Der magische Moment: Ozeanien
Der englische Schriftsteller Joseph Conrad notierte vor langer Zeit in sein Tagebuch: »What is art all about? To make you see«, was ist der Sinn der Kunst? Dich zum Sehen zu bringen!
Das soll auch für das Reisen gelten. Nicht sofort das Handy zücken, nicht die Canon, nicht die Videokamera, nein, nichts anrühren, nur »schauen«. Wie sagte es ein Spötter, haarscharf formulierend: »Heute haben wir wieder viel fotografiert und wenig gesehen.« Soll heißen: Mache es genau umgekehrt, sieh zuerst, lass zuerst die Welt, die Erscheinungen der Welt, in dein Herz dringen, in deinem Hirn landen. Steh still und empfinde!
Absurde Wirklichkeit. Ich gehe in den Louvre, wo, wie jedermann weiß, ein paar Hundert Weltwunder ausgestellt sind. Aber die meisten Besucher rennen nach rechts. Wie eine Schnellstraße ist der Weg zur Mona Lisa ausgeschildert. Und als sie atemlos ankommen, warten bereits dicke Trauben von Menschen davor. Unmöglich, etwas zu sehen. Vielleicht den Haaransatz der geheimnisvollen Italienerin, mehr nicht, sicher nicht das berühmte Lächeln (das angeblich die schlechten Zähne des Modells kaschieren sollte). Macht nichts, das Handy wird gezückt, um das Gemälde zu fotografieren. Geht aber auch nicht, denn vor ihnen haben alle anderen ebenfalls ihr Mobiltelefon in die Höhe gestreckt. So machen Leute Bilder von Leuten, die ein Bild von einem Bild machen wollen.
Deshalb stillstehen und empfinden. In diesem Fall ein anderes Wunder im Louvre suchen. Und staunen. Wer das noch kann, das Schauen, hat vorläufig gar keine Zeit, irgendwelche Gerätschaften zu postieren. So beschäftigt ist er mit dem Wahrnehmen. Wahr im Sinne von letzter Intensität. Das gilt für mich als Schreiber nicht anders. Kommt eine Sensation auf mich zu, dann denke ich ja auch nicht über die Wörter nach, um dieses Wunderwerk zu beschreiben. Im Gegenteil, ich verbitte mir derlei Ablenkungen. Ich tue alles, damit mich der Anblick – widerstandslos – überrollt. Denn dieser Hunger nach den tiefen, bodenlosen Gefühlen, der jagt mich noch immer.
Nehmen wir ein drastisches Beispiel, das allen einleuchten sollte: Ein Mann und eine Frau lieben sich, physisch, nackt, schweißgebadet erregt. Wer von uns würde nicht ihn oder sie beneiden. Zwei, die mit allem einverstanden sind, was sie sich gerade an Begehren und Verlangen schenken. Wie grotesk wäre die Idee, jetzt einen Apparat hervorzuholen, um die Intimität festzuhalten. Denn das Mitreißendste an diesem »Akt« ist seine radikale Ausschließlichkeit. Deshalb fasziniert uns Sex so machtvoll. Weil wir spüren, dass er eines der letzten Territorien ist, wo wir noch fähig sind, uns diese Radikalität des Gefühls zu verschaffen. Eine Stunde tiefer Empfindung im Meer der Banalität, der lauwarmen Sauce des Alltags. (Die Zeiten haben sich geändert: Wer heute einen Porno anschaut, sieht kein Paar mehr, sondern zwei Personen, die – ziemlich desinteressiert aneinander – den Vorgang des Gefilmtwerdens dazu benutzen, ihre primären und sekundären Geschlechtsorgane fotogen in Stellung zu bringen. Sie haben keinen Sex, sie inszenieren »Geilheit«.)
Wäre es nicht großartig, wenn wir etwas vom Zauber der Hingabe beim Reisen wiederfinden würden? Ob mit oder ohne Eros. Nur wieder lernen würden, »andächtig« zu werden vor der Welt, wieder verzaubert sein zu können von den Zauberstücken, die sie uns bietet.
