Fremde Sprachen
Will einer hinaus in die Fremde, muss er Fremdsprachen können. Eine immerhin, das wäre ein Anfang. Mit Englisch beginnen klingt intelligent. Verfügt jemand über zweitausend Vokabeln, dann kann er – grob geschätzt – mit einer Milliarde anderer Weltbewohner reden, sprich, tausend Millionen beim Geschichtenerzählen zuhören. Sind es (viel) weniger als zweitausend, dann reicht es allerdings nur zum typischen Babytalk: How are you?, Never better!, Do you like my country?, Very much so!, My name is Rabindranath Jitendra Kumari and what is your name?, My name is Andrej Anatoli Andrejewitsch!, Where do you come from?, I come from far away!, What is your father’s name?, My father’s name is Igor Andrej Andrejewitsch!, Is Paris really full of sexy girls?, Yes, very full!, How many children do you have?, Maybe none!, Where is your wife?, Just around the corner!, Do you want to see my uncle’s shop?, Certainly! Tomorrow!
Lauter Fragen, auf die man nach drei Tagen nur noch mit einer Kalaschnikow-Salve reagieren will. Oder Antworten, die den eigenen Verfall ins Bewusstsein rufen. So Lebenszeit raubend sind sie, so penetrant erinnern sie an den Umgangston in einer Irrenanstalt. Da ich nie eine Flinte dabeihabe, renne ich immer mit der schönen Lüge davon, dass meine Gattin bereits ungeduldigst auf mich wartet. Nur eine Ecke weiter. Kann ich nicht wegrennen, im Zug, im Flugzeug, beim Essen, dann simuliere ich einen Hörsturz. Oder eine Malaise. Mir ist jede Finte recht, um dem globalen Blabla zu entrinnen.
Als Erwachsener eine Sprache lernen ist eine Herausforderung. Der Vorgang hat mit dem schönen Wort »Beharrlichkeit« (persistence) zu tun, mit Frust aushalten. Mit der Gabe, eine Zeit lang sein eigenes Gestotter (own stutter) zu ertragen. Deshalb lieber auf den Kauf läppischer Nordic Walking-Stöcke oder noch läppischerer Fahrradhelme verzichten und einen nächsten Intensivkurs buchen. Oder ein Weltempfänger-Radio kaufen. Oder englischsprachige Zeitschriften und Bücher bestellen. Oder online einen geduldigen Fremden finden, den man stundenweise – als Gesprächspartner – dafür bezahlt, dass er live miterlebt, wie man seine Sprache massakriert. Oder alles zusammen. Denn drei Dinge muss der Lernende tun: die Fremdsprache lesen, sie hören, sie sprechen. Täglich. Und er muss sich in die neue Sprache verlieben. Ihren Glanz erkennen, ihren Witz, ihren oft anderen Blick auf die Welt. Die Engländer fragen: »Wer kennt England, der nur England kennt?« Soll sagen: Man muss die Heimat verlassen, um sich woanders umzusehen. Um anschließend die eigenen Zustände besser zu verstehen, sie vergleichen zu können, sie grandios zu finden oder jämmerlich, ja, um sich erst weit, weit weg seiner innigsten Gefühle dem eigenen Land gegenüber gewahr zu werden. Liebe ist bisweilen umständlich, oft will sie Umwege, um bei sich anzukommen. Heimatliebe, Menschenliebe, alles kompliziert.
Drei kleine Beispiele, als Beleg dafür, dass Leute mit einer anderen Sprache anders fühlen: »She is a beautiful country.« Damit meinen sie, die Inselbewohner, ihr Großbritannien. Ist das nicht herzerwärmend, das eigene Land als »she«, als weiblich, zu empfinden? Wären die Deutschen nicht um zwei Grad cooler, wenn sie Deutschland als schöne Deutsche sehen würden?
Oder: »You’re really getting on my wick«, du gehst mir echt auf die Eier. Erstaunlich, denn »the wick« ist der Docht. Docht und Eier, irgendwie liegen sie nah beieinander. Man erkennt an der Redewendung, dem Original und der Übersetzung, dass die beiden Völker die Empfindsamkeit gewisser Körperteile verschieden einschätzen.
Zuletzt: »I wouldn’t touch you with a barge pole«, ich würde dich nicht einmal mit einer Kneifzange anfassen. Die beiden letzten (englischen) Wörter sind noch aufschlussreicher, denn ein »barge pole« ist eine Ruderstange. Die sprichwörtliche britische Distanz kommt da zum Vorschein. Der Widerwille einer Person gegenüber wird durch ein Teil ausgedrückt, das drei Meter lang sein kann. Wir sind da weniger zimperlich. Eine Zange ist viel kürzer.
