Tricks

Ich mag die Gutmenschen nicht, sie sind mir zu gut. Ich misstraue ihnen, vielleicht tragen sie nur die Maske des Guten. Zudem haben sie den Kopf voller Flausen statt voller Wirklichkeit. Sie schauen nicht hin, sie schauen weg. Sie wollen die heile Welt, mit lauter heilen Menschen.

Aber die haben wir nicht. Wir haben augenblicklich einen Planeten, der von ziemlich vielen Unheilvollen ruiniert wird. Dass die meisten, also wir – ob nun Gutmensch oder nicht – via Gier am Unheil mitarbeiten, ist ein alter Hut. Denn der große Haufen brüllt noch immer – mit himmelwärts verdrehten Augen wie in einem Dick-und-Doof-Film – nach Wachstum. Der entfesselte Schwachsinn, wie üblich. Ist uns Habsüchtigen, jenen, die von der Sucht nach Haben nie genug bekommen, noch zu helfen?

Reisende sind ein bisschen schlauer. Mit einem Teil ihres Geldes kaufen sie weder Blech noch Beton, sondern so federleichte Sachen wie ein Ticket. Fünf Gramm wiegt das Stück Papier, ist gut anzusehen und braucht keine fünfzigtausend Jahre, um zu verwittern. Es liegt elegant in der Hand und gilt als Passierschein in die Welt. »Erdkunde« einmal anders: einmal direkt, sinnlich, mit allen Sinnen erfahrbar. Für ein paar Tage, für ein paar Wochen, für ein paar Monate. Zum Vergnügen kommt die Nützlichkeit. Denn Reisen nutzt (auf das Nutzlose komme ich noch zu sprechen) der Gegenwartserkenntnis, der Freude am Leben. Trotz alledem. Trotz der Hyänen, mit denen wir den Planeten teilen müssen.

Zugegeben, das folgende Kapitel ist stark davon beeinflusst, dass ich als Reporter arbeite, sprich, nur immer eine Aufgabe habe: Geschichten zu finden, die es wert sind, dass ein lesender Mensch dafür bezahlt. Mit seinem Geld und – unbezahlbar – seiner Lebenszeit.

Aber jeder von uns, ob nun Schreiber oder einfach nur reisender Weltverliebter, sucht nach Storys, die ihm helfen, seinen Platz genauer zu bestimmen. Über den Umweg der Ferne kommt er anderen nah. Und sich. Nur trauen muss er sich. Und ein paar Tricks sollte er kennen. Damit er haarigen Situationen entrinnt und an die vielversprechenden rankommt.

Wer allerdings zu den geistig eher nachlässig Beschenkten gehört, die uns auffordern, immer stante pede »die Wahrheit« zu sagen, der sollte jetzt mit dem Lesen aufhören. Hätte ich sie immer ausgesprochen, ich säße nicht an diesem Montagmorgen am Schreibtisch, um mich an dem vorliegenden Text abzuarbeiten. Der Ewig-Wahrheitssager ist ein Strohkopf, der nichts vom Weltenlauf und den Weltbewohnern verstanden hat. Denn wir hätten – schleuderten wir uns 24 Stunden pro Tag die nackten Tatsachen um die Ohren – einen Weltkrieg nach dem anderen. In bestimmten Umständen, bestimmten wohlgemerkt, gehört Flunkern oder auf Biegen und Brechen die Wahrheit Vermeiden zu den respektvollsten Handlungen, zu denen ein Mensch einem anderen gegenüber imstande ist. Dass, wieder unter bestimmten Gegebenheiten, die Wahrheit laut und deutlich Aussprechen ein Akt von Zivilcourage und Anstand ist, auch das wissen wir. Wir, die wir bisweilen kichernd und schuldgefühllos schwindeln. Ich pfeife auf das gute Gewissen, wenn es mich am Leben hindert.

Konkret. Ich bin in Néma, in Mauretanien, der letzten Stadt vor der Grenze nach Mali. Ich brauche einen »Ausreisestempel«. Überraschenderweise ist der Stempelbesitzer, so berichtet sein Kollege, bereits nach Hause gegangen. Um drei Uhr nachmittags. Aus dem Afrikanischen übersetzt heißt das nichts anderes, als dass man einen Schein übergeben muss. Damit der Stempel auf magische Weise wieder auftaucht. Aber diesmal – nach manchem Debakel – halte ich eine Finte bereit, die kaum noch zu toppen ist. Ich ziehe eine französische Ausgabe des Korans heraus und lese glaubensfest und pathetisch den dick unterstrichenen Vers 14 aus der Sure vier vor: »Doch wer Allah und seinen Gesandten widerspricht und Allahs Richtlinien überschreitet, den wird er ins Feuer eintreten lassen, darin wird er ewig bleiben. Und für ihn ist eine erniedrigende Peinigung bestimmt.« Dramatischer und höllischer kann man es nicht erfinden.

