Der magische Moment: Asien 1
Wie viele Bücher könnte man über die Magie Asiens schreiben? Eine Eisenbahnladung? Oder zwei? Ich ahne es nicht einmal. Aber ich weiß, dass ich jeden beneide, dem auf den knapp 45 Millionen Quadratkilometern Zauber und Abrakadabra begegnen. Weil der Erdteil mich daran erinnert, wie unverschämt kurz das Leben ist und wie verdammt wenig Zeit einem bleibt, um einen Bruchteil davon – von Asien, zum Beispiel – zu erhaschen. Nicht einmal Zeit genug, um einen Bruchteil darüber zu lesen.
Aber angesichts meiner zwei »asiatischen« Geschichten dürfen andere vor Eifersucht erbleichen. Wie eine Aussteuer trage ich sie mit mir herum. Würde der Wert eines Menschen mit der Außergewöhnlichkeit seiner Geschichten steigen, ich müsste um nichts fürchten. Nicht, seit die beiden zu meinen Trophäen zählen, zum Arsenal meiner Antidepressiva.
Die erste Geschichte erzählt von Marouf, den ich in Kabul kennenlernte. Der Siebenjährige war bereits erwachsen. Der Krieg in seinem Land hatte die Kindheit abgeschafft und jeden Knirps gezwungen, sofort Verantwortung zu übernehmen. Marouf arbeitete als jüngster Lehrling in der Werkstatt seines Vaters. Er zerlegte verbeulte Benzinfässer und weggeworfene Munitionskisten. Um das Blech anschließend mit einem Hammer platt zu hauen (schwerer als ein Eimer voller Bleistifte, wovon er nie einen besaß), dann mit einer Zyklopen-Schere zuzuschneiden, dann Löcher zu stanzen. Von sieben Uhr früh bis sechs Uhr abends. Vor der Garage standen die fertigen Öfen und Samoware.
Daoud, Maroufs Vater, hatte zehn Kinder. Wer stehen und laufen konnte, musste mithelfen. Der Vierzigjährige: »Ich habe nur einen Gedanken: Wo kommt das Geld her für die sieben Kilo Mehl, die wir alle zwei Tage brauchen?« Ich fragte vorsichtig, ob so etwas wie Familienplanung stattfände, denn weniger Kinder hieße weniger schlaflose Nächte. Und der Garagenbesitzer: »Ich versuche es, aber Allah macht trotzdem die Babys.«
Fast jeden Tag kehrte ich zu ihrem Arbeitsplatz zurück. Immer knallten die Bleche und immer musste ich einen Tee trinken. Nie hörte ich einen maulen. Eine schiefe Werkstatt stand neben einer anderen schiefen und in jeder schufteten die minderjährigen Schmiede. Nakib, ein Bruder Maroufs, hatte sich inzwischen beim Hammerschwingen die beiden Schneidezähne ruiniert. Ich fragte Daoud: »Warum ist das so? Warum gehen in deinem Land die Kinder nicht zur Schule?« Und der erwachsene Analphabet: »Das afghanische Volk muss bestraft werden.« – »Aber warum denn die Afghanen, gibt es keine anderen Völker zu bestrafen?« Daoud wusste es nicht. Aber so war es. Seine Fähigkeit, Gott zu vergeben, schien größer als dessen Erbarmungslosigkeit.
Eines Tages lud mich der Vater ein, die Familie zu Hause zu besuchen. Für ein Abendessen. Drei Tage später war es so weit. Doch meine Ankunft verzögerte sich um eine Stunde. Das Taxi hatte eine Panne. Und ein paar Hundert Meter vor dem Ziel, weit weg vom Zentrum, musste ich aussteigen. »Too dangerous«, meinte der Fahrer. Es war bereits dunkel. Ich schulterte den Rucksack mit den eingekauften Lebensmitteln und ging los. Und bewegte mich auf ein unauslöschliches Bild zu.
Daoud hatte mich bereits darüber informiert, dass das Haus sehr beschädigt aussähe, aber das war es nicht, das Unfassbare. Es kam, als ich um das Eck einer anderen Ruine bog und auf eine Bruchbude – frei stehend auf dreckiger Erde – zuging, wohl ein Mietshaus, dessen gesamte Fassade weggerissen, weggebombt war, ja die Südseite jeder Wohnung offen und finster dalag. Aber das war es ebenfalls nicht, so bizarr das Wrack aus Ziegeln auch anmutete.
Es war Marouf, der mit einer Kerze in der Hand auf dem Reststück eines heruntergebrochenen Balkons stand. Im dritten Stock, ziemlich genau in der Mitte des Blocks. Ein monumentaler Anblick. Nur die Nacht und das Kind mit dem Licht unterhalb seines Gesichts. Sonst nichts, keine Stimmen, kein anderer Mensch, kein anderes Licht. Ich verstand die Geste als Ausdruck von Wärme. Als wollte mir der Siebenjährige den Weg zeigen. Damit ich mich nicht verirre, nicht in den falschen Bunker laufe.
Ich blieb sogleich stehen. Etwa zwanzig Meter Luftlinie lagen zwischen uns. Ich musste stehen bleiben, um diese Gleichzeitigkeit von Poesie und Irrsinn auszuhalten. Die Welt sah gerade aus wie ein Bühnenbild, begnadet inszeniert vom Zufall, vom Krieg, von der Armut. Mit einem wunderschönen Hauptdarsteller, mit Marouf und seinen wunderschönen afghanischen Augen. Wie ein Stern mitten auf dunklem Himmel.
Ich weiß nicht, wie lange ich da stand. Bald rannen mir die Tränen über die Wangen. Aus vielen Gründen. Wohl auch, weil die Szene nicht formvollendeter hätte sein können. Rein ästhetisch war sie nicht zu schlagen. Sie war wahr, mit nur wenigen Requisiten erzählte sie von der Wirklichkeit dieses Landes. Grandios verwies sie auf eine Tragödie.
Wie ein Geschenk, auf das man nicht vorbereitet ist, kam dieser Moment über mich. Manche Gefühle brauchen lange, bis sie sich an die Oberfläche trauen, andere platzen heraus, sind unaufhaltsam. Wie in diesem Augenblick.
Marouf, der Leuchtturm, der Held, winkte jetzt. Ich riss mich los, wischte über mein Gesicht und ging auf das Trümmerbild zu. Hörte wieder die Dosen im Rucksack scheppern. Vater Daoud beschwerte sich gehörig über mich. Weil ich als Gast die Naturalien mitgebracht hatte. Aber mein Schwindelsatz – ich wusste, dass er gebraucht würde – lag schon bereit: Es handelte sich um eine Sonderspende des Roten Kreuzes! Nur heute gültig! Diese Ausrede schien (gerade noch) akzeptabel und Nuria, die Frau, begann an ihrem Steinzeitofen mit der Zubereitung. Ich lüge mit Freuden, wenn es das Herz eines stolzen Afghanen beschwichtigt.
Es wurde ein feines Abendessen für uns dreizehn, mit dem Fleisch, dem Gemüse, der Nachspeise. Und dem gebackenen Brot der Mutter. Zehn Kilo Büchsen hatte ich mitgebracht und nicht ein Gramm blieb übrig. Nur die Kerze, sie flackerte noch immer.