sich daran zu erinnern, was der Fonorer gesagt hatte. »Zieh an den Zügeln«, hatte er gesagt. »Rechter Zügel, linker Zügel…« Der Fonorer hatte Handschuhe mit Bronzenägeln getragen, in denen die aus rotem Leder geflochtenen Zügel wie dünne Schnürchen ausgesehen hatten. »Nach links, Junge, weißt du, wo links ist?«

Karain zog so fest er nur konnte mit seinem linken Arm, und das Pferd brach zur Seite aus. Loke verschwand nach hinten und schlug auf dem Karren auf, als der Wagen in der Kurve auf zwei Räder kippte. Mit einem lauten Knacken kippte er wieder zurück und raste weiter an der Steilküste entlang. Karain klemmte seine Beine unter den Bock und straffte die Zügel. Vor ihnen war der Boden so weit er sehen konnte eben und flach. Er trieb das Pferd an, und bald waren sie an der Stadt vorbei.

Schließlich erreichte der Wagen die Anhöhe, die Krett umgibt. Von hier aus konnte er die Straßen gut überblicken. Die Vögel segelten über der Stadt wie ein Bienenschwarm über einem Topf Honig. Unmittelbar neben der Richtstätte hatte ein Haus Feuer gefangen, und die Kretter rannten mit Eimern und Wasserschläuchen wild hin und her. Im Süden trabte ein führerloser Ochsenkarren aus der Stadt.

 

Karain ließ das Pferd mit lockeren Zügeln laufen. Nach einer Weile gelang es Loke wieder, neben ihn zu krabbeln.

»Gut.« Der Waldgeist setzte sich vorsichtig auf den Bock. »Jetzt immer geradeaus, dann kommen wir dorthin, wo die Rote Runde Wurzel wächst.«

Er deutete über die Ebene, die vor ihnen lag und auf der der Bodennebel Erde und Himmel zu einem grauweißen Elfenland verschmelzen ließ.

Karain warf einen Blick über seine Schulter. Noch immer kreisten die Vögel über der Stadt. Niemand folgte ihnen, und er glaubte, dass die Kretter genug damit zu tun hatten, die Vögel fern zu halten. Vögel waren schlimm wie Wölfe, wenn sie es nur wollten. Zu Hause hatte er gesehen, wie Möwen die Köpfe der Seeleute verletzen konnten. Aber dort waren es immer nur wenige zur gleichen Zeit, und sie griffen nur dann an, wenn die Seeleute versuchten, ihnen die Eier am Rande der Mole aus den Nestern zu stehlen. Schwärme wie diesen hatte er noch nie gesehen. Und warum hatten sie die Waldgeister, ihn und das Mädchen aus den Flammen gerettet? Er blickte in den Wagen zurück. Die Waldgeister verbargen ihre versengten Bärte unter ihren Händen. Vile weinte, und Bile hatte den Arm um die Schultern seines Bruders gelegt. Sie schienen genug mit sich und ihrem verlorenen Bartschmuck zu tun zu haben. Aber das Mädchen starrte ihn an, als hätte sie so etwas wie ihn noch nie gesehen.

Karain widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Landschaft vor sich. Der Boden war flach wie das Meer bei Windstille. Er konnte das Pferd einfach laufen lassen.

»Ich glaube nicht, dass sie uns verfolgen.« Er sah zu Loke hinunter. »Wir haben schon viel Vorsprung.«

Loke schob sich seinen Hut wieder in den Nacken und atmete aus. »Das war knapp. Glaubst du…«

Karain hörte nichts mehr. Loke saß da, als hätten sich die Worte in seinem Mund verklemmt. Seine Augen fielen ihm schier aus dem Kopf, so sehr starrte er ihn an.

Der Waldgeist hob den Arm und zeigte mit zitternden Fingern auf ihn.