Drei von unzähligen Verschiedenheiten. Wer eine Sprache lernt, lernt die Muttersprachler kennen. Er sammelt Worte und Empfindungen, Ansichten und Standpunkte. Und er begreift eines Tages, ist er nur eigensinnig genug, die Schönheit der neuen Wörter. Ich hatte Englisch wie so viele immer als Gebrauchsartikel verstanden, nützlich, praktisch, aber nicht mehr. Bis ich in der Kantine der Universität von Algier – in Afrika, in einem arabischen Land – am Nebentisch einem Mann zuhörte, offensichtlich ein Dozent, der über englische Literatur sprach. Mit einem warmen, lupenreinen Oxford-Akzent. Ich schloss die Augen und verliebte mich. In seine Sprache. Wie man sich in jemanden verliebt, den man schon Jahre kennt, ohne dass etwas passiert ist. Jetzt ja. Jetzt schlug der Blitz ein, jetzt hörte ich den Swing, die Melodie.
Eine ähnliche Erfahrung machen Leute, die Deutsch als Fremdsprache lernen. Himmel, was wurde unsere Muttersprache schon als eckig und aggressiv verspottet. Mark Twain verfasste lange Tiraden über seinen Unwillen (»… Es gibt ganz gewiss keine andere Sprache, die so unordentlich und systemlos daherkommt …«), Hitler hat ihr den Ruf eingebracht, die Sprache der »Denker und Henker« zu sein, und in neuzeitlichen Talkshows wird uns ein Wortverhau zugemutet, der an Flauberts Behauptung zweifeln lässt, dass »die Sprache das erste Genie eines Volkes« ist.
Aber sie ist – trotz aller Sprachschänder – unser erstes Genie. Nie ist den Deutschen etwas Schwungvolleres gelungen. Und viele Nichtdeutsche, die alle Mühe – die tausend Vorurteile, die tausend Grammatikregeln, die tausend Ausnahmen – auf sich nehmen, werden vielleicht eines Tages »Das elfte Sonett« von Bert Brecht (»Als ich dich in das ferne Land verschickte …«) lesen und wissen, dass sich jeder Ausrutscher und jedes Verhaspeln und jedes Erröten gelohnt haben.
Sogar Yves, der Franzose, dem ich freundschaftlich verbunden bin: Er hasste allemand in der Schule und heute liest er mir die Liebesgedichte von Erich Fried am Telefon vor, nicht fassend, dass man der Liebe Großtaten und Niederträchtigkeiten so bravourös in Buchstaben übersetzen kann.
Sorry, ich kam vom Thema ab. Nein, doch nicht. Denn der kleine Liebessums auf die eigene Sprache soll ja zeigen, dass man närrisch vernarrt in Deutsch sein kann und trotzdem noch Platz findet für andere Lieben. Wie eben die Liebe für Englisch. Oder Französisch. Oder Spanisch. Oder welche fremden Wörter auch immer. Jede Sprache ist Teil des Reichtums der Welt. Umso mehr, als wir wissen, dass von den etwa sechstausend – noch existierenden – viele bedroht sind. Vom glatten Aussterben.
Auf Dominica, einer Insel in den Kleinen Antillen, traf ich vor Jahren Lewis Dupigny. Er war – behauptete er und die anderen 70 000 Einwohner behaupteten es auch – der Einzige, der noch »Karibisch« sprach. Der 69-Jährige schien der Letzte, der seine Frau noch »Iniboüinalicou« nannte, ein Wort, das nicht einmal seine Tochter mehr kannte. Denn die Jungen sagten stattdessen »Sweetheart« zu ihrem Honey. Weil sie lieber Englisch – die Sprache der ehemaligen Kolonialherren – beherrschten als ein Idiom, das ihnen hinter ihren fünf Millionen Bananenstauden nicht mehr viel nützte. Bei den Indianern in Nordamerika geht dasselbe Phänomen um. Sprachen, sprich Schätze, verschwinden, weil eine viel mächtigere sie zum Verstummen bringt. So hat jede Liebe ihre Schatten.
Ich bin auch kein Anti-Anglizismen-Terrorist. Im Gegenteil, ich bin überzeugt, dass Sprache ein lebendiger Organismus ist, der sich wandelt, der Wörter aus den Augen verliert und neue Wörter sich aneignet. Auch aus der Fremde. Eine Sprache befruchtet die andere. Zudem bewundere ich ja Englisch. Wenn beide Sprachen sich bereichern, sind beide hinterher reicher. Die English native speakers nehmen unser »Leitmotiv«, unsere »Weltanschauung«, unsere »Realpolitik«, unseren »Zeitgeist«, unsere »Angst«, unseren »Bildungsroman«, unsere »Blutwurst«, unsere »Wanderlust«, unsere »Pretzel«, unseren »Weltschmerz«, unser »verboten« (leider) und ein paar Hundert andere German expressions in ihren Wort-Schatz auf. Und umgekehrt tun wir es auch.
