Freundlichkeit

Ich gehöre zu den Weicheiern, die sich vor Gewalt fürchten. Zudem heule ich etwa zwanzig Mal pro Tag einer Tugend hinterher, die verschwunden scheint. Oder nur noch als Restposten vorkommt, sporadisch, zufällig. So habe ich schon vor Jahren beschlossen, ihn, den Rest, zu retten, bescheidener formuliert, jenem kleinen Häuflein Verwegener beizutreten, die ohne sie, ohne diese schöne Tugend, nicht leben wollen, nein, nicht können: die Freundlichkeit. Als Reisender erst recht nicht. Als Heimatloser mitten unter fremden Frauen und Männern, fern aller Freunde, fern aller beruhigenden Fixpunkte, bin ich wie ein ausgesetzter Hund von ihr abhängig: the kindness of strangers. Ohne sie vereise ich. Jeder Akt der Unfreundlichkeit macht mich – wie jeden von uns – einsamer. Weil dann die Nähe zum anderen, so kurzfristig, so flüchtig die Begegnung auch sein mag, nicht funktioniert. Die Wärme fehlt, das Spielerische, wieder einmal der Swing.

Das dümmliche Gerede geht um, dass Höflichkeit Verlogenheit bedeute. Klar bedeutet sie das, wenn ich jemanden anstrahle, den ich für einen Schandfleck unter den Sterblichen halte. Oder strahle, weil ich jemanden abzocken will. Aber dann heißt mein Verhalten nicht Höflichkeit, sondern Gier oder Skrupellosigkeit oder Gesinnungshurerei. Natürlich hat höfliches Benehmen – das fremde, das eigene – auch einen »Hintergedanken«: dass es uns beiden – wer immer der andere sein mag – gut geht. Dass wir den einen gemeinsamen Augenblick, vielleicht einzigen in unserem Leben, mit Leichtigkeit meistern.

Bisweilen überkommt mich das Gefühl, dass der Prolo die Weltherrschaft übernommen hat. Im Inland, im Ausland. »Mineralwasser!«, bellt er. Oder »Bier!« Oder »Zahlen!« Sein Auftreten hat etwas von einem Imperator. Auch zieht er gern den Rotz durch die Nase. Oder redet hemmungslos in sein Handy. Mitten unter Wildfremden lässt er uns wissen, dass er gestern wegen einer Schuppenflechte beim Arzt war, »direkt unter der linken Achsel«. Irgendwann haben alle im Zugabteil erfahren, dass er wieder einmal – »Scheiße!« – beim Eurolotto die falschen Zahlen getippt hat. Und dass er die neue Staffel von Sex and the City – maßgeschneidert für die geistig Unterdotierten aller Länder – »supergeil« findet.

Ja, das zwangsweise Mithören anderer Leute Leben – wenn es wenigstens fetzig wäre oder voll beflügelnder Gedanken oder gebeutelt von bewegendem Unglück – gehört zu den Pestbeulen moderner Zeiten. Wie ein Virus verseucht es die Diskretionszonen anderer.

Höflich sein – Freundlichkeit und Höflichkeit sind schwer befreundet – geht anders. Es hat mit einer Eigenschaft zu tun, die sich Empathie nennt. Unterwegs kann man sie stündlich trainieren: seine Umgebung spüren, sie wahrnehmen. Im vorliegenden Fall begreifen, dass meine Abszesse, meine Nieten und mein Geschmack (wenn es denn einer ist) niemanden etwas angehen, sprich, niemanden interessieren. Am liebsten sind mir Reisende, die in meiner Nähe lesen oder staunend zum Fenster hinausschauen oder sich (verhalten) beschmusen oder einander Geschichten erzählen, von denen man wünschte, sie würden lauter verbreitet.

Empathisch mit dem Rest der Welt umgehen! Wäre ich Diktator, ich würde den Ausrufesatz als Pflichtfach einführen. Als meinen Beitrag zur Rettung des Planeten und seiner Bewohner.

Eigentlich haben es Reisende leichter, durch Höflichkeit aufzufallen. Weil sie ja hochgestimmt sind, weil sie sich in einem Ausnahmezustand befinden. Sie dürfen die Welt besichtigen, während andere – die vielen anderen – nicht vom Fleck kommen: weil ohne Zeit, ohne Geld, ohne Kraft.

Ich bin gerührt wie ein Kind am Geburtstagstisch, wenn ich den kleinen Gesten der Ritterlichkeit begegne. Wenn ich Zeitgenossen dabei beobachte, wie sie ihren Platz anbieten. Bereit sind zu stehen, damit der andere sich setzen kann. Wenn sich eine so altmodische Eigenschaft wie Respekt vor dem Alter zeigt. Auch aus dem Bewusstsein heraus, dass der andere schon länger am Leben ist, schon länger kämpfen und schuften musste. Einer steht für einen anderen auf, ein Starker hilft einem, der gerade eine Prise Mitgefühl braucht. Füttert das nicht das Herz eines jeden, der Ziel dieser Aufmerksamkeit ist?