»Dein Gesicht«, flüsterte er. »Du bist… Es ist etwas geschehen!«

Karain nahm beide Zügel in eine Hand und fasste sich an den Kopf. Seine Krallenfinger konnten die kurzen Haare nicht fühlen. Merkwürdig war nur, dass er in diesem Moment nicht aufschrie, denn auf eine seltsame, unerklärliche Weise fühlte sich das, was geschehen war, für ihn richtig an. Er strich sich mit der Hand über die Federn, die Stirn und Wangen bedeckten, hart und kurz an Nase und Mund, doch weich und lang wie Fasanenfedern auf dem Kopf und im Nacken. Jetzt verstand er, warum es unter der Haut so geschmerzt hatte. Er schob die Ärmel seines Hemdes hoch. Die Federn führten an seinen Armen empor, und wenn er die Krallenfinger spreizte, breiteten sie sich aus. Sie waren einen Fuß lang und schwarz. Deshalb hatten sie ihn also aus den Flammen gerettet. Sie hatten einem der ihren geholfen!

 

Loke und Karain saßen den Rest des Tages still nebeneinander und ließen das Pferd den Wagen in Richtung Horizont ziehen. Karain strich sich über das Gesicht, um Augen und Mund herum und über die Federn, die Ohren und Nacken verdeckten. Als er die Zügel anzog und vom Kutschbock zu Boden sprang, spürte er, dass auch seine Beine von den Schenkeln bis ganz nach unten Federn trugen. Nur sein Oberkörper war wie früher, wenn man vom obersten Teil seines Rückens absah, auf dem die Federn am längsten waren. Aber er war genauso schwer, und er, der er so oft davon geträumt hatte, fliegen zu können, begriff, dass das ein Traum bleiben würde. Als die Waldgeister und das Mädchen aus dem Wagen kletterten, trat er zum Pferd vor. Er tätschelte ihm den Kopf und löste das Zaumzeug, damit es grasen konnte. Der Schnee lag hier nur noch einen Fingerbreit hoch, und die Wagenspuren liefen wie grüne Streifen über das Weiß. Es sollte keine Probleme haben, etwas zu fressen zu finden.

»Karain!« Bile zupfte ihn am Hosenbein. Vile und Bul standen neben ihm. »Was ist passiert?«

Er hockte sich hin und ließ die Waldgeister sein Gesicht berühren. Die Federn zogen sich zusammen, wenn sie sie anfassten. Sie waren tief in der Haut verankert.

»Du bist ein Vogel geworden!« Vile machte große Augen. »Wie hast du das geschafft?«

»Sind uns deshalb die Raben zu Hilfe gekommen?« Bile sah zu den Wolken hinauf, als erwartete er, dort noch mehr Vögel zu erblicken.

Karain wusste nicht, was er sagen sollte. Es war wie ein Traum für ihn. Er zwinkerte den Waldgeistern zu und wartete fast darauf, neben seinen Brüdern auf dem Dachboden seines Elternhauses aufzuwachen und einen neuen Arbeitstag anzugehen.

»Lasst ihn in Ruhe!« Loke schob sich hinter sie und legte seine Hand auf die von Karain.

»Ich glaube, ich verstehe das«, sagte er. »Ich habe von Hässlingen wie dir gehört. Deine Rasse ist nicht so festgelegt wie die Erdriesen oder wir. Ihr könnt so vieles in euch haben. Deshalb habe ich immer, wenn ich mit den anderen Trolljägern gesprochen habe, gesagt: Die Zeit der Erdriesen gehört der Vergangenheit an. Die Waldteufel waren nie zahlreich genug. Das Volk der Großen wird die Welt regieren, wenn sich die Zeiten ändern.«

Karain blickte zu Boden. Seine Worte waren wahr. Eine Gewissheit über die kommenden Zeiten. Konnte der Trolljäger auch wissen, was mit ihm geschah? Konnte er das erklären? Karain schloss die Augen und wendete sich ab. Er kratzte mit seinen Krallen über das hölzerne Gestell des Wagens; sie waren spitz und dick wie Rabenkrallen. Jetzt war er wirklich der Dämon, für den sie ihn gehalten hatten.