Die drei Zeilen – obwohl ohne jede Beziehung zu meinem Anliegen – wirkten wie ein Sesam-öffne-dich. »Ah, vous êtes musulman!« Na klar bin ich das. Ich muss folglich ein guter Mensch sein. Für die gibt es jede Erlaubnis. Peng, der plötzlich vorhandene Stempel saust, mit einem herzlichen »Bon voyage« bin ich entlassen.

Bei einem christlichen Irrläufer, diesmal in Amerika, waren nur Christen die besseren Zeitgenossen, Moslems verachtete er. Diesmal wollte ich keine Erlaubnis, diesmal hungerte ich nach Erlösung: in Baton Rouge, in Louisiana, im Family Worship Center von Jimmy Swaggart, dem grandiosesten Moralapostel der westlichen Hemisphäre. Und (mehrmals) ertappten Bordellbesucher. Neben den Anhängern des Islams hasste er noch weitere Millionen. Eine Auswahl: die Tänzer, die Rocker, die Schwulen, die Juden, die Kommunisten, die Wissenschaftler, die Abtreiberinnen und – Sex. Den hasste er am verzweifeltsten. Er war berühmt, er war berüchtigt, er war unheilbar geil. Und er konnte heucheln und greinen wie keiner.

An diesem Sonntag in Baton Rouge, nachdem alles öffentliche Wimmern und Stammeln hinauf zu Lord Jesus ein Ende hatte, eilte ich nach vorne zur Bühne, um beim Meister die Absolution zu erbitten. Denn ich müsse, so beichtete ich unter Würgen, Tag und Nacht an nackte Frauen denken. Ob er mich nicht davon befreien könne? Denn nacktes Frauenfleisch konnte unmöglich gottgefällig sein. Und Amerikas begnadetster Pharisäer legte seine warmen Onanistenhände auf mein Haupt und forderte – meisterlich ölig – »Sátanos« auf, zurück zur Hölle zu fahren.

Ich habe unseren Auftritt infam genossen. Niemals wäre mir das Vergnügen dieser Hanswurstiade zuteilgeworden, hätte ich den Mann offiziell – also »wahrhaftig« als Reporter – interviewt. Nichts als einen Sack Lügen hätte er mir überlassen. Ich musste auf sein Niveau hinunter, um ihn auszustellen: als Scharlatan, der von der Unbedarftheit der Massen lebt und mit hochheiligem Schwachsinn bei ihnen abzockt. Die Wahrheit ist scheu, manchmal muss einer Umwege – auch die der Täuschung, der Maskerade – einschlagen, um sie aufzuspüren.

Dritter Vorfall: Ich war in den Vorstädten von Paris unterwegs, um dort über die »braune Szene« zu recherchieren. Mitten unter den Glatzen mit ihren Hakenkreuz-Tätowierungen auf den Nazi-Muskeln habe ich mich schwer gehütet, meine Meinung preiszugeben. Im Gegenteil, ich trat eher als Sympathisant auf, ließ anklingen, dass mir ihr Gedankengut nicht fremd sei. Denn erst, so der Trick dahinter, wenn der andere sich in Sicherheit wiegt, sich angespornt fühlt, macht er auf, plaudert sich aus und breitet ungeniert den ganzen rassistischen Müll aus, der sein Hirn verstopft.

Nicht anders mit einem islamistischen Wirrkopf in Kairo. Nachdem ich ihm das Märchen erzählt hatte (dabei innig meinen Koran schwenkend), dass ich vom Katholizismus zum Islam übergetreten sei, legte er los. Mit den apokalyptischen Visionen einer rabiaten Scharia, die über die Welt herrschen sollte. Wie erhellend sein Sermon. Und wieder begriff ich: Man kann mit Schwachstrombirnen nicht diskutieren, ihnen nicht widersprechen. Man kann sie nur aushorchen und denunzieren.