Klug wäre es allerdings, wenn Kluge darüber entschieden, was wir uns einverleiben und was nicht. Denn die Angeber, die angeblich Englisch sprechen, aber nach dem 51. Wort nicht mehr weiterwissen, erzählen uns dann, zum Beispiel, dass sie zum »public viewing« gehen. Ohne sich je die Mühe gemacht zu haben, nachzuschauen, was der Ausdruck bedeutet: Ein Toter wird im Leichenschauhaus zum letzten Mal ausgestellt, damit die Angehörigen von ihm Abschied nehmen können. Oder sie, die Großkotze mit dem Bonsai-Englisch, gehen shoppen und kaufen sich einen »body bag«. Eine Umhängetasche haben sie im Sinn, aber einen Leichensack mit Reißverschluss verlangen sie. Die Liste der Peinlichkeiten wäre lang.
Zurück zur Hymne auf die Welt und die Weltsprachen. Damit die Jungen auf den Geschmack kommen und auf weniger Verdummung hereinfallen als wir, muss noch auf etwas verwiesen werden, das jedes Mal, auch bei mir, die freien Radikalen lostritt: Wenn man in einem Buch vorne darüber informiert wird »Übersetzt aus dem Amerikanischen«. Man muss lange darüber nachdenken, ob es einen blöderen Satz gibt, mit mehr Hype und heißer Luft drin. Übrigens wissen die Amerikaner nichts von dieser Sprache, die angeblich die ihre ist. Als ich an der New York University studierte, studierte ich »English«, die Verkehrssprache in dieser ganz und gar amerikanischen Stadt.
Das – Übersetzt aus dem Amerikanischen – kommt mir so debil vor, wie wenn in einem Roman eines Leipziger Autors, der in Frankreich veröffentlicht wird, auf der dritten Seite stünde: »Traduit du saxon«, aus dem Sächsischen übersetzt. Von wegen. »Traduit de l’allemand« wird dastehen, ganz gleich, ob der Autor seinen Text in Niederbayern oder auf der Insel Helgoland (oder in Österreich!) geschrieben hat. Freilich wissen auch wir – wir, die mit weniger Hype auskommen –, dass zwischen dem Englisch, das in England, und jenem, das in Amerika gesprochen wird, kleinere Unterschiede bestehen. Ein paar Wörter, Betonungen, minimale grammatikalische Abweichungen. Nicht um ein Haar anders als zwischen dem Deutsch, das man im Süden, und dem, das man im Norden oder Westen oder Osten unseres Landes redet. Und trotzdem habe ich weder im tiefsten Redneck-Alabama noch auf der Waterkant einen Übersetzer benötigt. Keiner von ihnen sprach Amerikanisch. Irgendwie klang alles nach Englisch oder Deutsch. Ja, man braucht sich nur ein einziges Interview eines BBC-Reporters mit einem US-Staatsbürger anzuhören und kommt eiskalt zu dem Schluss: Die beiden sprechen dasselbe Idiom. Somit erlaube ich mir allen zuzurufen, die von der Welt etwas wissen wollen und sich darauf vorbereiten: Vergesst Amerikanisch, es ist unauffindbar. Schenkt die gewonnene Zeit lieber der englischen Sprache, sie ist weit und geheimnisvoll wie ein ganzer Erdteil.
Gewiss: Wer fremde Sprachen spricht, steht fein da. Er riecht nach Internationalität, nach Neugierde, der Wind von geistig gut durchlüftet weht in seiner Nähe. Den Neid der Sprachlosen hat er sich wohl verdient. Denn er trägt in seinem Kopf ein Passepartout mit sich herum, das ihm Zugang – in alle Himmelsrichtungen – zu Gedanken, Gefühlen und sonst nie entdeckten Rätselhaftigkeiten erlaubt. Und: Ach, wie vielen Frauen kann man damit nähertreten? Ach, wie vielen Männern? Ach, wie viel Nähe können Sprachen zaubern, wie viel Heiterkeit und Wonnen verschenken?
Ich weiß, andere sehen das anders, sagen wir, rustikaler. Wie mein Lieblingsfeind Paulo Coelho, der größte lebende Eso-Esel aller Zeiten. Er gab einmal in einem Interview zum Besten: »Rede mit dem Fremden, auch wenn du dessen Sprache nicht sprichst.« Also mit Händen und Füßen vor den Eingeborenen hin und her hüpfen? Plus Augenrollen, Ohrenwackeln und Zunge rausstrecken? Why not! Ich finde, irgendwie passt der Satz zu dem unermüdlichen Sülzeschmied. Auch seine Bücher scheinen mit allen vier Extremitäten geschrieben. Nie käme der Verdacht auf, dass ein Hirn als Schreibgerät zum Einsatz gekommen wäre.
Natürlich kann keiner von uns verlangen, dass wir rasend begabt sind wie Jean-François Champollion, jener französische Wissenschaftler, der mit 31 die Hieroglyphen entzifferte, sich irgendwann in 36 oder 37 Sprachen ausdrücken konnte und mit 41 an Schwindsucht starb, der Krankheit der Genies. So schlage ich vor, dass ein Reisender immerhin zwei Wörter auswendig lernt. In all den Sprachen, die er nicht spricht. Die beiden sind weltweit hoch angesehen und gelten als untrügliches Zeichen zwischenmenschlicher Eleganz: »bitte« und »danke«.