Das Kretterlaqer

 

Habt ihr eure Eltern mal über die Winddämonen sprechen hören, Kinder? Nicht solche Dämonen, für die ich einst gehalten wurde, sondern Spötter, Windstimmen. Manch einer nennt sie Vurminger.

Ja, wirklich, Kleiner Tenn? Du hast einen draußen vor der Tür gesehen, bevor du hereingekommen bist? Auf dem Haufen Zweige neben der Tür? Ja, das kann gut sein. Aber die Winddämonen, von denen ich erzählen will, sind so groß, dass sie ganz sicher nicht auf dem Holzhaufen eines alten Mannes Platz finden würden. Solche Dämonen waren es, die ich sah, als wir von dem Gebirge herabkamen.

 

Nach der ersten Nacht gingen wir, rechter Hand die Lanzenberge, weiter. Die Schneelatten brachten uns hier im Flachen rasch vorwärts. Ich beobachtete die Bergflanken, um zu sehen, wo wir waren, und bereits am ersten Tag erkannte ich die Stelle wieder, wo wir den Absatz erreicht hatten, der uns zur Höhle geführt hatte. Doch am nächsten Morgen erreichten wir die Klamm, die ihr Reinfell nennt. Wir blieben an dieser Kerbe mitten in der Ebene stehen und sahen, wie tief sie war. Ganz unten, viele Mastlängen unter uns, rann der Fluss unter einer dicken Eisschicht. Die Klamm war nicht breiter als ein paar Pferdesprünge, als ob ein böser Gott die Ebene mit seiner Axt zerhackt hätte, nur damit wir nicht weiterkamen. Dort hätten wir fast aufgegeben. Wir hockten uns auf unsere Skier und ließen den Blick über die Schlucht gleiten. Sie schien kein Ende zu haben. Fast sah es aus, als ob eine Felsenwurzel aus der Erde gerissen worden wäre, denn am Fuß der Berge verschwand sie wie eine Höhle im Fels.

In dieser Zeit reisten die Händler vorwiegend mit Schiffen, und die Wagenbrücke war noch nicht gebaut worden. Wir folgten dem Einschnitt in Richtung Meer, und als es dunkel wurde, lagerten wir an der Kante des Abgrunds. Erst spät am nächsten Tag fanden wir den Baumstamm, den die Menschen damals als Brücke benutzten. Loke schob sich rittlings über den Stamm und war als Erster auf der anderen Seite, doch er fand nichts, woran er das Seil hätte befestigen können. Vile und Bile zitterten so, dass sie fast hinuntergestürzt wären, und selbst Bul zögerte, ehe er sich auf die andere Seite schob. Ich ging als Letzter, und ich weiß noch, wie merkwürdig es war, in die Tiefe zu schauen, ohne auch nur einen Hauch von Angst zu verspüren.

 

Es war ein kaltes Land. Ich will nicht sagen, dass ich fror, denn die Decken und Schafsfelle, die wir vom Felsenvolk erhalten hatten, wärmten gut. Doch der Winter tat alles, was in seiner Macht stand, um uns zu quälen. Windböen und Eis, das in den Augen stach. Loke hatte mit vier Tagen bis zur Felsenburg gerechnet, doch die Reinfell hatte uns so weit nach Osten geführt, dass wir einen ganzen Tag brauchten, um an die Stelle zurückzukommen, wo uns die Klamm den weiteren Weg versperrt hatte.

Nachts sparten wir unser Holz, und ich aß gefrorene Fleischfetzen und Schnee, und tagsüber wagten wir es aus Furcht vor der Kälte nicht, zu rasten. Und da, als ich mich gebeugt und auf den Speer gestützt vorwärts kämpfte, sah ich sie, die Winddämonen. Ja, ich kann beschwören, dass der Schnee am Himmel verzerrte Gesichter bildete. Einige spotteten und lachten. Andere schrien vor Schmerz. Und die ganze Zeit über heulten sie wie sterbende Krieger auf dem Schlachtfeld.

Seither habe ich manchmal geglaubt, es könnten andere Geister gewesen sein, die dort im Himmel geweint haben. Vielleicht waren es die Geister des Lebens und der neuen Geburt. Vielleicht war es der Frühling, der dort jammerte.