»Bist du der Vogelmann?«

Karain zuckte zusammen. Das Mädchen saß vor ihm im Wagen. Er hatte sie vollkommen vergessen, doch jetzt hockte sie in ihrem zerlumpten Lodenumhang da und schaute ihn durch ihre verfilzten Haare an.

»Als unsere Hände zusammengebunden waren, habe ich gespürt, wie aus deinen Fingern die Federn gewachsen sind.«

Sie rollte sich auf die Seite und kroch wie eine Katze vor. Dann sprang sie vom Wagen herunter. Karain trat einen Schritt zurück.

»Wir haben auf den Nächsten gewartet.«

»Auf wen?«, fragte Karain verwundert. Er mochte die Art nicht, mit der sie sich ihm näherte, und verstand nicht, wovon sie sprach.

»Na, den Vogelmann!« Sie reckte den Hals und ahmte den Schrei eines Vogels nach. Karain sah, wie sich ihre Brüste unter ihrem Umhang abzeichneten, und blickte weg.

»Du hast mich mit deiner Verwandlung gerettet, weißt du!«

Er spürte, wie seine Nackenmuskeln zuckten. Konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen?

Die Waldgeister hatten einen Steinwurf entfernt einen Ast im Schnee entdeckt und sprangen darauf herum, um ihn zu untersuchen. Loke winkte ihm zu, und Karain lächelte zurück. Ja, sie brauchten alles Brennbare, das sie hier draußen finden konnten. Er bemerkte, dass sich die Nacht langsam herabsenkte. Die Farbe des Himmels war von Grau in Schwarz übergegangen, und jetzt spürte er auch die Kälte, die langsam über den Boden zu ihnen kroch.

»Wie alt bist du?«

Das Mädchen hatte sich jetzt an seine Seite geschoben. Sie zupfte an seiner Jacke und spielte mit ihrem Zeigefinger an der Naht auf seiner Schulter.

Karain versuchte, seine Stirn zu runzeln; er hatte gelernt, das zu tun, wenn jemand dumm fragte, doch dann wurde ihm klar, dass sein Gesicht dank all der Federn vollkommen ausdruckslos für sie sein musste.

»Eineinhalb Jahrzehnte«, log er.

Sie kratzte sich in den Haaren und verschränkte die Arme vor der Brust.

Karain sah, dass unter ihrem Scheitel angetrocknetes Blut klebte.

»Warum haben sie dich gefangen genommen?«, rutschte es ihm heraus. Er wusste nicht warum, denn eigentlich wollte er das gar nicht wissen. Auch wenn er jung genug war, um sich älter zu machen, war er doch nicht mehr so jung, um nichts darüber zu wissen. Er wollte nicht hören, was die Kretter mit ihr gemacht hatten.

»Ich bin ins Meer gefallen.« Sie legte ihre Hand auf das Wagengestell und lächelte wieder.

Was gab es da zu lächeln?, fragte sich Karain, während er ihre schmale Hand anstarrte. Ihre Finger umklammerten den runden Holm, und er bemerkte, wie sicher ihr Griff war, wie gut die Haut das Material umschloss. Sie war ein Mensch, sie war so, wie Menschen zu sein hatten. Sie war ein Mädchen. Noch nie zuvor hatte er mit Mädchen gesprochen.

»Ich war mit Vater und einigen anderen auf See. Beim Hai-Fischen. Das letzte Mal, ehe die Winterstürme begannen.« Sie trat mit ihrem nackten Fuß in den Schnee und legte wieder die Arme um sich.

»Aber die Stürme kamen in diesem Jahr früh. Vor ein paar Tagen überraschte uns das Unwetter. Ich wurde über Bord gespült, als ich mich mit Vater an den Mast binden wollte. Unmittelbar hier vor der Küste. Ich überlebte und wurde mit der Strömung in den Hafen der Kretter gespült.«

Karain schaute von ihrer Hand auf und sah ihr ins Gesicht, wo Mund und Augen um seine Aufmerksamkeit konkurrierten. Sie schüttelte den Kopf und spuckte in den Schnee.

»Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich lieber ertrunken. Diese Kretterschweine! Aber sie haben mich nicht angefasst. Sie glaubten, ich sei eine Opfergabe von Vener, dem zwölften Tarkin, ihrem Sturmgott.«

Karain meinte, etwas sagen zu müssen, nachdem sie so viel erzählt hatte. Außerdem hatte sie den Mund geschlossen und seinen Blick mit ihren braunen Augen gefesselt. Seine Nackenmuskeln spannten sich an.

»Wie… Wie heißt du?« Karain lächelte zufrieden unter seinen Federn. Das war immer eine gute Frage.

»Kirgit!« Sie spuckte den Namen aus. »Ich komme aus der Felsenburg. Im Nordwesten von hier. Am Fuße der Lanzenberge.«

»Oh«, sagte Karain. Von diesem Ort hatte er noch nie gehört.

Da krachte es am Wagen. Karain drehte sich ruckartig um und erwartete fast, einen Pfeil der Kretter im Holz des Wagens zittern zu sehen. »Brennholz«, erklärte Loke grinsend. Er war mit Bul auf die Ladefläche geklettert und hielt ihnen ein Stück Planke entgegen.

»Das ist Holz hier!« Bul half ihm das Holzstück in den Ritzen der Wagenseiten zu verkeilen und dann noch ein Stück abzubrechen. Bile und Vile sammelten unten die Holzstückchen ein. Bul warf ihnen ein weiteres Stück hinunter, das Vile mit einem hohlen Laut am Kopf traf.

»Wer sind die?« Kirgit fasst Karain am Arm und flüsterte. Sie hatte ihn angefasst! Karain vermochte sich nicht zu bewegen.

»Die Kleinen, wer sind die?«

»Wer?« Karain spürte ihre Finger auf seinen Federn.

»Wir sind wir!« Loke wedelte mit einem Stück Holz vor seiner Nase herum und zwinkerte. Er hatte gehört, worüber sie gesprochen hatten, und stand breitbeinig mit dem Stück Holz in seinen Händen da.

»Wir hören besser als das Volk der Großen«, erklärte er Kirgit. »Waldgeister sind wir, für die Unwissenden auch Moosmänner. Wir sind weit von unserem Wald entfernt, aber ich glaube, jetzt sind wir wieder auf dem richtigen Weg.«

»Welchem Weg?« Kirgit zog die Augenbrauen hoch. Sie war wirklich ungewöhnlich neugierig, dachte Karain. Doch jetzt erfuhr sie mehr, als sie behalten konnte. Loke holte weit aus, erzählte vom Gamle mit den Pilz-Schmerzen, von der Roten Runden Wurzel, dem Boottier und vom Sturm und all dem anderen, das sie erlebt hatten, seit sie von Erste Schneeflocke aufgebrochen waren. Als er fertig war, drehte er sich um und fuhr damit fort, die Seitenverkleidung des Wagens zu zerbrechen.

Kirgit klimperte mit den Augen und feuchtete mit der Zunge ihre Lippen an. Sie kratzte sich an dem blutigen Schorf auf ihrem Kopf. Es schien Karain so, als habe sie erst einmal genug Antworten bekommen. Sie hockte sich wie ein alter Mann hin, hielt sich aber ihre Hände vor ihre Brüste. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie frieren musste. Er selbst hatte über so vieles nachdenken müssen – seine Federn und all das –, dass er nicht daran gedacht hatte. Doch Kirgit trug einzig und allein diesen zerlumpten Lodenumhang. Sie zog ihre Zehen an und hatte eine Gänsehaut auf Hals und Nacken.

»Frierst du?«, fragte er, und begriff sofort, wie dumm seine Frage wirken musste. Sie lächelte mit zusammengebissenen Zähnen.

Karain löste seinen Umhang und die Decke, die er sich um den Hals gebunden hatte. Jetzt war er froh darüber, dass Loke ihm geraten hatte, sie so festzubinden, denn sonst wäre sie abgefallen, als die Kretter sie durch die Straßen gezerrt hatten. Er reichte ihr die wärmenden Sachen.