Fünfter Streich. In Marseille war ich mit Abdelkadar verabredet. Ich hatte ihn vor Jahren in Algier kennengelernt. Inzwischen arbeitete er als Chirurg in einem hiesigen Krankenhaus. Er war noch immer derselbe Kindskopf. Aber mit ihm konnte man Pferde stehlen. So sprachen wir am nächsten Tag beim Rekrutierungsbüro der Fremdenlegion vor. Jener paramilitärischen Truppe der französischen Armee, die für meist dubiose Unternehmen eingesetzt wurde. Ähnlich dubios waren die Legionäre: viele Ausländer darunter, viele Kriminelle. Wir fanden das Bureau, Recrutement/Jour et Nuit stand auf dem Schild. Wir läuteten. Um Punkt neun. Wir wollten wissen, ob es in dieser unter schwerem Rassismusverdacht stehenden Stadt einen Ort gab, an dem Abdelkadar – der Araber – gleichberechtigt behandelt würde.

Wir stellten uns als zwei »ratés« vor, zwei Versager im bürgerlichen Leben. Doch jetzt hätten wir Lust auf Abenteuer, auf ein Männerdasein. Das gefiel dem diensthabenden Offizier, er blickte mir fest in die Augen und sprach: »Sie gehören der weißen Rasse an, dafür haben wir grundsätzlich Verwendung.« Mit dem Nicht-Weißen gäbe es allerdings Schwierigkeiten. Nur dreißig Prozent des Kontingents seien dafür reserviert. Während Sergeant M. mit der Kommandantur telefonierte, um zu erfahren, ob es doch noch eine freie Stelle »pour un arabe« gäbe, lächelten wir uns an, Abdelkadar und ich. Jetzt wussten wir: Diesen Ort gab es nicht.

Auch für diese Übung war ein Griff in die Trickkiste nötig gewesen. Aussagen wie »weiße Rasse immer« und »Araber nur bedingt« existierten offiziell nicht. Nie schriftlich. Man erfährt davon nur, wenn man – in diesem Fall als Reporter – ein Lügenspiel inszeniert. An dessen Ende die Wahrheit auftaucht.

Noch ein paar Kniffe, um Nähe herzustellen zur Wahrheit, zur Tatsächlichkeit: Ich ändere im Handumdrehen meine Nationalität (wie den Beruf ), manchmal bin ich Amerikaner (mächtig), manchmal Schwede (machtlos), manchmal Jude (riskant), manchmal Atheist (auch riskant), manchmal Fundamentalist (ganz gleich welchen Irrglaubens). Ich bin immer das, was der Person, die mir gegenübersitzt, das Reden, das Sichausreden, erleichtert. Selbstverständlich muss ich ihn (sie) richtig einschätzen. Dann »verkleide« ich mich, sodass der andere mich – sprich, das, was ich wirklich denke – nicht sieht. Befinde ich mich unter Ausländern, die ihre Meinung über Deutschland äußern, dann bin ich sicher nicht Deutscher. Denn umgehend würden sie sich zurückhaltender ausdrücken. Aber ich will die Wirklichkeit hören, will keine Konvention, kein unverbindliches Geschwatz.

Könnte ich mir ein anderes Leben wünschen, ich wäre gern Tyll Eulenspiegel gewesen, der sagenhafte »trickster« aus dem vierzehnten Jahrhundert. Ein Listiger, dem viele Mittel (immer gewaltlose) recht waren, um die Realität hinter all den Masken zu entdecken. Zu seinen Lieblingsopfern gehörten die Pfaffen, denn Religion eignete sich schon damals vortrefflich, um als Scheinheiliger unheilig zu leben. Aber Tyll war nie Rächer und Töter, nur immer Schelm, der allen Weihrauchtiraden misstraute. Ein Menschenfreund, der einiges riskierte, um die Freunde von den Feinden zu unterscheiden.

O. k., das waren ein paar Ratschläge für die hardcore travellers, für jene, die laut Montesquieu »eine begierige Gemütsart nach neuen und unbekannten Dingen antreibt«. Die folgenden Bluffs taugen für alle, auch diejenigen, die von keinem professionellen Ehrgeiz gejagt werden. Bluffs, die Distanz schaffen und, wenn gewünscht, willkommene Nähe.