Wo der Wind den Schnee weggeblasen hatte, fanden wir oft Büsche oder das, was von ihnen noch übrig war. Loke untersuchte die Zweige und zeigte mir, wo das Eis die Knospen getötet hatte. Er erklärte mir, dass die Büsche bis zur Wurzel erfroren und so stark verletzt waren, dass sie nie wieder ausschlagen würden. So etwas sollte nicht geschehen, sagte er. Der Winter sollte nicht töten. Die Pflanzen sollten im Winter schlafen und im Frühling wieder erwachen.

 

Doch es gab vieles, was nicht so war, wie es sein sollte. Der Wind wirbelte Schneewehen auf, die hoch wie Schiffsrümpfe und dennoch selten dicker als der Schenkel eines Mannes waren. Sie ragten wie Messer aus der Ebene auf, wuchsen höher und höher, bis der Wind seine Richtung wechselte und sie zu einem Schleier aus Eis wurden, der die Gesichter am Himmel verzehrte. Wir wanderten durch Portale aus Schnee und rutschten über Schrägen, auf denen das Eis zusammengepresst und hart wie Eisen war. Loke erklärte mir das alles auf unserem Weg. Der ewig währende Winter war dabei anzubrechen. Es roch nach dem Sieg über den Frühling, und bereits jetzt breiteten sich die eisigen Arme über das Land aus und formten es, wie sie es schon immer gewollt hatten. Loke sprach über Götter mit allerlei merkwürdigen Namen. Visminen, das Tier, würde als Erster kommen, den Schnee durchwühlen und alles Lebendige auffressen. Varen würde die Berge mit seinen eisigen Händen einreißen, und schließlich würde sein Bruder, Vossen, sein Eisschwert in die Meere stechen und sie bis zum Grund gefrieren lassen.

Ich verstand nicht, warum wir uns nicht einfach hinhockten und auf diese schrecklichen Wesen warteten, doch am Abend des sechsten Tages sahen wir fern am Horizont etwas Graues. Das war keine Schneewehe, kein Eisportal. Das war die Felsenburg. Durch das Schneegestöber erkannte ich die Lichter des Kretterlagers und die Fackeln in den Felsen. Das Felsenvolk leistete noch immer Widerstand. Ich spürte eine Wärme in der Brust, doch ich wusste nicht, ob es Freude oder Furcht war.

 

Wir gruben uns im Schnee ein und versteckten uns, so gut es ging. Die letzten Holzscheite brannten, als Loke erklärte, was ich nur zu gut wusste.

»Jetzt gilt es, einen dieser Vokker-Trolle zu finden. Wenn uns das nicht gelingt, müssen wir uns ins Lager schleichen und den Ort finden, wo sie das Futter für die Pferde aufbewahren. Dann stehlen wir ihnen eine Rote Runde Wurzel, und dann…«

Der Tatendrang in seinem Gesicht wurde plötzlich von tiefen Falten und Sorgen ersetzt.

»Wir haben noch drei Tage«, sagte Bile und raschelte mit seiner Zapfenkette. »Ich habe seit letztem Vollmond, noch ehe wir die Felsenburg erreicht hatten, die Zapfen gezählt.«

»Drei Tage?« Bul wühlte in seinem Bart und bewegte seinen Kopf langsam vor und zurück. »Nur drei Tage? Ich dachte, wir könnten diese Felsenhässlinge bitten, uns mit ihren Schlitten zum Meer zu fahren und dann vielleicht mit einem Boottier bis Krugant, oder vielleicht bis zum Nordende des Westwalds, wenn sie ihre Schlitten mit aufs Boot nehmen würden… Aber drei Tage?«

Er hob seinen Bart hoch, stützte seine Ellenbogen auf die Knie und vergrub sein Gesicht in den Haaren.

»Wir müssen es trotzdem versuchen.« Loke legte das letzte Holzstückchen aufs Feuer, das sich mittlerweile einen Fuß tief ins Eis geschmolzen hatte.

 

Sobald es hell wurde, gingen wir weiter auf das Kretterlager zu. Wir wichen den Anhöhen aus, auf denen wir leicht zu sehen gewesen wären. Loke führte uns durch Senken und hinter Erhebungen entlang, und manchmal mussten wir uns auf die Skier legen und hinter flachen Schneewehen entlangkriechen. Doch schließlich hob der Trolljäger die Hand, als wir einen leicht ansteigenden Hang emporstiegen. Ich kauerte mich gemeinsam mit den Waldgeistern hin. Von der anderen Seite des Hügels waren das Knistern von Feuer und die Stimmen von Männern zu hören.