»Ein bisschen schmutzig ist er ja, mein Umhang.« Er glaubte sich entschuldigen zu müssen, aber es war auch wirklich peinlich, dass er nicht bemerkt hatte, wie sie fror.

Kirgit wickelte sich so gut es ging darin ein, doch ihre Füße waren noch immer nackt.

Karain schaute zum Wagen hoch, um zu zeigen, dass er gerne helfen würde. Wenn er doch nur seinen Rucksack hätte! Als er ihn in der Schlucht bei Krugant geöffnet hatte, war ihm unter dem Wasserschlauch ein Paar lederne Strümpfe aufgefallen.

»Das macht nichts«, sagte sie.

Karain setzte sich auf die Ladefläche des Wagens und löste die Schnur, mit der seine Stiefel um seine Beine gewickelt waren.

»Du kannst meine bekommen.«

»Nein…« Kirgit sah sehnsüchtig auf seine Stiefel, während sie sprach. »Das kann ich nicht annehmen. Du bist doch der Vogelmann. Das kann ich nicht…«

Wieder dieser Name, dachte Karain. Mein Volk hat auf den Nächsten gewartet, hatte sie gesagt. Was meinte sie damit? Doch bevor er sie fragen konnte, war Loke wieder zur Stelle. Er warf Kirgit seinen Hut zu, und unten auf dem Boden stand Vile mit dem seinen in den Händen.

»Die sind warm.« Lachfalten rahmten seine Augen ein. »Und Hässlingfüße sind ungefähr so groß wie Waldgeisterköpfe, glaube ich.«

Loke durchsuchte seine Hosentaschen und zog eine lange, geflochtene Schnur heraus, die um einen Fichtenzapfen gewickelt war. Bul trat die letzte Planke los und reichte Loke seinen Speer, der damit ein gut ellenlanges Stück von der Schnur abtrennte.

Kirgit zog die Hüte über ihre Füße und band sie an den Unterschenkeln fest.

»Die sind gut!« Sie ging ein paar Schritte durch den Schnee und hüpfte dann neckend um Karain herum.

»Jetzt sollen die Kretter nur kommen, ich werde ihnen allen weglaufen.«

Sie stampfte neben ihm in den Schnee und rannte einmal um den Wagen herum. Als sie sah, wie die Waldgeister sie anstarrten, setzte sie sich dicht neben Karain. Karain zuckte zusammen und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Also blieb er wie eine Stütze sitzen, während Kirgit ihren Kopf an seine Schulter lehnte, um zu schlafen.

 

Tenn, du lachst. Für dich, der du hier in der Felsenburg geboren bist, ist es ungewöhnlich, deine Gefühle zu verbergen. Ihr nehmt euch gerne in den Arm und mögt es, das Herz und den Atem anderer Menschen zu spüren. So seid ihr zu allen, die ihr für eure Freunde haltet. Aber Karain war noch immer ein Kruginer, und die Kruginer verbergen sowohl Trauer als auch Glück tief in ihrem Innern. Und Kirgit war ein Mädchen. Eine Frau. Und ich sage es, wie es ist: Die Liebe zwischen Karain und Kirgit begann bereits dort. Denn Kirgit hatte ihr ganzes Leben den Sagen der Alten gelauscht, und als sie Karain sah, war sie nicht eine Sekunde im Zweifel. Er war der Vogelmann, auf den das Felsenvolk gewartet hatte. Er war zu ihr gekommen, damit sie ihn nach Hause bringen konnte. Also folgt mir weiter, wenn euch meine Erzählung in vertraute Regionen führt, in unser Land rings um die Felsen. Es ist wichtig, dass ihr mir zuhört, denn damals waren es glückliche Zeiten.