Stichpunkt Bettler. Ein Riesenproblem, dem keiner von uns als Reisender entgeht. Wir (Weißen) gehören eben zur upper class, zu den Paschas, unser Phantombild ist auf allen fünf Kontinenten bekannt. Sogar Blinde erkennen uns: an unserem Eau de Toilette, an unserem (eher herrischen) Ton, am Klicken jener schweren Gerätschaften, die an unseren Körpern baumeln. Wie gehen wir folglich mit den restlichen fünf Siebteln um, den Habenichtsen? Wie kein Unmensch werden und wie sich gleichzeitig nicht für alles Leid auf Erden verantwortlich fühlen? (Gutmenschen lieben es allerdings, sich schuldbeladen durchs Leben zu schleppen.) Wie Beinlose am Weg übersehen und wie einen Sechsjährigen überhören, der »I am hungry« ruft? Wie den Ruf eines Gestrandeten ertragen, den das Leben um alles betrogen hat? Zähe Fragen, die jeden heimsuchen, der sich auf den Weg macht und dessen Herz noch nicht von Kälte und Sattheit vereitert ist.

Ich habe lange gebraucht, um einigermaßen klar zu werden. Auch zu erkennen, dass ich so edel nicht bin, wie ich mich gern hätte. Und dass weder Bill Gates noch ich die zwei oder drei Milliarden retten können, die mit (umgerechnet) zwei oder drei Dollar pro Tag über die Runden kommen müssen. Kurzum, ich habe ein festes Budget, das ich – Stichwort Welthungerhilfe – täglich ausgebe. Bevorzugt an Alte, die ihre Zukunft schon hinter sich haben. Und an Kinder, die wohl nie eine haben werden. Trotzdem, ich empfinde dabei kein Gefühl von Befriedigung. Weil ich ja mehr geben könnte. Aber nicht tue. Ich rücke das Geld vor allem deshalb heraus, um den anderen kurzzeitig zu befrieden, ihn ruhigzustellen. Während mir selbst das bisschen Cash als eine Art Lösegeld vom schlechten Gewissen dient. Aber es erlöst mich nicht. Das Dilemma bleibt.

Wie dem auch sei, jetzt will ich die Finten aufzählen. Ich habe sie mir hart erarbeitet. Ich greife immer dann auf sie zurück, wenn a) die Penetranz überhandnimmt, sprich, wenn Einmalgeben Zehnmalgeben heißt. Wenn b) ein armer Schlucker ein hinter dem nächsten Eck verstecktes Heer anderer Hungerleider animiert, sich mir in den Weg zu stellen. Oder wenn c) ein prachtvoll muskulöser Kerl vor mir steht, nicht ahnend, dass ich ihn sofort als Schlitzohr verdächtige, das haupt- und nebenberuflich als Faultier unterwegs ist. Ich mag solche Situationen, sie stimulieren meinen Spieltrieb.

Trick Nummer eins, eher solide, aber nur für die Punkte a) und b) verwendbar: umgehend – direkt vor dem Bittsuchenden – mit beiden Händen gleichzeitig die zwei Zipfel der Hosentaschen herausziehen (klug wäre, vorher die Scheine woanders zu verstauen), Subtext: Schau mal, ich bin abgebrannt wie du, kein Nickel weit und breit! Diese fast biblische Geste wirkt erstaunlich überzeugend. Man steht als glaubwürdiger (schändlich outrierender) Besitzloser vor einer grundehrlichen Haut, die nun – meist – einsichtig weiterzieht.

Trick zwei, überall verwendbar: Sobald sich ein Bedürftiger nähert, sofort an ihm vorbei in die Ferne schauen, sofort einer imaginären Figur zuwinken und losgehen. Energisch. So als hätte man einen alten Bekannten gesichtet, den man jetzt unbedingt sehen will, ja muss. Klar, in Richtung eines Polizisten marschieren zeigt natürlich noch mehr Wirkung. Wer Pech hat (wie ich einmal), eilt dann auf einen Ordnungshüter zu, der ebenfalls die Hand ausstreckt. Ich habe sie dann sogleich ergriffen und die schöne Uniform gelobt. Wer nicht geben will, muss preisen. Ist doch auch ein Geschenk, oder?

Trick drei, und auch er kann in allen 194 (offiziellen) Staaten der Welt eingesetzt werden. Er ist ein gar menschlicher Trick, der den anderen, den Bittsteller, zu einem Handel einlädt. So verschwindet der Geruch des Schnorrens und beide fühlen sich besser: Ich sage: »D’accord, ich rücke etwas heraus, aber vorher will ich eine Geschichte erzählt bekommen.« Und den meisten gefällt der Deal. Und sie berichten. Und ist die Geschichte brauchbar, muss sie bezahlt werden. Ohne Widerrede.