Ich erinnere mich an eine Fahrt durch Australien. Zwei Bänke hinter mir saßen die beiden anderen Passagiere, zwei Engländerinnen. Als der Bus an einem der Weltwunder – dem Ayers Rock, dem Uluru – vorbeizog, sahen die zwei auf ihrem DVD-Player einen Hollywood-Larifari mit dem sinnigen Titel Perfect Picture an. Aus Mitgefühl angesichts so viel Ignoranz machte ich die beiden auf den famosen Monolithen aufmerksam. Und was geschah? Die zwei »Reisenden« holten ihre (vollautomatischen) Kameras heraus, schwenkten zum Fenster, knipsten dreimal und kehrten wieder zum Zelluloid-Käse zurück.
Die Wirklichkeit interessierte die Freundinnen – immerhin kamen sie aus einem 16 980 Kilometer entfernten Land – einen Furz. Ein Foto von ihr – sozusagen als Beleg für »Hurra, wir waren da!« – reichte völlig. »Déjà mort«, sagen sie in Frankreich zu solchen Leuten: Schon tot! Das Bemerkenswerte an diesem Totsein ist die Tatsache, dass die Toten nicht wissen, dass sie bereits als Leiche unterwegs sind. Nur die Beerdigung verzögert sich noch. Viele solcher Tote gibt es. Weltweit, unzählige.
Danke, Leser, für den Langmut, aber dieser magische Moment brauchte ein Vorwort. Doch jetzt fängt er an. Er passierte als letzter Teil einer Geschichte, die mir auf Tanna widerfahren ist, einer Insel, die zu Vanuatu gehört, einem kleinen Staat in der Südsee. Hier war ich dank irrwitziger Verwechslungen zum lang erwarteten Messias ausgerufen worden. Zuletzt schickten mir die Einheimischen die Dorfschönste an mein Nachtlager. Aus purer Dankbarkeit für meinen Auftritt. Als Gott.
Aber sie hatten noch ein Geschenk in petto. Zwei Tage nach dem schönen Wahnsinn fuhren mich ein paar meiner »Jünger« zum Vulkan Yasur, frühmorgens. Drei Männer und eine alte Frau aus dem Dorf Yaneumakel, wo ich übernachtet hatte. Bis auf 150 Meter kamen wir mit dem Geländewagen an den Schlund heran, dann zu Fuß weiter.
Das Feuer, das der Vulkan in den Himmel spie, sah phantastisch aus. Aber das war es nicht, war nicht die Gabe, nicht das Wunder. Doch dann, nach vielleicht einer halben Stunde, in der wir knapp unter dem Rand des Vulkans gewandert waren, zeigte die 87-Jährige auf die Ebene. »Dort unten«, sagte sie, »habe ich die Nachricht von deinem Kommen erhalten.« (Von meinem Kommen als Gott!) Ich folgte mit dem Kopf ihrer Handbewegung. Und sah das Geschenk. Und hielt den Atem an. Nicht überraschend, dass man in einer solchen Umgebung den Verstand verlor.
Jeder Mensch – und ein Reisender im Besonderen – hat virtuell riesige Bilderbanken gespeichert. Ob er nun fotografiert oder nicht. Und irgendwann fragt er sich, was sein »Bild der Bilder« ist. Das eine, das jedes andere in den Schatten stellt. Das meine, das unübertreffliche, machte ich in diesem Moment. Mit nichts in Händen, nur mit meinen Augen.
Halt ein, Leser, lass mich die Bildbeschreibung noch hinauszögern und die Geschichte von Vasco Núñez de Balboa erzählen. Denn damals auf Tanna fiel sie mir wieder ein. Sie passte. Der Konquistador war, wie viele seiner Kollegen, Spanier, gottesfürchtiger Christenmensch, Mörder, Vielfachmörder, Entdecker und hündisch gierig nach Gold. Und unerhört waghalsig. Irgendwann hatte er gehört, dass am westlichen Rand von Panama (was wir heute so nennen) ein Berg stünde, hinter dem sich ein See befände, »dessen Zuflüsse alle Gold mit sich führten«. Also durchquerte er die Landenge, schlachtete die im Weg stehenden Indios und stand nach drei Wochen, am 25. September 1513, tatsächlich vor dem Hügel. Und de Balboa – er schien durchaus begabt für Drama und Nachruhm – befahl seinen Soldaten, hier zu warten. Er wolle allein den Anblick genießen, allein auf ewig der »erste Spanier, der erste Christ« sein, der die Verheißung zu Gesicht bekomme. Und er bekam sie. »Sprachlos« soll er gewesen sein. Und nannte den See, nachdem er die Sprache wiedergefunden und gemerkt hatte, dass das Wasser nach Salz schmeckte: »la mar del sur«, die Südsee. Und nahm sie – der Weiße Mann kann nicht anders – umgehend für seinen König »in Besitz«. Weitere 165 Millionen Quadratkilometer für die Christenheit!