 

Kirgit teilte sich die Decke mit Karain, und die Waldgeister entzündeten unmittelbar hinter dem Karren ein Feuer, sodass die Planken, auf denen sie saßen, vom Feuer geschwärzt wurden. Sie gingen sparsam mit dem Holz um, das sie vom Wagen abgebrochen hatten, und sammelten Äste und Zweige im Schnee ringsum. Moosmänner verbrennen niemals lebendes Holz, versteht ihr, und so haben sie gelernt, Zweige zu suchen, selbst auf solchen kahlen Ebenen.

Das Pferd kam zurück und stellte sich, satt vom welken Gras, an das wärmende Feuer. Es ist ungewöhnlich für die Tiere der Ebene, zum Feuer zu kommen, doch die Waldgeister haben eine anziehende Wirkung auf alle guten Wesen. Das Pferd wusste, dass es bei ihnen sicher war. Als Bul und Bile die Glut zu einem Haufen zusammengeschoben hatten, legten sie die Zweige darüber und krochen zum Schlafen unter ihre Decken. Karain saß hellwach da, während sie sich hinlegten. Kirgits Kopf ruhte auf seinem Arm.

Wenn ich euch doch nur beschreiben könnte, wie schön es war, die Waldgeister schlafen zu sehen. Und ich glaube wirklich, dass Karain der Einzige war, der das jemals gesehen hat. Während der Nebel aus dem Dunkel, das das Feuer umgab, herankroch, drehten sich die Waldgeister auf die Seite. Ihre Bärte bekamen die gleiche Farbe wie die Schatten der Nacht, und ihre Decken verblichen unter einer dünnen Schicht Schnee. Karain sah hoch, um zu erkennen, wie stark es schneite, doch der Himmel war sternenklar. Als er wieder zu den Waldgeistern schaute, glichen sie Schneehaufen, die rings um das Feuer lagen.

 

Es war dunkel, als er die Augen öffnete. Er träumte, doch er schlief nicht. Kirgit lag eingerollt an seiner Seite. Die Waldgeister waren kleine Hügel auf dem Boden. Er hob den Kopf und roch die Kälte. Eis glitzerte auf dem Umhang, den er über seine Beine gelegt hatte. Das Pferd stand wie festgefroren neben der rötlichen Glut. Die Stille lastete schwer wie ein Joch auf seinen Schultern.

Aber war nicht dennoch etwas zu hören? Tief in der Nacht, ein Sausen, ein Rhythmus? Etwas, das durch die Luft schwebte? Jetzt sah er es. Ein Teil des Dunkels löste sich und flog auf ihn zu. Karain spürte, dass er seinen Arm vorstreckte. Die Federn pressten sich gegen die Jacke, als der Rabe auf seiner Hand landete. Er faltete die Flügel zusammen und legte den Kopf auf die Seite.

»Karain«, sagte er, »Freund.«

»Ich höre, was du sagst.« Karain sagte das ebenso zu sich selbst wie zu dem Raben. Es überraschte ihn nicht. Wie die Federn in seiner Haut erschien es ihm ganz einfach… richtig.

»Die Verwandlung hat begonnen.« Der Rabe berührte seine Finger mit dem Schnabel. »Mit jedem Tag, der vergeht, wirst du weniger Mensch und mehr Vogel sein.«

Er reckte den Hals, als könne er oben am Nachthimmel etwas erkennen.

»Wenn das Menschenherz zum letzten Mal schlägt, werden die Flügel aus deinen Armen brechen und dich in das Reich der Vögel tragen. Das ist das Schicksal, für das du geboren bist, Karain Krallenfinger.«

Karains Arm ruhte auf seinem Schenkel. Der Rabe hüpfte auf die Kante des Wagens hinüber. Dort wippte er nickend ein paar Mal mit dem Schwanz, ehe er ihn wieder ansah.

»Du bist jetzt mein Bote. Du musst meinem Volk sagen, wenn die Zeit reif ist. Denn ich will dich warnen.«

»Warnen?« Karain neigte den Kopf zur Seite. Wie ein Vogel, dachte er und richtete sich auf.

Der Rabe lachte. Es war ein heiseres, raues Lachen. Dann entfaltete er die Flügel, wie um sie ihm zu zeigen.