Wir legten unser Gepäck in den Schnee, lösten die Skier von unseren Stiefelspitzen und begannen, die Skier in den Händen, nach oben zu kriechen. Es fühlte sich fast an wie Schwimmen, und nach all den Tagen auf Skiern hatte ich beinahe vergessen, wie tief der Schnee war.

Auf der Spitze des Hügels lag ein Felsbrocken, hinter den wir uns duckten. Der Abhang auf der anderen Seite war steiler, und an seinem Fuß lagen die äußersten Zelte des Kretterlagers. Nur die Zeltdächer ragten aus dem Schnee hervor – braune Segeltuchhüte umringt von gelben Löchern in all dem Weiß. Sie lagen wie kleine Steinchen auf dem Boden verteilt und waren durch festgetretene Pfade miteinander verbunden. Kretter in Umhängen, Pelzen und mit Kopftüchern machten sich zwischen den Zelten zu schaffen. In der Mitte des Lagers erhob sich die Felsenbrücke, und dort war am meisten Leben. Die Sonne glitzerte auf den Rüstungen der Lanzenträger, die dort mit Schilden auf dem Rücken und Bogen in den Händen postiert waren. Fünf Vokker waren mit gekrümmten Rücken und Keulen in den Händen auf dem Weg nach oben. Am Ende der Felsenbrücke ragten noch die rußigen Reste des Tores aus dem Schnee. Auch die Belagerungshütten klammerten sich noch immer am Fels fest. Die Schilddächer, die die Vokker beim Sturz aus den Kalanen zerschmettert hatten, waren wieder aufgerichtet worden.

»Ein Pferd!« Bile erhob sich und wäre fast aus unserem Versteck aufgesprungen, doch Loke zog ihn wieder nach unten.

»Dort unten«, sagte der Schüler. »Hinter dem roten Zelt.«

Ich sah es selbst. Ein gelbes Pferd stand an einen Pflock angebunden hinter einem Zelt an der Felsenbrücke. Aber war das nicht ein Vokker, der jetzt zu dem Tier hinüberging und das Tau löste?

»Der Pferdepferch muss unterhalb der Felsenbrücke sein.« Bul blinzelte in den Schnee hinaus. »Das ist der einzige Ort, den wir von hier aus nicht einsehen können.«

»Das gefällt mir gar nicht.« Loke lehnte sich vor, um besser sehen zu können.

Ich begriff, was er meinte. Warum war dieses Pferd nicht bei den anderen? Und warum wehrte es sich so dagegen, von dem Vokker weggeführt zu werden?

»Viani hat von einem Tauschhandel gesprochen.« Loke kämmte sich den Bart mit seinen Fingern nach unten. »Die Vokker sollen den Krettern helfen und als Gegenleistung jeden Tag zwei Pferde und die Körper der Menschen in der Felsenburg erhalten.«

Ich dachte daran, wie die Vokkerfrauen in der Höhle die Pferdekörper zerrissen hatten. Der Vokker kam direkt auf uns zu, während das Pferd wild wiehernd den Kopf nach hinten warf, um die Schlinge loszuwerden, die um seinen Hals gelegt worden war.

»Gobba!«, rief er, und ein anderer Vokker trat aus dem Zelt unmittelbar unterhalb des Hügels. Sie trafen einander vor dem Zelteingang, schlugen die Fäuste gegeneinander und hoben das Pferd in den Schnee.

»Wir müssen etwas tun! Sie wollen Bruder Pferd töten!« Bile schob sich den Hut in die Stirn und zog die Riemen über seinen Stiefelspitzen fest.

»Sie werden uns entdecken!« Ich drückte die Worte über meine Lippen, denn mit ganzer Seele wünschte ich mir, das Tier dort unten zu retten.

»Ich bin noch nie einem Troll ausgewichen.« Loke stellte sich auf seine Schneelatten, und Bul reichte ihm den Speer. »Und erst recht keinem, der im Begriff ist zu töten.«

Der eine Vokker drückte das Pferd seitlich zu Boden. Speichel rann über seine Unterlippe, als der andere seine Keule über den Kopf des Pferdes hob.

Da schoben sich die Waldgeister über die Kuppe des Hügels. Sie gingen in die Knie und streckten ihre Speere nach vorn.

»Trollpack!« Bul ballte seine Faust und wäre fast gestürzt, als er über einen kleinen Buckel fuhr. Die Vokker ließen das Pferd los, wandten sich ihnen zu und begannen, mit den Augen zu rollen.