Himmel, wie menschenfreundlich schien da mein Blick vom 360 Meter hohen Yasur. Serena, die Greisin, zeigte auf ein apokalyptisch schönes Panorama. Da unten lag der Isiwi Lake, millionenfach kleiner als de Balboas Ozean, nur ein Seelein. Aber in dem flachen, smaragdgrünen Teller, vollkommen umrahmt von grauer Lava-Asche, steckten ein halbes Hundert Kokospalmen, die – der Gipfel der Wunderlichkeit – verkehrt herum(!), mit den Wurzeln nach oben, in den Himmel ragten. Erfunden wie pure Science-Fiction, ja, wie ein wild-wahnsinniges Gemälde von Dalí. Doch der Maler hatte immer sein Genie gemalt, sein Unbewusstes, seine halsbrecherischen Kopfgeburten. Doch hier war alles real, wirklich, weltlich, beharrlich vorhanden. Auf unumstößliche Weise konnte ich es sinnlich, mit allen meinen Sinnen, erfahren.
Ich glaube, ich stammelte. Irgendwann hatten die vier Erbarmen und klärten mich auf: Vor nicht langer Zeit war hier der Zyklon Uma über die Insel gewütet und hatte am anderen Ende der Insel mit kosmischer Kraft die Bäume aus der Erde gerissen, sie kilometerweit durch die Luft geschleudert und hier in den Seeboden gerammt. So mächtig seine Gewalt, dass er den Bäumen sogar die Rinde weggefetzt hatte. Wie bleiche Knochen stakten sie nun aus dem türkisfarbenen Wasser.
Ich setzte mich. Um die Druckwellen der Verzückung auszuhalten. Noch gesteigert durch das Zittern und Donnern des Bergs im Hintergrund. Ich saß mitten in einer Apotheose, ja, jetzt war ich tatsächlich Gott, so göttlich beschenkt, so überhäuft. Und die vier sagten kein Wort, taktvoll ließen sie mich sitzen und überwältigt sein. Wie eine Droge fuhr der Anblick von Schönheit in mich. Ich war jetzt nicht mehr zurechnungsfähig, ich war Opfer einer Urgewalt.
Irgendwann riss ich mich los. Nachdem ich das »Bild« immer wieder gescannt hatte. Nichts sollte mir entgehen, alles sollte mich – Pixel für Pixel – für immer begleiten. Erst am Fuße des Vulkans tauchte ich wieder auf, kam zurück in die Welt. Das war der Moment, in dem mir der christliche Seefahrer Vasco Núñez de Balboa einfiel. Und ich laut zu lachen anfing. Denn so spielerisch, so unbekümmert war ich zu meiner Sprachlosigkeit gekommen. Während er – der ehemalige Schweinezüchter, der auf Eroberer umgesattelt hatte – morden und totschlagen musste, um auf seinen Berg zu gelangen. Noch umwerfender erschien mir die Lage, als ich begriff, dass ich den Isiwi Lake nicht besitzen, ja, ihn auch nicht im Namen meines Bundeskanzlers erstürmen wollte. Selbst das Wissen, dass ich nie und nimmer der Erste war, der hier von dieser Glückseligkeit heimgesucht wurde, störte mich nicht. Am allererfreulichsten jedoch war die Gewissheit, dass ich eines Tages nicht enthauptet würde. Wie der »Südsee-Entdecker«. Von einem noch Gierigeren.
Wir fünf zogen zurück ins Dorf, gerade rechtzeitig, denn Kava time hatte bereits begonnen. Vanuatus Nationalgetränk, eine gepresste Pfefferpflanze mit Wasser vermischt. Eine Promillebombe. Nach zwei Schalen war ich gliederleicht betrunken. Jeder kicherte, selig voll. Sie wussten alle von meinem Glück und lächelten mir zu. Ach ja, dunkel fiel mir ein, dass ich kein einziges Foto gemacht hatte. Ich wäre sicher zu behext gewesen, um den Auslöser zu finden. Wie belanglos, ich glaube ohnehin nicht, dass »ein Bild mehr sagt als tausend Worte«, ich glaube, nein, ich weiß: Ein paar Minuten (leidenschaftlicher) Wirklichkeit zählen heftiger als tausend Bilder.