Doch in den drängendsten Fällen – in denen keine Storys und keine Fluchtbewegungen mehr aushelfen – greife ich zu einem Ablenkungsmanöver, das an Heuchelei kaum zu überbieten ist. Meine Königsmasche. Sie funktioniert immer in jenen Ländern, in denen Religion noch virulent ist: in den USA, in Südamerika, in weiten Teilen Asiens und Afrika. Da ich als Kind, an jedem Sonntag, in jeder Zehn-Uhr-Messe, selbst Opfer pfäffischer Ergüsse wurde, beherrsche ich den Schmalz »geistlicher« Ergriffenheit perfekt.

Hat man sich also entschlossen, kein Geld zu geben, dann sollte man als hochmoralische Autorität auftreten. Und unbedingt den feierlichen Ton intus haben. Damit das Gesülze tadellos rüberkommt. Etwas Salbungsvolles muss mitschwingen, etwas musterhaft Bigottes. Und der Erfolg – es wundert mich immer wieder – stellt sich ein. Versprochen. Ich bin bisweilen so gut im Vorstellen meiner eigenen, unvergleichlich schicklichen Person, dass mein Gegenüber, das mir gerade noch Geld ablisten wollte, sein ursprüngliches Anliegen vergisst und um missionarischen Beistand bittet. Den ich sogleich großzügig spende (während ich alles Geld behalte). Ich zitiere den Herrgott oder Allah oder jeden anderen Beliebigen, der in der Gegend von sich als Weltenherrscher reden macht. Und predige Anstand und zivilisiertes Betragen, sprich, fleißige Arbeit und den festen Vorsatz, nie mehr zu betteln. Wie Manna fahren meine Sprüche in den Zuhörer. Das ganz Unfassbare: Nach Minuten zieht er gestärkt von dannen, murmelt gerührt einige Dankesworte.

In solchen Augenblicken bin ich hochgradig verabscheuungswürdig, ich weiß. Am verabscheuungswürdigsten in den Augen der moralisch Tadellosen. Doch, ich gestehe, verschiedene Motive treiben mich an: entweder mein kindischer Spieltrieb und/oder die gelegentliche Niedrigkeit, die es beizeiten satt hat, als holy Andrew und aller Welt Freund durch die Lande zu ziehen. Ich bin nicht immer sittlich in Hochform. Bin dann eher niedrig, unduldsam, schlecht gelaunt und ziemlich desinteressiert am Lauf der Welt.

Kommt es noch schlimmer, rutscht mir die Hasskappe über die Augen. Dann ruht mein Freundschaftsvertrag und ich brauche einen Tag und eine Nacht, um wieder einer zu werden, der mitfühlen kann, eben einer, der noch immer nicht begriffen hat, warum die einen zu viel haben und die anderen immer nichts.

Nun kommen die anderen Tricks, die auf eher harmlose Weise das Leben des Reisenden erleichtern, ihm helfen, in gewissen Situationen Lebenszeit zu sparen. Und freie Radikale. Wie beim Anblick einer dreißig Meter langen Menschenschlange vor einem indischen Ticketschalter. In einem Bahnhof mit indischen Innentemperaturen und einem Beamten, den schon vor Jahren eine Tsetsefliege stach.

Was tun? So einfach: aus gewisser Distanz mit energischem Blick die Männer checken (Frauen checken Frauen aus), die anstehen. Und dann mit festen Schritten auf einen zugehen, der sich ziemlich weit vorne befindet und – ihn freudestrahlend begrüßen. Als guten Freund, den man doch vor Wochen im Zug getroffen hat. Gleich die Hand hinstrecken, gleich lossprudeln, gleich keinen Zweifel aufkommen lassen. Und dann neben ihm stehen bleiben, sich unbedarft »reinschmuggeln«. So, als hätte der andere auf einen gewartet. Die meisten Opfer einer solchen Charme-Attacke sind viel zu perplex, meist auch zu schüchtern, um zu protestieren. Die Welt gehört den Frechen. So ist es.

Schwer zu glauben, was man alles mit einem vorlauten Mundwerk erreichen kann. Vieles. Ohne Geldscheine, ohne Macht, ohne bedrohliche Gesten. Lauter Dinge, die eher selten zur Verfügung stehen. Nur Chuzpe muss einer haben, etwas wagen. Auch das Risiko, dass man das Spiel verliert. Wie auf einem New Yorker Polizeibüro, wo ich einen Officer wissen ließ, dass ich Reporter sei und über sein unverschämtes Benehmen mir gegenüber berichten würde. (Ich hatte mich an einer Ampel auf der falschen Spur eingefädelt und wurde auf das nächste Kommissariat beordert!) Und er mich nur auslachte und darüber informierte, dass es ihm scheißegal sei (»I give a shit«), was ich bin oder nicht.