Ich nahm die Skier und schob die Stiefel unter die Riemen. Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, konnte ich die Waldgeister nicht alleine kämpfen lassen.

Jetzt schrien die Kretter. Wir waren entdeckt. Schon tauchten die ersten Krieger zwischen den Zelten auf. In diesem Moment traf Bul einen der Vokker. Der Speer drang in den Oberschenkel des Riesen ein, und Bul blieb am Schaft hängen, während seine Skier weiter nach vorn schossen. Loke stach höher zu, riss den Speer wieder heraus und schwang unmittelbar hinter dem Vokker herum. Vile sauste zwischen den Beinen des einen Vokker hindurch, während sich Bul an das Bein des Riesen klammerte und auf dessen Fuß einstach. Ich nahm den Speer und stieß mich am Stein ab. Ich spürte förmlich, wie das Blut in meinen Adern gefror. Jetzt stießen Kretter mit Schwertern und Morgensternen dazu.

Ich war fast froh, als ich stürzte. Ich hatte es geschafft, mir mit meinem eigenen Speer ein Bein zu stellen, und noch ehe ich es wusste, war ich vom Schnee begraben. Ich hörte die Kretter schreien und wusste, dass es schlecht um die Waldgeister stand. Sie brauchten mich jetzt, und stattdessen turnte ich hier wie ein kleiner Junge im Schnee herum.

Erst als ich die Skier von meinen Füßen gelöst hatte, gelang es mir, mich umzudrehen und zu sehen, was geschah. Die Vokker wälzten sich mit blutigen Wunden in Schenkeln und Bauch vor dem Zelt herum. Die Waldgeister standen nicht mehr auf ihren Skiern. Sie waren auf einen gefallenen Kretter geklettert und kämpften mit ihren Speeren gegen ein gutes Dutzend Krieger. Das Pferd galoppierte wiehernd und mit den Hinterbeinen ausschlagend zwischen den Zelten an der Felsenbrücke hindurch. Andere Pferde antworteten, als es einen Weg, der hinter der Brücke verschwand, hinabtrabte.

Jetzt traten die Männer von den Waldgeistern zurück. Ich erinnerte mich, wie die Felsenmenschen die Kretter besiegt hatten, die durch das Tor eingedrungen waren, und war mir sicher, dass die Krieger jetzt auf die Bogenschützen warteten. Doch stattdessen erschienen Krieger mit Lassos in den Händen. Sie schwangen die Seilschlingen über ihren Köpfen und ließen sie durch die Luft fliegen, und plötzlich waren die Waldgeister gefesselt. Dann zogen die Krieger das Seil an, und Loke, Bile, Vile und Bul stürzten zu Boden. Die Kretter lachten, während die Männer mit den Lassos sie wie einen Fisch an der Leine einholten, sie an ihren Bärten hochhoben und ihre Arme fesselten. Vile rang, das Gesicht weiß von Schnee, nach Atem, und Bul sagte Worte, die ich niemals zuvor von ihm gehört hatte. Dann riefen die Kretter die Vokker zu sich, die sich aufrappelten und wie verwundete Kriegssklaven auf sie zuhinkten. Am liebsten hätten sie die Waldgeister wohl auf der Stelle zerquetscht, denn sie ballten ihre Fäuste, beugten sich über sie und knurrten. Ich zitterte dort im Schnee, und Vile heulte, während Tränen über seine Wangen liefen. Bile schloss die Augen, während Loke und Bul die Riesen anstarrten und nicht die geringste Furcht zu zeigen schienen.

Da sagte einer der Kretter etwas zu ihnen, und die anderen begannen zu lachen. Die Vokker wischten sich den Rotz unter der Nase weg und warfen die Waldgeister an den Seilen über den Rücken. Die Kretter winkten sie hinter sich her, und dann ging das ganze Gefolge auf die Felsenbrücke zu. Ganz am Schluss gingen die Vokker mit den Waldgeistern über ihren Schultern.

Ich sammelte die Skier zusammen und wartete, bis sie ein Stück entfernt waren. Dann erhob ich mich und winkte, nur eine kurze Bewegung mit meinen Krallen, doch genug, damit Loke sie sah. Er hob die Hand und streckte mir die Handfläche wie beim Ehrengruß der Nordmenschen entgegen.

