Wetter

Was soll ich dazu sagen? Dass die 300 Wetterberichte arg nerven, die pro Tag aus den Medien schallen. Bin ich ein Schönwetter-Passagier? Wie jene Fotografen, die für Reiseprospekte unterwegs sind und – sie haben es mir gestanden – nicht mit einem Regenfoto nach Hause kommen dürfen. Schön sonnig soll es sein. Damit man hinterher das Land als Solarium verkaufen kann. Via Katalog für die Wohlfühl-Kämpen, die bei Windstärke 0,5 reflexartig ihren 3471 Facebook-Freunden vom Wahnsinn berichten, der gerade über sie hinwegfegt.

Ich will jetzt ein bisschen hetzen. Weil ja in jeder Gebrauchsanweisung auch stehen soll, was man vermeiden muss (»Kein Crack für Schwangere!«). Ich checkte einmal in einer Art Club Méditerranée ein. (Der Name spielt keine Rolle, sie ähneln sich alle.) Eine Auftragsarbeit. Noch heute weiß ich nicht genau, wie ich die Zeit überstanden habe. Wahrscheinlich dank meiner Neugierde, die bisweilen abnorme Züge annimmt. Sicher eine Berufskrankheit.

»Sieben Tage Sonnenschein« wurden versprochen und sieben Tage Sonnenschein wurden geliefert. Kein Wunder, die Anlage befand sich in einer Weltgegend, in der nur ein Atomkrieg den blauen Himmel hätte vertreiben können. Versprochen, ich will nicht alle Gemeinplätze abhaken, die solche Unternehmen bedienen. Nicht vom »Spielgeld« aus Glasperlen reden, nicht von den Animateuren, die vorne am Swimmingpool vorhampeln, was die anderen – im Becken – nachhampeln. Will nicht von Untersuchungen reden, die davon berichten, dass die Hauptkundschaft solcher Amüsierketten aus leise verzweifelten Singles besteht, die nicht länger Singles sein wollen. Will diskret verschweigen, dass sich der Betrieb zu hundert Prozent in weißer Hand befand, sprich, kaum ein Groschen im Land blieb. (Von den Spargroschen für die einheimischen Angestellten einmal abgesehen.) Will nur mit einem Nebensatz die täglich mehrmals aufgetürmten Büfetts erwähnen, die dafür sorgten, dass jede(r) nach dieser Woche um eineinhalb Speckschwarten kompakter abreiste. (Trotz des vielen Gehampels.) Will mit übermenschlicher Nachsicht die vielen nackten Oberkörper und Schlabber-Trainingshosen übersehen, mit denen man sich abends an die Tische setzte. Will auch einmal tolerant sein und nur still über das Fehlen von Schönheit vor mich hinwimmern.

Doch nach drei Tagen geschah etwas Besonderes, von dem ich vorher nichts wusste: Für die Tollkühnsten unter uns wurde ein Ausflug in die umliegenden Slums organisiert. »Um Land und Leute kennenzulernen.« Und so fuhren wir aus dem Erste-Welt-Ghetto ins Elendsviertel, die »Dritte Welt«. Binnen Minuten. Vorne neben dem Fahrer stand jetzt der Betroffenheits-Animateur, der sogleich über das »bitterarme Land« referierte. Man durfte sogar ein paar Münzen rauswerfen. Nein, das ist geschwindelt, denn die Fenster waren versiegelt. Damit es von draußen nicht hereinstank. Vermute ich.

Diese banale Ausfahrt, bei strahlender Sonne, war ein Erlebnis. Denn ein Ruck schien durch die 34 Anwesenden zu gehen. Wie auf Kommando setzten sie einen Gesichtsausdruck auf, den man im Englischen rabiat ehrlich »look-at-me-grief« nennt: Schau mal, wie betroffen ich bin! Das Beste an dem Blick scheint, dass er nichts kostet, jederzeit abrufbar ist und sozial hoch angesehen wird. Siehe, ein Betroffener! Siehe, ein Mitfühler! Wie maßgeschneidert saßen die Masken.

Nach zwei Stunden war es überstanden. Als wir vor der Rezeption abgeladen wurden, roch man schon das Abendbüfett. Nur hundert Meter hinter uns lag das rund um die Uhr bewachte Tor, hinter dem sich das Elend ausbreitete. Das wir gerade besichtigt hatten. Mitgenommen zwar, aber auch fleißig. Viel wurde geknipst. Durch die Scheiben, im Sitzen, die Klimaanlage im Nacken. So ein abgerissenes Negerlein sah einfach gut aus, der sexy Gang, die vielen Muskeln in heller Sonne, das sagenhafte Grinsen.

Beim Essen habe ich die 34 nicht aus den Augen gelassen. Mich eigens in die Nähe einer Gruppe von achtzehn Leuten gesetzt, die alle dabei gewesen waren. Sie beherrschten die Spielregeln ziemlich gut. Obwohl sie eifrig Teller voller Fleischberge vom Büfett zum Tisch balancierten, wollten sie die Masken nicht ablegen. Sie schlemmten und trugen Trauer. Um der Welt – ganz unbewusst wohl – zu zeigen, dass sie die Betroffenheit ernst meinten. Die Miene der Ergriffenheit schmückte sie. Und mir war tatsächlich, als ob ein paar von ihnen beim Verschlucken eines schweren Bissens zwei, drei Tränen abdrückten.

Wenn ein Krokodil einen besonders fetten Brocken verschlingt, treibt es ihm das Wasser aus den Augen. Die sogenannten Krokodilstränen.

Ich habe lange gebraucht, sicher ein paar Dutzend Reisen, bis ich mir selbst auf die Schliche kam. Weil ich mich genau wie jene aufführte, von denen gerade die Rede war. Irgendwann habe ich kapiert, dass meine edle Visage niemandem hilft. Nur mir, dem Edelmann. Dem Menschenfreund. Dem Zartling. So wäre mein moderater Ratschlag an jene, die von der Welt (und sich) etwas wissen wollen: Spar dir den Heiligenschein. Wirf einen klaren festen Blick auf die – oft erbarmungswürdigen – Zustände. Und vergiss die Maske, das Getue, die hohlen Gesten der Erschütterung. Noch nie hat eine Phrase einem Hungerleider den Tag verschönt.

Und lässt sich ein Fremder doch – tief innen, wirklich – anrühren vom Leid eines anderen Fremden, dann wird er Wege, sprich Taten, finden, um es zu lindern. Praktisch, konkret, cool, ohne sentimentales Geschwafel, ohne Pose. Und ohne Herablassung. Einem anderen zu helfen ist eine subtile Angelegenheit. Sie verlangt materielle Mittel und/oder körperlichen Einsatz. Und Herzensbildung.

Das war mein Wetterbericht. Schon überraschend, zu welch hinterlistigen Gedanken sieben Tage Sonnenschein führen können. Aber da ich auch morgen die Eiger-Nordwand nicht besteigen werde, ist es mir egal, ob der Wind von links oder rechts kommt, ob es weißblau wird oder ein Regenschauer niedergeht. Ich weiß, schon mancher Lebenstraum zerbrach, weil es vor der Tür genieselt hat. Doch Reisende träumen nicht, sie gehen los. Was immer die Erde und der Himmel ihnen bietet: Sie sind da.