Pech gehabt, der Grobian war nicht einzuschüchtern. Aber in einem Krankenhaus, keine drei Kilometer von dieser Niederlage entfernt, gelang die Finte: Ein verknackster Fuß musste behandelt werden und eine Bürozicke wollte meine Auslandsversicherung nicht anerkennen. Da der Name der Widerspenstigen auf ihrer Bluse stand, schwenkte ich vor Ms Thompson meinen (getürkten) Presseausweis und äußerte die Absicht, sie namentlich in einem Bericht über »die Zustände hier« zu nennen. Da gab das Weib unverzüglich nach und erklärte meine (nicht getürkte) Versicherung für rechtens.

Ich kann nur jedem Reisenden einen Zwischenstopp auf der Kaosan Road in Bangkok empfehlen. Hier gibt es für wenig Geld viel Lebenshilfe: Studentenausweise, Presseausweise, Behindertenausweise. Wer noch mehr Hinterhöfe durchschreitet, bekommt sogar falsche Führerscheine und falsche Heiratsurkunden, ja eine Bestätigung, dass man Arzt ist. Das nutzt und hat noch nie einem Mitmenschen geschadet. Im Gegenteil, es fördert die Völkerverständigung.

Exempel: Die Vorteile der beiden ersten Modelle sind für jeden schlüssig, doch auch eine Bestätigung, dass man gehandicapt ist, kann das Leben erleichtern. Vor allem Leuten wie mir, die sich weigern, die üblichen Flughafenaborte zu betreten. Meist humple ich mit einem (falschen) steifen Bein auf die Behindertentoilette zu oder winke mit einem (echten) frischen Verband in der Hand (um meine angebliche Wunde am Gesäß zu verbinden). Das reicht meist, um das zuständige Personal zum Aufsperren zu überreden. Aber seit mir ein Drachen dennoch den Zugang verweigerte, bin ich gerüstet: mit einem Wisch, der mich als Schwerbehinderten bestätigt und auf dem kein Wort stimmt. Jetzt geht die letzte Tür auf.

Wie auch immer: Sobald ich von innen verriegle, entgehe ich der Erniedrigung, anderen beim – prustenden – Defäkieren zuhören zu müssen. Privacy happens. Von keinem gesehen, gehört, ja gerochen zu werden. Und keinen sehen, hören und riechen zu müssen. Auch nicht von Google Street View verfolgt zu werden. Sich tatsächlich in einem drei Mal drei Meter großen Raum aufzuhalten, in dem keine Webcam hängt (noch nicht), keiner mich durchleuchtet, keiner mich abgreift und ausfragt, keiner mein Hab und Gut durchwühlt, wo ich einfach still sitzen, still lesen und still mein Geschäft erledigen, ja mich hinterher gründlich putzen darf. Mit Wasser und Seife und überall. Ist das nicht das Glück auf Erden? Der absolute Wahnsinn? In aller Bescheidenheit, aber der Beintrick ist mein bester, keiner hat mir mehr Wonnestunden verschafft. Schwer erleichtert hinke ich jedes Mal davon.

Einen Vorrat gefaketer Führerscheine besitze ich auch (neben einem echten). Da ich mehrmals von Straßenräubern, die nebenbei als Polizisten arbeiteten, aufgehalten wurde, um mich durch die Beschlagnahme meiner driving licence zur Herausgabe von Schmiergeld zu animieren, habe ich mir ein halbes Dutzend Ersatzdokumente besorgt. Die halfen vor allem – na wo? – in Indien: Der Bulle glaubt, ich komme am nächsten Tag in seinem Büro vorbei, um das konfiszierte Teil durch Hinterlegung frisch von der Bank geholter Scheine wieder auszulösen. Und ich weiß, dass ich das nicht tun werde. Ich helfe also dem indischen Staat, indem ich einen Akt von Erpressung und Korruption unterlaufe. Soll keiner sagen, eine Schwindelei nütze nicht dem Allgemeinwohl.