Ich erinnere mich an ein Mittagessen in einem Londoner Restaurant. Als ich das Lokal verließ, sah ich eine ältere Dame beim schwierigen Versuch, ihren Mantel anzuziehen. (Der Hinweis auf das ungefähre Alter ist wichtig, damit ersichtlich wird, dass mich keine hundsgemein niedrigen Instinkte trieben.) Da ich mich selbst gerne als Ritter sehe, eilte ich hinzu, um ihr zu helfen. Und was passierte? In Todesangst sprang sie zur Seite, fest davon überzeugt, gerade Opfer eines Überfalls zu werden. So weit sind wir also: Mitten am helllichten Tag, mitten in einer zivilisierten Umgebung erwartet keiner mehr, dass ihm ein (bescheidener) Akt der Hilfsbereitschaft widerfahren könnte.

Ja, es wird noch absurder. Szenenwechsel. Ich öffne eine Tür und sehe, dass mir von der anderen Seite jemand entgegenkommt. Blitzschnell entscheide ich, die Tür aufzuhalten, bis der andere durchgegangen ist. Dabei handelt es sich bei ihm (bei ihr) um einen ganz »normalen« Menschen. Weder Greis noch Rollstuhlfahrer noch atemberaubend attraktiv. Und wie reagiert der Ochse, die Kuh? Geht ohne cooles Kopfnicken vorbei, ohne Blick, ohne Danke, wohl fest davon überzeugt, dass ich hier herumstehe, um den Schnöseln dieser Welt als doorman aufzuwarten.

Immerhin kann man via solche Erfahrungen etwas lernen: dass die Prolos – sagen wir, all jene, deren Herzensbildung nie stattfand oder über die Jahre versiegte – aus allen Schichten kommen. Quer durch alle Altersgruppen, egal auch, ob hochgradig blöd oder akademisch gebildet, in Sandalen oder in Nadelstreifen, mit einem Watschengesicht oder unerhört schön. Ich wundere mich stets aufs Neue, dass ich noch immer nicht vom Äußeren auf die Innenwelt eines Menschen schließen kann. Jeder und jede überraschen mich. Immer wieder.

Ob Reisende, statistisch gesprochen, eleganter mit anderen umgehen, auch das weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass sie es sollten. Denn ohne dieses Vademecum Höflichkeit kommen sie nicht weit. Hier ein Beispiel, eher nicht empfehlenswert: In einem Café in Venedig saß ein junger Kerl, in Hörweite von mir, die Zeitschrift »Kicker« lag vor ihm. Der Kellner kam auf ihn zu und fragte ihn nach seinem Wunsch. Um die Antwort unseres Mannes aus Quakenbrück besser zu verstehen, soll erwähnt werden, dass der Ober (auch) Deutsch sprach. Mit Fehlern, aber hinreichend. So sagte der eine: »Was wünschen bitte Sie?« Und so antwortete der andere: »Du mir bringen eine Kaffee!« Drei Fehler mit fünf Wörtern, das ist nicht schlecht: Kein Bitte, kein Sie, kein korrektes Deutsch. Vielleicht hatte er seine Auftritte vom eigenen Vater abgeschaut, beim heimischen Wirtshausbesuch. Vielleicht findet er sich umwerfend witzig. Wie auch immer. Da ich Fremdschämen nur bedingt ertrage, zudem grundsätzlich allergisch auf diese Hinterwäldler-Duzerei reagiere, habe ich mir erlaubt, ihm zwei Zettel an den Tisch zu tragen. Als meinen Beitrag zur Verschönerung der Welt, darauf stand: »Lernen Sie bitte heute noch auswendig: ›Es lebe die Würde des Menschen.‹« Und: »Sagen Sie beim nächsten Mal einfach: ›Bitte bringen Sie mir einen Kaffee.‹« Oft halte ich den Mund, aber manchmal muss ich ein Stoppschild aufstellen. Ob ich das Recht dazu habe, ist mir vollkommen egal. Ich tue es einfach.

Noch ein Beispiel. Da musste ich mich nicht fremdschämen, da reichte es völlig, dass ich mich schämte. Über mich. Auf dem Hauptpostamt in Lima: Ich ging zum »poste restante«-Schalter, um einen Brief, einen Liebesbrief, abzuholen. Dachte ich. Von wegen. Ich fragte und keine Post lag für mich bereit. So verlor ich die Nerven, denn entgangene Liebeszeilen schaffen Stress. Und ich fing an, den armen Angestellten zu beschimpfen. Dass er nicht richtig geschaut habe. Dass er nicht richtig gelesen habe. Dass er nicht richtig sortiert habe. Dass er den Vornamen mit dem Nachnamen verwechselt habe. Ich war ziemlich phantasievoll im Begeifern eines Unschuldigen. Das Aufregende an der Situation aber war dieser Mann, der zu Unrecht verdächtigte. Wie ein Zen-Meister ließ er den Fehdehandschuh liegen und blieb auf geradezu provozierende Weise gelassen, ja freundlich. Nicht um eine halbe Note stieg seine Stimme, die jeden neuen Angriff mit erstaunlicher Ruhe parierte. Und erklärte. Soweit man einem Wichtigtuer etwas erklären kann. Zudem blickte er mich unverwandt an, ohne einen Funken Zorn in den Augen. Ein heiliger Peruaner, unschlagbar.

