Der magische Moment: Afrika 2
Ich würde gern ein oder zwei Dutzend Geschichten aus Afrika erzählen, aber nur eine hat noch Platz. In ihr kommen die drei wichtigsten »Dinge« vor, die mich als Reisenden bewegen: die Welt, die Sprache, ein naher Mensch.
Ich reiste durch Sinai. Kurze Rast in Musa, einem Nest auf der Strecke. Hier, so heißt es, hat Moses an den Fels geschlagen und Wasser sprudelte. Ich klopfte ebenfalls und ein Beduine mit heißem Tee trat aus dem Schatten. Das war ein gutes Zeichen. Felsen spenden Wasser, Felsen spenden Tee. Ich ahnte in diesem Augenblick nicht, dass sie noch für ganz andere übernatürliche Erscheinungen taugten.
Abends Ankunft in Milga, ich fand ein Restaurant, wusch mir den Wüstendreck aus dem Gesicht und bekam etwas zu essen. Und las. In der Ferne sitzen und lesen, viel inniger konnte es nicht werden. Doch.
Irgendwann nahm mir jemand sacht das Buch aus der Hand, einfach so. Und fragte, ob ich nicht ein preiswertes Hotel wüsste. Leicht irritiert blickte ich auf, nur widerstrebend lässt sich ein notorischer Leser sein Suchtmittel entziehen. Ich sah in das Gesicht einer fremden Frau, die leichtsinnig lächelte. Pretty woman. Sofort dachte ich an einen vor Kurzem gelesenen Artikel, der behauptete, dass die ersten Sekunden die entscheidenden zwischen Mann und Frau seien. Mag sein, aber ich spürte plötzlich mein Alleinsein und wünschte, dass sich etwas entschied. Die Fremde redete englisch mit spanischem Akzent. Und so sprachen wir Spanisch. (Das, beichtete sie später, hebelte sie aus, denn ihre Sehnsucht, vertraute Töne zu hören, war an diesem Abend drängender als sonst.)
Die Argentinierin setzte sich und legte los. Geschichten hören dürfen, das ist ein Glück. Sie von einer fremden Frau in einem fremden Land in einer fremden Sprache erzählt bekommen, hebt den Glücksquotienten noch einmal. Für mein Spanisch würde ich keinen halben Blumentopf gewinnen, aber zweitausend Worte reichen, heißt es doch, um eine Welt zu erobern.
Zwei Stunden später schlenderten wir zum Hotel Al-Fayrouz. Der Schlafsaal hatte acht Betten und wir buchten alle acht. Wir wollten allein sein. Zum Weiterreden. Tatsächlich. Wir waren weise genug und gaben unseren Hintergedanken noch eine Nacht Bedenkzeit.
Am nächsten Morgen brachen wir zum berühmten Kloster auf, das der »heiligen« Katharina geweiht war. Sie hatte sich den Kopf abschneiden lassen, so die christliche Sage, »aus Liebe zum Herrn Jesus Christus«. Wir grinsten uns an, als wir das lasen. Das Debile hat oft keinen Namen: So himmlisch debil ist es. Der Humor Wandas beflügelte mich und ich fragte einen Touristenführer, wo sie denn einst um das Goldene Kalb getanzt hätten. Der Mann drehte sich um und deutete in die andere Richtung: »Zwanzig Meter weiter, direkt hinter der Busstation.« Jetzt hüpften wir vor Vergnügen. Sich gegenseitig zum Lachen zu verführen ist ein probates Mittel, um Nähe herzustellen.
Da wir am Vortag erfahren hatten, dass alle Besucher nachts aufsteigen, um den Sonnenaufgang zu sehen, starteten wir schon jetzt. Der Weg war frei. Wie ein tiefes blaues Meer lag der Himmel über uns und wie zwei vom Glück verfolgte Lieblinge der Götter erreichten wir drei Stunden später den Gipfel des Bergs Sinai.