»Du bist mein Bild, und nur du kannst meine Worte deuten.«

»Du hast Recht«, sagte Karain. Er fasste an seinen Hals und spürte, wie sich seine Kehle um die Worte legte, die er sagte, als ob er hustete.

»Ich werde dir dreimal helfen. Das erste Mal geschah das, als deine Brüder dich aus dem Feuer flogen.«

»Meine Brüder? Aber was…« Karain hob die Stimme, doch da spürte er, dass Kirgit ihren Kopf bewegte.

»Ich versteh nicht, was du meinst«, flüsterte er. »Ich verstehe nicht… Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

Der Rabe breitete die Flügel aus und hüpfte auf sein Knie.

»Tu, was du fühlst. Bis jetzt hast du viele gute Dinge getan. Mach so weiter. Fürs Erste ist es wichtig, dass du die Waldgeister begleitest, damit der Gamle wieder gesund wird.«

»Der Gamle! Woher weißt du das?«

Der Rabe sprang hoch und krallte sich an seinem Arm fest.

»Wir wissen.« Er legte seinen Kopf zur Seite und starrte ihn mit pechschwarzen Augen an. »Er hat uns gerufen, als er spürte, dass ihr in Gefahr wart. Er hat uns mit dem Wind nach Süden geschickt. Wir haben seine Worte an alle gefiederten Wesen weitergegeben, denn keiner von uns würde überleben, wenn ihr die Wurzel nicht findet.«

»Es wird keinen Frühling geben, ehe der Gamle ihn nicht herbeiruft«, sagte Karain. »Der Winter wird auf dem Land liegen, bis Gamle die Rote Runde Wurzel bekommt.«

Der Rabe schrie. Er streckte die Flügel aus und segelte durch die Luft, kreiste eine Runde über dem Wagen und landete dann wieder auf seiner Hand.

»Nein!« Er öffnete seinen Schnabel und fauchte ihn an. »Nein! Das stimmt nicht! Das Gesetz der Jahreszeiten ist noch strenger. Hat der Gamle das Loke nicht gesagt? Wusste er es denn selbst nicht, der Häuptling der Waldgeister? Er wusste es doch, als er nach uns gerufen hat.«

Der Rabe kletterte auf seine Schulter.

»Vier Monate…«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Volom-Kars Primstab hat vier Monate. Bekommt der Gamle seine Wurzel nicht, ehe der vierte Monat verstreicht, wird der Frühling nie mehr kommen und der ewige Winter die Welt erobern.«

Der Rabe flog auf und kreiste in die Nacht hinauf.

»Ewiger Schnee! Alle werden sterben!«, schrie er.

Karain reckte seinen Hals nach oben.

»Warte!«, rief er. »Hast du einen Namen? Kann ich dich rufen?«

Der Rabe schwebte zu ihm nach unten.

»Ich bin Kragg. Dein Zwillingsbruder.«

Mit diesen Worten verschwand er in der Dunkelheit.

 

Karain flog. Er schwamm durch die Luft. Unter ihm waren die Wolken; er berührte sie bei jedem Schlag mit den Flügelspitzen. Seine Rückenfedern kratzten am Himmel. Sie waren nass. Der Himmel war ein Meer. Deshalb ist er blau, dachte er. Er wollte es laut hinausschreien, doch wer sollte ihn hier oben hören?

Karain legte die Flügel an und schoss durch die Wolken nach unten. Während das Grau vorbeisauste, spürte er, wie kalt es war. Eis legte sich über seinen Schnabel. Dann war er unter den Wolken.

Schnee bedeckte alles. Nicht ein Baum war zu sehen, kein Tier und kein Vogel. Nur eine unendliche, leicht wellige Schneefläche. Karain ließ sich von seinen Schwingen zu einer Klippe tragen und setzte sich im heulenden Wind auf sie. War das eine Welt, die er kannte? Er hob den Kopf zum Himmel, zum Schnee, der herabfiel und immer weiter fallen würde. Und er schrie seine Angst heraus. Allein.