Als ich mich schließlich mit einer wütenden Handbewegung wegdrehte und Richtung Ausgang eilte, geschah es: Der Postler hatte mich weichgespült, mich mit Sanftmut erledigt. Die Macht der Nachsicht, ziemlich unheimlich. Zweihundert Meter hielt mein Widerstand noch durch, dann musste ich umkehren und mich bei ihm entschuldigen. Er lächelte nur, meinte cool: »No se preocupe«, machen Sie sich keine Sorgen. Wie ein Anfänger, dem jemand eine Lektion Leben erteilt hatte, schlich ich davon.

Ich will es nicht übertreiben mit den Aufrufen zur Lebensform eines Gentleman (a man who is gentle: mild, vornehm, behutsam). Es kommen Gelegenheiten, da verpuffen die Kräfte der Vornehmheit und ein reality check muss her. Um zu erkennen, dass jetzt nur rohe Kräfte taugen. Nehmen wir eine Haltestelle in Shanghai. Wohlerzogen hintereinander aufstellen und der Reihe nach einsteigen funktioniert hier nicht. Schneller kommt einer weg, wenn er sich, zum Beispiel, an sein früheres Leben als Boxer erinnert. Oder an seine Begabung als gnadenloser Drängler. Berufe, die hier definitiv helfen, einen Bus zu entern. Wer nicht grob werden will, der muss eben warten. Bis die 1,3 Milliarden Chinesen vor ihm abgefahren sind.

Jeder weiß es: dass Lächeln an manchen Orten nicht funktioniert. Wie vor einem Rezeptionisten, der behauptet, das Hotel sei voll. Erst nach Hinterlegung von Extramoney gibt es noch ein »letztes Bett«. Er gehört zu jener Spezies, die dem Reisenden in immer neuen Uniformen begegnet. Als Zöllner, als Visumbeamter, als Schaffner, als Soldat, als Rezeptionist eben. Sie besitzen etwas, das – hat jemand Pech – selbst mit Charme und (korrekter) Bezahlung nicht zu haben ist: ein Zimmer, einen Stempel, ein Dokument, ein Ticket, eine Passage. Hier amtshandeln – in Amt und Würden – Korrumpierte, die sich mit keinem Lächeln kaufen lassen, nur immer mit Banknoten. Bisweilen hilft ein Bluff, eine frech vorgetragene Drohung, eine Finte, eine waghalsige Lüge. Aber meist nicht. So wenig wie eine Einladung zur Höflichkeit. So ist Zahltag. Weil einer Macht hat und sein Gegenüber augenblicklich machtlos ist.

Aber es gibt noch eine andere Rasse, die nie eine Uniform schmückt. Auch keine Machtposition. Und die sich trotzdem von keiner Galanterie beschwichtigen lässt. Man findet sie auf allen fünf Kontinenten: Jene Männer und Frauen, die kein Glück hatten im Leben. Weil sie – ein möglicher Grund für ihr Unglück – hartnäckig der Freundlichkeit aus dem Weg gingen. Weil sie schon vergessen haben, dass sie als so einfaches, so preisgünstiges Rezept taugt, um mit den Anwürfen des Lebens (lässiger) fertigzuwerden. Die Herzkammern der Freudlosen sind bereits verschweißt. Sie sprühen nicht mehr, ja verweigern sich jedem Signal von außen. Tote Hosen, tote Röcke, tote Seelen. In diesem Fall – und der Rat gilt für die Fortgeschrittenen unter uns – muss einer eisern entschlossen freundlich bleiben. Darf auf keinen Fall gegen die Herztoten in den Krieg ziehen. Den Postbeamten in Lima könnte ich als Vorbild nennen. Vielleicht funkt es doch zwischen den beiden, die sich gerade begegnen, vielleicht schmilzt doch der eine oder die andere. Und taut. Und erinnert sich an heiterere Zeiten, heiterere Umgangsformen.

Aldous Huxley soll zuletzt sprechen. Die folgenden Sätze wirken wie Wunderpflanzen aus dem fernen Amazonien: Wer sie lange genug kaut, hebt ab. Mühelos, leichtfüßig, beschwingt. Ja, auch der englische Autor (»Schöne neue Welt«) hat innig suchen müssen, bis er wusste, was zählt: »Es ist mir fast peinlich. Aber nach all den Jahrzehnten der Suche, nach den vielen spirituellen und psychologischen Wegen, die ich kennengelernt habe, nach all den zahlreichen großen Meistern, denen ich begegnen durfte, bin ich zu folgendem Schluss gekommen: Die machtvollste und zuträglichste Praxis ist wohl, sich selbst und dem gesamten Universum freundlich zu begegnen.«