Junge Ägypter saßen in ihren Buden und verkauften Tee. Ihre gut geschnittenen, dunklen Gesichter. Der Anblick von Wanda tat ihnen nicht gut, unübersehbar die Sehnsucht in den Augen der Jugendlichen. Die 27-Jährige sah aus wie ein exotisches Tier, ihre Silhouette, obwohl taktvoll verkleidet, ließ keinen Zweifel an ihren Gaben. Noch wurde kein Gott erfunden, der es mit den schwungvollen Formen einer Frau aufnehmen könnte. Und kein Gebet, um davon abzulenken.
Einer jedoch war hier oben, der hatte das Träumen schon hinter sich. Der alte Aladin (!) nahm unbemerkt einen Schein entgegen und öffnete die winzige, schwer verschlossene Moschee, ja, nahm einen zweiten Schein, um wieder zu verschwinden. Und Wanda und ich küssten uns zum ersten Mal. Doch noch im Küssen platzte ihr Gelächter heraus, denn sie schlug »besos de halal« vor, Halal-Küsse: Wir sollten uns unbedingt Richtung Mekka küssen! Zum Wohlgefallen Allahs! Und wir lachten und küssten uns, bis ein Bauchkrümmen aus reinster Lebensfreude uns zur Mäßigung zwang. Allgütiger, war diese Frau begehrenswert. So aussehen. Und so denken können. So spöttisch, so voller sprühender Ironie.
Ein Klopfzeichen reichte und Aladin ließ uns wieder hinaus. Wir wollten jetzt allein sein, unsichtbar allein, und schlichen zur Westseite, dorthin, wo die Sonne untergehen würde, turnten von Klippe zu Klippe, um den einen verschwiegenen Ort zu finden. Und je anstrengender es wurde, desto sicherer fühlten wir uns. Ein Platz sollte es sein, von dem kein anderer wusste. Und irgendwann fanden wir eine Höhle, drei Meter tief, drei Meter breit, vollkommen leer. Und blitzsauber.
Einer der ergreifenderen Momente zwischen Mann und Frau passiert wohl dann, wenn beide einander »versprochen« sind. Wenn beide genau dasselbe wollen und keiner den anderen mehr verlocken muss. Wenn es wortlos beschlossene Sache ist, dass es sein soll. Sein darf. Sein muss. Wir setzten uns und verstummten. Um 14.27 Uhr war hier der stillste Fleck im Universum. Nichts zu hören. Keine Fliege, kein Windhauch, kein Flirren. Nur totenstille Luft. Wir befanden uns etwa 2200 Meter über dem Meeresspiegel und es war lautlos wie am Grunde des Indischen Ozeans. Als ich auf Wanda blickte, nahm ich wieder mein Herz wahr. Sein Pochen musste in der Stille untergegangen sein. Jetzt pochte es. Wie das Herz eines Mannes, der weiß, dass er etwas Außergewöhnliches geschenkt bekommen wird.
Zwei Stunden später kam der Sonnenuntergang und ein paar Strahlen glitten über die Haut jener Frau, die leise atmend die Augen geschlossen hielt. Sicher spürte sie die Wärme, die langsam über sie hinwegwanderte. Bis auf den heutigen Tag frage ich mich, was in diesen Augenblicken anmutiger war: der Körper des auf dem Boden ausgebreiteten Mädchens oder die Welt, die wie ein Cinemascope-Film vor uns lag.
Bei Einbruch der Dunkelheit machten wir uns auf den Rückweg. Wie Kinder nahmen wir uns bei der Hand. Kein Wort und keine Geste gingen uns daneben. »Wir wollen diesen Tag aufheben«, sagte Wanda irgendwann versonnen, »er soll eine kleine Ewigkeit dauern.« Ja, hundert Mal ja. Wir werden ihn abspeichern und sichern für die Tage ohne Licht, ohne Geheimnis, ohne alle Aussicht auf ein Wunder.