Dass auch wir – zu Hause immer gegen die Ausbeutung der »Dritten Welt« wetternd – ausbeuten und korrumpieren: Wir wissen es längst. Jeder clevere Reisende erkundigt sich beim Anflug auf sein Ziel, ob es einen Schwarzkurs gibt und was man pro Dollar/Euro augenblicklich bekommt. Das ist ein Trick, dem wir alle verfallen. Auch jene, die gern als Betroffenheits-Athleten durch die Welt reisen. Die noch clevereren Reisenden kehren allerdings nach jeder Reise um ein paar Grade weniger scheinheilig zurück. Sie wissen um ihre Verführbarkeit. Immerhin hören sie irgendwann auf, sie zu leugnen.

Ich bin längst zu kraftlos, um immer den Vorbildlichen aufzuführen. Natürlich trage ich zur Verwahrlosung der Sitten bei. Und besteche den Schaffner, damit er mir einen Sitzplatz besorgt, den Botschaftsangestellten, damit das Visum schneller auftaucht, den Rezeptionisten, damit ich ein Bett bekomme, den Busfahrer, damit er für mich einen Umweg macht, den Kellner (in Kuba, zum Beispiel), damit er mit seinen Faxen aufhört und endlich etwas zum Essen auf den Tisch stellt.

So greife ich immer dann zu Banknoten, wenn ich auf Situationen oder Leute stoße, die impertinent an meiner Lebenszeit zerren. Jeder Mensch ab einem gewissen Alter hat das Recht, mit ihr – der Zeit, die einem gegeben ist – besonders sparsam umzugehen. Damit sie als »quality time« zur Verfügung steht und nicht beim Herumhocken in Wartezimmern vor die Hunde geht. Es gibt eben zwei Klassen von Zeitgenossen: die Lebenszeit-Bereicherer und die Lebenszeit-Klauer. Die Klauer kaufe ich. Wann immer möglich. Ich wüsste keinen anderen Weg, um sie zu neutralisieren.

Ach, Flunkern macht Freude. Ich habe als Reisender auch schon Doktor gespielt. Wenn Gaffer den Weg versperrten und ich auch gaffen, auch wissen wollte, was hinter der Wand aus Leibern passierte. »Lassen Sie mich bitte durch, ich bin Arzt«, ist ein Satz, der wie eine Fatwa ins Volk fährt. Bin ich dann vorne angekommen, am Schauplatz, dann mutiere ich wieder zu Otto Niemand, bin der harmlose Augenzeuge. Neugierde ist ein anstrengendes Geschäft, das schon. Pausenlos fordert sie Listen und dubiose Manöver, um befriedigt zu werden.

Ein letzter Vorschlag, und er richtet sich vor allen an Frauen. Haben sie doch, gerade auf Reisen, mit einem Problem zu tun, das der anderen Hälfte der Menschheit erspart bleibt. Denn es gibt Männer, die – statt zu verführen – lieber zupacken und grabschen. Eben die Rüpel dieser Welt, die sich für unwiderstehlich halten. Oder für unansehnlich. Oder für unfähig. Viele Gründe gibt es, warum ein Mann eine Frau zwingt, statt sie zu verlocken. Egal, der folgende Rat klingt gut, ich habe ihn von einer Morgenland-Fahrerin, die sich irgendwann – erschöpft von vielen Morgenland-Rüpeln – einen Ehering ansteckte. Nachdem sie sich in Damaskus ein »marriage certificate« (auf Arabisch und Englisch) gekauft hatte. Mit ihrem Bild und dem Foto – guter Gag – eines finster blickenden Stiernackigen, des Ehemanns, Subtext: »Rühr meine Alte an und du bist tot!« Wie zufällig legte sie die DIN-A4-Beglaubigung immer auf ihren Rucksack, wenn sie in einem Café saß, im Zug, in einem Bus. Als Vorabinformation. Um Zudringlinge in Schach zu halten.

Mich nicht. Denn als ich auf einer Überlandfahrt neben ihr saß (ich schwöre, es war der einzige freie Platz), sprach ich sie auf den Mann mit dem Gewichtheber-Genick an. Und ich erfuhr, dass es ihn nicht gab, er nur als eine Art virtueller Leibwächter diente. Die Frau gefiel mir, sie war clever und empfänglich für die Welt. Und frei im Kopf.

