Rassismus, Dummheit und göttliche Anmaßung
Leute, die behaupten, sie seien keine Rassisten, haben (meist) keine Ahnung. Weder von sich noch von diesem Wort. Sie glauben, kein Rassist zu sein bedeutet, an einem Araber, einem Schwarzen oder Roma – oder wer auch immer gerade als Sündenbock aktuell ist – vorbeigehen zu können, ohne die Lust auf einen Totschlag zu verspüren. Wie rührend. Als ob sich das Phänomen Rassismus nicht auf ungemein komplexe Weise ausdrücken würde. Es hat viele Schichten, ein Beispiel: Das Gesicht eines Weißen ist ein Gesicht. Das Gesicht eines Schwarzen ist zuerst schwarz und dann ein Gesicht. Vielleicht ist diese Abfolge von Wahrnehmung die subtilste Form von Wertung. Und sicher ist »Niggeraufhängen« in Alabama die radikalste. Aber dazwischen lauern die Grautöne. Die von den meisten gar nicht wahrgenommen werden. Deshalb diese munter vorgetragene Selbstzufriedenheit: »Ich? Rassist? Was für ein Blödsinn!«
Reisen ist ein äußerst effizientes Mittel, um einen Blick zu riskieren. In seine schöne Seele und – wenn der Reisende nur genügend Nerven mitbringt – auf die Schatten über ihr, die immer wieder aufziehen. »Gehen Sie in sich, wenn Ihnen nicht graust.« Der Satz stammt von Gottfried Benn. Ein rabiater Imperativ, aber er könnte helfen beim Entdecken, beim »Heben« längst verdrängter Gefühle. Eben kalter Gefühle, hochmütiger, nicht sehr menschenfreundlicher.
Doch die Diagnose muss in keinem Desaster enden. Selbst wenn sich einer bei Gedanken erwischt, die er – mitten auf der Welt, weit weg von seiner glorreichen Heimat – lieber verschweigt: Sein Verstand kann sich ja entwickeln, sein Bewusstsein wachsen. Vom Kleinhirn eines Stammtischbruders zum Denken eines Kosmopoliten.
Die Vereinigten Staaten waren, zumindest quantitativ, die größten Sklavenschinder in der Geschichte der Menschheit. Und irgendwann führten sie einen Bürgerkrieg, weil ein Teil der Bevölkerung erkannt hatte, dass kein menschliches Wesen je auf die Welt kam, um als Beutestück einem anderen zu dienen. Und 1948, knapp hundert Jahre später, wurde von den Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ratifiziert. Mit dem wunderschönen ersten Satz: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Es dauerte ein bisschen, ein paar Millionen Jahre, bis er auf der Welt war. Der Satz da. Er ist gewaltig anstrengend. Und alle – der Hockenbleiber und, in viel provozierender Weise, der Reisende – können jeden Tag nachprüfen, wie sie es damit halten. Mit der Freiheit und der Würde und den Rechten eines anderen. Auch mit denen eines ganz und gar anderen.
Reisen verblödet. Das ist so wahr wie das Gegenteil. Weil so mancher darauf besteht, nur das zu sehen, was er bereits weiß. Zu wissen glaubt. Er umrundet zehn Mal den Globus und landet immer wieder als derselbe Ignorant, als der er vor Urzeiten an Bord gegangen war. Das ist wie mit einem Kind, das zur Schule geht. Passt es nicht auf, wird es nichts lernen. Nie. Nicht anders der Erwachsene, der die Welt besucht. Er muss es achtsam tun, erpicht, er muss hungern und dürsten nach Wissen und Weisheit, nach allem, was herzugeben sie bereit ist. Hinschauen reicht nicht. Wie das (wache) Kind muss er fragen, fragen, fragen. Tut er das hartnäckig genug, wird er begreifen, dass wir – er und die vielen anderen – uns ziemlich ähneln. Und: dass wir uns gleichzeitig gewaltig voneinander unterscheiden. Das macht den Reichtum der Welt aus.
Es sind oft die lautlosesten Nebengedanken, die einen auf die Spur führen, auf das eigene, einspurige Wahrnehmen der Wirklichkeit. Hier ein so simples Beispiel: Ich recherchierte über »les gens de voyage«, die Zigeuner in Frankreich. Ein Riesenthema im Lande, angeheizt von Ex-Präsident Sarkozy, der von dem Wahn getrieben wurde, sie alle wieder zurückzuschicken. Nach Rumänien, nach Bulgarien, wohin auch immer. Nur weg, weit weg.