 

Ich rutschte auf der anderen Seite des Hügels hinunter und hielt dort inne, wo wir unsere Rucksäcke abgeladen hatten. Es begann bereits dunkel zu werden, und ich spürte, dass es eine kalte Nacht werden würde. Ich nahm die Leinensäcke heraus und sammelte die spärlichen Reste der getrockneten Pilze in einem der Beutel. Bul hatte zuletzt das Seil getragen, und so löste ich es von seinen Decken und warf es über meine Schulter. Es gab kein Holz mehr, und die Wasserschläuche hatten wir bereits vor vielen Tagen, als sie gefroren waren, weggeworfen. Ich schmiss alles, was ich nicht brauchte, auf einen Haufen und bedeckte ihn mit Schnee.

Auf dem Weg um das Lager herum blickte ich immer wieder zur Felsenburg hinauf. Die Fackeln in den Kalanen sagten mir, dass die Felsenmenschen Wache hielten. Vielleicht stand Kirgit dort oben? Wenn diese Kretter nicht da gewesen wären, hätte ich geradewegs die Felsenbrücke emporlaufen und mich neben ihr in der Hütte hinlegen können. Und jetzt waren auch noch die Waldgeister gefangen, wenn die Kretter sie nicht bereits getötet hatten. Doch daran wollte ich nicht denken. Ich stapfte durch den Schnee und wusste eigentlich gar nicht, wohin ich sollte. Denn wohin konnte ich gehen? Die Wurzel, wegen der wir weit entfernt in Krugant aufgebrochen waren – sollte ich ganz alleine versuchen, einem Vokker zu folgen und sie ihm zu entreißen? Ich musste die Waldgeister befreien, doch wie sollte ich, Karain, das vollbringen? Es war mir ja nicht einmal gelungen, mit den Waldgeistern bei ihrem Angriff Schritt zu halten.

 

Während ich da herumschlich, kam es mir vor, als hörte ich Lokes Stimme. Ich musste jetzt tun, was er getan hätte, und die Stimme sagte, ich sollte versuchen, auf die andere Seite des Lagers zu kommen. Ich machte eine große Runde um die Zelte herum und hielt auf jeder Anhöhe inne, um zu lauschen und einen Blick auf die Fackeln an den Felswänden zu werfen, das Feuer meiner Freunde. Ich verschwand zwischen den gewaltigen Steinen, hinter denen sich die Vokker versteckt hatten, als wir mit den Schlitten die Felsenbrücke emporfuhren. Während ich immer wieder aus den Schatten der Steine trat und um die Schneewehen herumschlich, erwartete ich fast, Arme zu sehen, die aus dem Dunkel nach mir griffen, und als ich hinfiel, war ich mir sicher, dass sie sich auf mich stürzen würden. Aber die Riesen schienen mit der Belagerung genug zu tun zu haben. Ich befestigte die Skier wieder an den Stiefeln, hastete weiter und war schließlich froh, als ich wieder in offenes Gelände kam. Hier überquerte ich eine Senke, einen dunkelblauen Strich in dem grauen Schnee, die sich bis weit nach Süden weiterzog.

Ich folgte den Schlittenspuren, bis ich wieder die Kretter hörte. Irgendwo spielte jemand Flöte. Ich kannte die Melodie. Die Seeleute pflegten sie im Hafen von Krugant zu spielen. Sie ähnelte einem Schmetterling, der zwischen den Blumen flatterte, hohe und tiefe Töne im schnellen Wechsel, auf und ab. Ich konnte nicht verstehen, wie die Kretter, die so viel Böses taten, ein derart hübsches Lied spielen konnten. Es machte mich wütend, während ich dort hinter den Schneewehen lag und zu den Lagerfeuern hinüberspähte. Die Krieger tanzten vor den Zelten an der Felsenbrücke, und das Feuer spiegelte sich auf Kettenhemden und genagelten Lederrüstungen. Um sie herum standen die Vokker und stampften mit den Füßen auf den Boden. Doch an den anderen Zelten war es still. Von den Waldgeistern war nichts zu sehen.

Mit den Skiern an den Füßen schob ich mich bis zum letzten Zelt vor. Ich duckte mich hinter das Zeltdach und lauschte eine Weile, ehe ich die Speerspitze durch das Segeltuch stieß. Noch immer Stille. Ich schnitt ein Loch, schob das Tuch zur Seite und schaute hinein. Unmittelbar vor meiner Nase hing eine Öllampe. Die Flamme flackerte im Luftzug. Der Boden war mit Pelzen bedeckt, und am Rahmen vor der Türöffnung standen eine krumme Säbelscheide mit Waffe, ein Bogen und ein Speer. An den Wänden waren zwei Bänke, auf denen zwei braune Gesichter unter einem Berg Decken und Schafspelzen lagen. Ihre Augen waren geschlossen, und einer der beiden Männer schnarchte laut. Doch Waldgeister gab es dort keine.