Das Morgenland ist groß und die Fahrt dauerte lang. Und als wir spätnachts das Ziel erreichten, nahmen wir ein gemeinsames Hotelzimmer. Nicht ohne vorher das Redneck-Foto durch mein Konterfei zu ersetzen. Der Rezeptionist war entzückt. Endlich ein westliches Paar mit den gebührlichen Papieren! Als der liebe Nachtwächter den Schlüssel aushändigte, dachte ich wieder an einen Satz, der mich seit meiner Jugend begeistert: »Mundus vult decipi, ergo decipiam!«

Das war der bescheidene Rest aus neun Jahren Lateinunterricht, aber der Aufruf taugt immer dann, wenn ich Herrschaften begegne, die mich mit ihrem moralinsauren Erbsenhirn traktieren, voll von Benimmregeln aus dem drittletzten Jahrhundert. Oder Jahrtausend. Deshalb der Merkspruch eines römischen Satirikers: »Die Welt will betrogen werden, also betrüge ich sie!« So bekommt der Hotelmanager unser (manipuliertes) Eheattest und wir bekommen sein (echtes) Doppelbett. So denkt er, dass Sandra und ich in Einklang mit den himmlischen Weissagungen des Propheten leben. Und wir denken, dass man Unbelehrbare nicht belehren kann. Sondern sie immer schwungvoll, nie tätlich, hintergehen muss. Wieder eine Tat für den Weltfrieden.

Ich hatte ja behauptet, dass man Lebenszeit-Ruinierer nur kaufen kann. Damit sie aufhören, im Weg zu stehen. Das stimmt natürlich nicht. Stimmt nicht so ausschließlich. Es gibt noch andere Hilfsquellen. Folglich sollte ein Reisender mit einem kompletten Werkzeugkasten unterwegs sein. Einem virtuellen, einem superleichten, unsichtbaren, immer praktischen. Da liegen all die Geräte und Instrumente bereit, die er sich im Laufe der Zeit geschmiedet hat. Um es jederzeit mit der Welt aufzunehmen. Und das Wichtigste, der Wunderschlüssel, sollte so ein lässiger Swing sein, so ein Flair, das man der Welt schenkt und um das sie einen beneidet.

Klar, es gibt Weltbewohner, denen man damit nicht imponiert. Weil sie schon verwelkt sind, schon verhornt, schon fertig. Weil sie andere gern für ihr eigenes Unglück büßen lassen. Dann muss man nach den spitzeren Werkzeugen fassen. Zu Misstrauen, zu resoluten Worten, zu (fiesen) Tricks. Ja im Notfall zu den schweren Bohrern greifen – Bestechung, Denunziation, cholerische Ausbrüche. Reisen ist kein Spaziergang durch ein SOS-Kinderdorf. Manchmal lädt es zum Tanzen ein, manchmal zum Catchen. Was allein zählt: dass einer gewappnet ist. Ich will hier kein Anstandsbuch schreiben, will eher etwas loswerden über die Segnungen und Fallen eines Globus, auf dem wir leben.

Nun, ich bin kein Kraftmeier. Weil ich doch immer ohne dicke Muskeln durchs Leben musste. So kann ich nur Wörter verschenken. Oder weiterreichen, da ich sie selbst geschenkt bekam. Wie die folgende Geschichte, a mini story, aber sie passt wunderbar zum Ende des Kapitels. Denn wer den rechten Ton trifft, das eine Wort, oder die fünf, sechs entscheidenden Wörter, der zielt mitten ins Herz der anderen. Der kann verführen, viele zu vielem. Auch zum Wichtigsten: zum Mitfühlen. So wäre das einzige Übergepäck, das sich ein Reisender leisten sollte: ganze Schiffsladungen voller Buchstaben. Im Kopf. Dort wiegen sie weniger als null und warten nur darauf, dass man sie hervorzaubert.

Hier nun die kleine Hexerei: In einem Dokumentarclip, den mir Freunde zeigten, sieht man einen Mann sitzen, neben ihm der Hinweis: »I’m blind. Please help.« Einfallsloser kann man von seinem Malheur nicht reden. So hasten Leute vorüber, kaum einer nimmt ihn wahr. Irgendwann kommt eine junge Frau, elegant und selbstsicher, sieht den armen Teufel, schlendert vorbei, kehrt zurück, schreibt etwas auf die andere Seite des Kartons, stellt ihn umgedreht auf, eilt weiter. Jetzt regnet es plötzlich Geld, jeder will dem Alten etwas geben. Später kommt die geheimnisvolle Fremde wieder, der Blinde fasst ein zweites Mal an ihre Schuhe, erkennt sie und fragt, was sie geschrieben hat: »It’s a beautiful day and I can’t see it.«