Als ich den ersten Wohnwagen betrat, hereingebeten von Emilian und seiner Frau Vera, war die Falle schon zugeschnappt. In meinem Kopf. Denn ich war sicher, dass es bei solchen Leuten – so gastfreundlich sie sein mögen – eher unordentlich zugeht, im besten Fall. Und wüst im Normalfall. Nein, hundert Mal nein, bei den Gorneanus sah es aus wie bei den deutschesten Kleinbürgern. Häkeltischdecke, darunter eine Plastiktischdecke, Bommel an den Vorhängen und eine Porzellanuhr – Modell Aufbäumendes Pferd – über dem Glasschrank. Das Absurde: Ich hatte früher schon Kontakt mit dem »fahrenden Volk« gehabt: in Irland, in Spanien, in Polen. Und meistens war es so wie jetzt gewesen. Eher spießig als verkommen. Ich wusste also, dass es nicht so sein würde, und trotzdem: Ich war bereits (wieder) manipuliert, von einer Regierung, von einer gewissen Presse. Mir völlig unbewusst. Bis ich das kleine Treppchen hochstieg und als Schaf auftrat, das dachte, was alle Schafe denken: eben nichts. Oder eben das, was andere ihm zu denken kommandieren. Rassismus ist wie der Dreck unter den Fingernägeln: Man muss überhaupt nichts tun, er kommt von selbst. Ihn bekämpfen, den eigenen und den der anderen, das macht Arbeit, das fordert Geistesgegenwart.
Von Bert Brecht stammt die kluge Behauptung: »Die Wahrheit ist immer konkret.« Das ist eine Zeile, die uns alle überfordert. Um wie vieles leichter wäre das Leben, wenn die Wahrheit nicht konkret wäre, sondern ein für alle Mal Gültigkeit hätte. So wie bei den Religionen, wo Denken verboten ist, weil jeweils einer vor Jahrhunderten, ja Jahrtausenden, die »Wahrheit« erfand. (Und ein anderer Religionsstifter, ein anderer Anstifter zum Aberglauben, eine ganz andere phantasierte. Und ein Dritter die seine, etc.) Und uns – das eher kleine Häuflein, das nicht glauben will, weil wir lieber zum Wissen konvertieren – ins ewige Feuer schickte. So menschenfreundlich verkünden es die Schafe.
Welch gnädiges Schicksal widerfuhr da einem aufgeknöpften »negro« am Apfelbaum des Sheriffs. War das Genick gebrochen, hatte er Ruhe. Wir nicht: Wir anderen Schafe, die schwarzen, werden »verdammt«, auf immer. Was für ein himmlisch-höllischer Rassismus.
Nur eine Wahrheit predigen – die Geschichte hat es blutig bewiesen – muss in Mord und Totschlag enden. Ihr Anspruch ist noch viel anmaßender als Sarkozys rhetorische Flammenwerfer, die uns einreden wollen, dass nur mit superechten Franzosen ein schönes Frankreich blüht. Wie eben, global geredet, eine schöne Welt nur dann floriert, wenn wir alle an denselben göttlichen Stuss glauben.
Die Fratze des Rassismus hat tausend Masken. Jeder, der nicht aussieht wie die Mehrheit, nicht denkt wie sie, nicht spricht wie sie, nicht sexuell funktioniert wie sie, nicht buckelt wie sie, der muss – hätten die Unnachgiebigen nur die ganze Macht – eliminiert werden. Für sie alle, die weltweiten Dunkelbirnen, hat es Einstein auf den Punkt gebracht: »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit. Aber beim Universum bin ich noch nicht sicher.«
Der Rassismus kann noch in einen weiteren Hinterhalt führen. Stichwort Lichterketten-MenschInnen. Jene mit den Engelsaugen, die heiter in alle Welt rufen: »Du bist schön, ich bin schön, wir alle sind schön!« Oder nach einem Love-your-Body-Workshop selig durch die Gassen hüpfen, verklärt trällernd: »Du bist Buddha, ich bin Buddha, wir alle sind Buddha!« Für sie gibt es kein Arg in der Welt. Fremdenhass ist ihnen fremd, über jedem Haupt eines Nicht-Weißen zünden sie einen Heiligenschein an. Für sie ist jeder Ausländer – am liebsten andersfarbige Ausländer – herzensrein, herrlich und makellos. Und stets das Opfertier.
Gespräche mit diesem auserwählten Volk der penetrant Blinden und Tauben scheinen kaum möglich. Wie ihre Lieblingsfeinde, die Rassisten, haben sie sich dazu entschlossen, nicht die Wirklichkeit wahrzunehmen, sondern sie grundsätzlich zu retuschieren. Die einen mit Finsterschwarz, die anderen mit Rosa. Beiden Fronten ist das Wort »konkret« zu mühselig.