Ich hockte mich hin und glitt hinüber zum nächsten Zelt. Wieder schnitt ich ein Loch ins Segeltuch, doch auch hier konnte ich die Waldgeister nicht finden, sondern stattdessen die Nase eines Kretters unter einer Unmenge Decken. Drei Zelte untersuchte ich auf diese Weise, und ich hatte meine Nase in den Schlitz des vierten gesteckt, als plötzlich Schnee knirschte. Ich hatte keine Zeit mehr, nachzudenken. Wenn ich schlau gewesen wäre, hätte ich mich hinter dem Zelt versteckt und wäre dann später fortgeschlichen, doch stattdessen warf ich meinen Sack in den Schnee, machte die Skier ab und schob mich durch den Spalt im Segeltuch ins Innere des Zeltes. Ich landete weich auf den Bodenpelzen, brachte aber mit meinem Speer die Waffen am Eingang zum Umfallen. Während ich mich aufrappelte und meinen Speer durch den Schlitz nach draußen beförderte, hörte ich Schritte, die unmittelbar vor der Zeltöffnung knirschten.

»Kenner! Lass meine Pfeile in Ruhe!«

Ich hörte Leder an Leder schaben, und dann schepperte ein Kettenhemd.

»Du hättest die Vokker sehen sollen, Kenner, die werden wie Kinder, wenn Suner spielt.«

Er stöhnte, und dann hörte ich einen unmissverständlichen Laut. Der Kretter schlug dort draußen sein Wasser ab.

»Wie leise du bist, Kenner. Bist du noch böse, weil ich dein Drachenblut ausgetrunken habe? Ha!«

Wieder schepperten Eisenringe. Ich sah mich um. Der Kretter schob seine Finger in die Zeltöffnung und begann sie aufzuschieben, und ich wusste, dass ich keine Zeit mehr haben würde, mich zu verstecken.

»Nein, warte.« Er ließ den Rahmen wieder los. »Ich muss… Halt dir die Ohren zu, Kenner, mir wird von dieser verdammten Fettsuppe so komisch!« Während sich der Darm des Kretters laut rumorend dort draußen entleerte, legte ich mich flach auf den Boden und schob mich unter eine der Bänke. Ich zog die Bodenpelze an mich und machte mich so klein wie möglich, als der Kretter ins Zelt trat.

»Kenner?« Er baute sich mitten im Zimmer auf und rülpste.

Mit einem Auge spähte ich unter der Bank hervor. Der Kretter sah den Riss in der Hülle des Zelts, nahm den Schal vom Kopf und fluchte.

»Ein guter Krieger war er ja nie. Einfach so im Zelt mit einem Speer herumzufuchteln!«

Er machte ein paar Schritte hin und her, trank etwas aus einer Flasche, die er vom Mittelträger des Zeltes nahm, und ließ sich schließlich auf die Bank über mir fallen. Er rülpste erneut, als er die Stiefel von seinen Füßen zog und seine Jacke auf die andere Bank warf. Dann beugte er sich vor und zog sich das Kettenhemd über den Kopf.

»Verdammte Kälte!« Er machte es sich auf der Bank bequem, und sein Kopf lag einen Daumen breit über dem meinen. »Verdammte Felsenratten, verdammte Belagerung. Und dann diese schreckliche Fettsuppe.«

Der Kretter begann sein eigenes Flötenspiel, und ich wusste, dass es eine lange Nacht werden würde.