Noch eine Anekdote. Seit der Veröffentlichung meines ersten Buches war mir ein Kritiker treu geblieben. Der mich nicht mehr losließ. Hatte er mich doch sogleich als »hochmütigen Reisenden« ausgemacht. Auslöser seiner jahrelangen (verbalen) Verfolgungsjagd war eine Szene, die an der mauretanisch-malischen Grenze spielte, ich schrieb: »… auf einer zerschlissenen Chaiselongue lungern dösig drei Grenzer. (…) Es dauert, bis sie sich aufraffen. Man sieht ihnen den Kampf an: zwischen der Schwerkraft ihrer Trägheit und der Lust abzuzocken. Letztere obsiegt. Ächzend lümmeln sie sich hoch …«
Solche Sätze, so der Verfolger, waren »menschenverachtend«, kein Schwarzer lümmelt, kein Schwarzer ist träge, kein schwarzer Zöllner ist korrupt. Undenkbar, es konnte sich bei diesem Autor nur um einen rassistischen Wicht handeln. Dass ich in dem Text mehrmals von Weißen erzählte, denen man nachts lieber nicht allein auf der Straße begegnet, spielte keine Rolle. Die weiße Schlechtigkeit verstand sich von selbst, aber schwarze Abzocker, lümmelnd? Nein, das konnte nicht sein. So ging es Buch um Buch. Einen Höhepunkt erreichten wir, der Kritiker und ich, als ich irgendwann von einem »schwarzen Rassismus« sprach, ja erwähnte, dass sich so mancher Afrikaner die Freiheit nimmt, jemandem, der noch schwärzer ist als er, mit »Respektlosigkeit« zu begegnen (um es milde zu formulieren). Eine solche Behauptung schien der Gipfel der Niedertracht. Nicht die Respektlosigkeit, nein, ich, der darüber schrieb.
Über die Jahre wurde mir bewusst, dass Gutmenschen besonders unter meinen Büchern leiden. »Dümmster Reiseschriftsteller aller Zeiten«, nannte mich einer zornbebend in seiner Kritik. Auch er wollte nicht fassen, dass ich – diesmal in einem Buch über Südamerika – bisweilen von Männern und Frauen berichtete, die mir weder durch ihre Freundlichkeit noch durch ihren Intelligenzquotienten aufgefallen waren. Man staune, auch dort gibt es solche Exemplare. Hat hier also der »dümmste Leser aller Zeiten« sein Herz ausgeschüttet? Also, so weit würde ich nicht gehen. Aber dass auch Lesen nicht vor Geistesschwäche schützt, so weit gehe ich.
Natürlich: Viele, die auf schwierigen Pfaden unterwegs sind, auf Territorien, wo nicht alle zweihundert Meter ein Luxusbunker steht, werden sich bisweilen die Hasskappe überziehen. Nicht, weil sie hassen und verachten wollen, nein, es passiert, weil die Anwürfe zu zahlreich kommen, die Drangsal zu vehement ist, der Gestank, die Hitze, der Fatalismus nicht mehr zu ertragen sind. Weil sich die Wirklichkeit im Augenblick nur als eine herzzerreißende Gemeinheit präsentiert. Dann will man stehen bleiben und in den Himmel schreien. Vor Wut, vor Verdrossenheit.
Das ist kein Drama, eher menschlich. Wichtig nur, dass sich die Feindschaft wieder legt. Dass aus dem Zorn kein Grundgefühl wird. Dass der Swing zurückkommt, die Freude, der Versuch, sich ein weiteres Mal mit der Welt zu versöhnen.
Ein Werbespruch der Deutschen Bank lautete vor Jahren: »Reisen bildet, zum Beispiel Kapital«. So sind sie, sie können nicht anders. Noch auf dem Sterbebett werden sie das Wort money stöhnen. Als ihr letzter Furz an die Nachkommen. Nehmen wir lieber einen Dichter, nehmen wir Lord Byron. Dem Engländer fiel etwas anderes zum Reisen ein, als Geldscheine zu stapeln. Er sprach von einer »sehnsuchtsvollen Leere«, die uns in die Welt treibt. Um diese Leere mit »zügellosen, heftigen Unternehmungen« zu stillen. Denn »das große Ziel des Lebens ist das Empfinden, dass wir existieren«.
Ich höre diese wilden Sätze gern. Auch wenn das Pathos aus dem vorletzten Jahrhundert stammt. Auch weil sie frei aller Moral sind. Auch weil sie nicht trösten, sondern an Jetzt erinnern. Moralfibeln sind schauerlich. Ich wäre schwer betrübt, wenn dieses Kapitel als solches verstanden würde. Zum Teufel, nein. Es soll nur daran erinnern, dass dieser eine Satz – »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren« – sondergleichen unser Leben bereichert. Das eines Reisenden allemal. Klar, man muss die elf Wörter spüren, sie als wahr begreifen, ohne jedes Wenn und Aber. Wer das nicht kann, nicht fühlen kann jenseits aller rationalen Begründung, der wird sie als Wirklichkeit nicht erkennen.
»Es gibt drei Wahrheiten«, sagen sie in Afrika, »meine Wahrheit, deine Wahrheit und die Wahrheit.« Das ist ein cooler Satz.