 

Findet ihr das lustig, Freunde? War es etwa kein Flötenspiel, das ich hörte, Kleiner Tenn? Nein, ich weiß schon. Doch wie ich dort lag, hatte ich viel zu viel Angst, um mich um so etwas zu kümmern. Ich wartete lange, bis ich es wagte, meine Krallen aus dem Schnee an der Zeltwand zu ziehen und unter meine Jacke zu stecken. Und…

Wie es den Waldgeistern erging? Aha, an die hast du also gedacht, Ekri. Ich hab gesehen, wie still du geworden bist, als ich erzählt habe, wie die Kretter sie gefangen haben. Ja, ich habe das Schlimmste befürchtet. Doch die Waldgeister saßen gefesselt unter dem Dach, unter dem sich die Pferde während der Nacht aufhielten. Es gab dort auch ein langes Feuer, das die Kretter entzündet hatten, damit die Tiere nicht froren. Sie hatten ihnen beigebracht, die Furcht vor dem Feuer abzulegen, ein wahres Meisterstück, das mir von keinem anderen Volk bekannt ist. Und die Waldgeister waren mitten auf einem Berg steifgefrorener Pferdeäpfel an einen der Balken gefesselt, die das Dach trugen.

Du glaubst mir nicht, Tenn? Du sagst, ich könne das nicht wissen, weil ich ja gar nicht da gewesen sei? Da hast du Recht. Du solltest Geschichtenerzähler werden, wenn du groß bist, du, der du so etwas immer gleich bemerkst. Ich lag in dieser Nacht im Zelt unter dem Kretter mit dem aufgeblasenen Bauch. Doch später hat mir Loke erzählt… Ja, er erzählte das später, und jetzt habt ihr mich dazu gebracht, zu verraten, dass ich sie gerettet habe. Er hat mir erzählt, wie es ihnen dort ergangen war, und, Freunde, stellt euch einmal vor, ihr wäret Loke, Bul, Bile und der arme Vile, und ihr säßet gefesselt auf einem Berg Pferdemist im Lager des Feindes.

 

Der Pferch lag direkt unterhalb der Felsenbrücke. Deshalb hatten wir ihn von der Ebene aus nicht gesehen. Und ganz hinten an der Felswand hatten die Kretter dieses Dach errichtet. Es war so groß, dass viele solcher Hütten, in denen wir hier sitzen, darunter Platz gefunden hätten. Die Pferde drängten sich dicht um die Waldgeister herum, und die Kretter hüteten das Feuer, das vor dem Dachvorsprung brannte.

»Ich habe Angst«, sagte Vile. Er saß neben Bile und starrte die Felswand an. Rücken an Rücken hinter ihnen hockten Bul und Loke.

»Das ist nichts Neues, dass du Angst hast.« Bul presste die Lippen zusammen, sodass sein Gesicht mürrisch und verschlossen aussah.

»Jetzt streitet euch nicht, Schüler!«

Loke hob seinen Zeigefinger unter den Fesseln an. »Wir müssen jetzt zusammenhalten und darauf achten, nicht den Mut zu verlieren. Denn ein Waldgeist, der den Mut verliert, verliert…«

»Was noch? Was kann denn sonst noch geschehen?« Bul trat gegen einen Pferdeapfel.

»Du sollst den Trolljäger nicht unterbrechen, wenn er spricht«, sagte Loke und drehte seine Nase so weit wie möglich weg. »Ich habe niemals den Mut verloren, und ich will nicht hoffen, dass meine Schüler das tun, nur weil wir hier ein bisschen gefesselt sind. Und außerdem…«

Loke wurde plötzlich still. Er starrte mit kugelrunden Augen zwischen seine Füße.

»Und was außerdem?« Bul atmete so tief ein, wie es die Fesseln zuließen.

»Hol nicht so tief Luft«, beklagte sich Vile.

»Nein, du musst ruhig sitzen, Bul. Vile hat das Seil über dem Hals.« Bile drehte seinen Kopf zur Seite und flüsterte. »Bitte ihn, sich ruhig zu verhalten, Loke!«

Loke starrte noch immer zwischen seinen Rindenstiefeln hindurch. Dann schluckte er und leckte sich die Lippen.

»Die Wurzel!« Er beugte sich vor und begann an den Seilen zu zerren. »Pferdefutter! Wir sitzen ja mittendrin!«

»Nicht du auch noch!« Bile schüttelte den Kopf und blies seinen Magen auf, während Vile nach Luft schnappte.

»Die ist rot und rund, nicht wahr?« Loke sah zu Bul hinüber, während sich die Fesseln auf seiner Brust strafften. Dann schob er die Stiefel um etwas im Schnee zusammen, verlor es und versuchte es erneut.

»Wir haben sie gefunden!« Er klemmte seine Rindenstiefel zum dritten Mal zusammen und hob seine gestreckten Beine an. »Schüler, wir haben sie gefunden!« Zwischen den Riemen seiner Stiefel klemmte eine etwa daumengroße Wurzel, an deren roter Schale noch Reste von Pferdemist hingen.

»Die Rote Runde Wurzel!« Bul riss die Augen auf.

»Und die lag die ganze Zeit hier vor meinen Beinen«, jubelte Loke. »Die war wohl schon mal in einem Pferdemagen, aber das muss der Gamle dann eben ertragen.«

Da begannen die Pferde zu wiehern. Sie trampelten unruhig im Schnee und drängten sich nach vorn.

»Das ist wieder der Wächter!« Bul drückte seinen Rücken gegen den Balken.

»Schnell!« Loke drehte sich unter seinen Fesseln hin und her, während Vile nach Atem rang. »Wir müssen die Wurzel verstecken!«

»Lass sie nicht los«, sagte Bul. »Vielleicht kommt er, um uns an einen anderen Ort zu bringen!«

Loke suchte verzweifelt nach einem Ort, an dem er die Wurzel verstecken konnte. Nur seine Beine waren frei, und so konnte er sie weder in die Tasche stecken noch in seiner Faust verbergen. Als Bul seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, drehte sich Loke auf die Seite und schob die Stiefel in das Gesicht seines Schülers.

»Mund auf, Bul! Das ist der sicherste Ort!«

Bul kniff die Lippen zusammen und zischte durch die Mundwinkel. »Da ist Pferdemist dran!«

»Das ist gut für den Magen. Mach den Mund auf. Ich kann die Beine nicht mehr lange so halten.« Er hob seine Beine noch dichter an Buls Mund heran. Gleichzeitig schob der Kretter die letzten Pferde beiseite.

»Mach das Maul auf!«

»Ich will ni…« Loke presste die Wurzel unter Buls Schnurrbart hindurch, drehte sich zurück und stellte seine Beine auf den Boden. Der Kretter stand, die Hände unter dem Gürtel, vor ihnen.

»Wie geschwätzig ihr doch seid!« Er warf seinen Umhang über die Schulter und legte die Hand auf den glatten Holzschaft seines Säbels.

»Vielleicht sollte ich eure Zungen ein wenig lösen?«

»Seid ruhig«, flüsterte Loke. Bul hustete, und Loke dachte, nur gut, denn Bul war immer schon ein Hitzkopf gewesen, der nie wusste, was zu seinem Besten war, wenn Gefahr drohte.

Doch da spuckte Bul den Pferdemist aus. Er holte tief Luft und sah dem Kretter in die Augen.

»Trollbrut!«, schrie er. »Warte nur, bis ich loskomme! Dann werde ich dich wie einen Troll von den Beinen holen und meinen Speer mit deinen Haaren schmücken!«

Der Kretter riss die Augen auf. Seine Mundwinkel begannen zu zittern. Dann zog er den Säbel aus der Scheide, beugte sich hinunter und drückte die Klinge gegen Buls Hals. Bul trampelte in den Pferdemist und zuckte mit den Armen.

Da begann der Kretter zu lachen. Er trat einen Schritt zurück und legte den Säbel auf seine Schulter.

»Nein, ich lass euch lieber da auf der Scheiße sitzen. Ihr habt die Pferde ja so gerne und habt sicher nichts dagegen, auf ihrem Mist zu hocken! Wir werden euer Blut schon früh genug sehen, ihr Zwerge! Morgen wird Nasmar euch vor das Tor tragen und euch opfern, und dann stürmen wir die Burg. Die Vokker werden diesmal die Leitern festhalten, sodass die Felsenmenschen sie nicht wegschieben können.«

Er steckte den Säbel unter seinen Gürtel und ging langsam zurück zum Feuer.

»Nasmar?« Bul runzelte die Stirn. »Wer ist das? Ich versteh diese Hässlinge einfach nicht.«

»Da hast du aber Glück gehabt«, sagte Loke. »Er hätte dir den Kopf abschneiden und dich an deinem Bart am Gürtel aufhängen können. Aber jetzt müssen wir zusehen, dass wir hier loskommen. Bile, hast du das Messer?«

»Das haben sie mir abgenommen«, sagte Bile. Vile schluchzte an seiner Seite. »Und Vile hat wieder Angst.«

»Aber du, Bul? Hast du etwas, womit wir uns losschneiden können?«

Bul schüttelte den Kopf und blies den Rest des Pferdemists aus seinen Barthaaren.

»Dann müssen wir hier sitzen bleiben.« Loke seufzte. »Und auf ein Wunder hoffen.«