Der magische Moment: Nordamerika

Auch dieser magische Moment hat mit Musik zu tun. Obwohl ich eher unmusikalisch bin. Meine Liebe zur Gitarre endete klanglos und ich muss mich noch heute anstrengen, fünf richtige Töne in Folge zu singen. Vielleicht gerade deshalb. Man sehnt sich meist nach dem, was einem verschlossen bleibt. Gewiss aber nagt in mir der Neid – als Schreiber – auf Musiker. Denn jeder, der sie hört, versteht sie. In jedem Eck der Welt. Die einzige lingua franca, die funktioniert: Ein (begabter) Wildfremder packt sein Saxofon aus und alle Wildfremden um ihn herum lassen sich ergreifen. Ohne eine Note lesen zu können. Wie ein First-Class-Dessert ziehen die Töne durch ihre Körper.

Das Gleiche passiert beim Anblick eines schönen Gesichts. Weder Musik noch Schönheit müssen übersetzt werden. Die Vehemenz erreicht uns sofort, ohne Aufschub. Mit Sprache funktioniert das nicht. Selbst wenn ich Shakespeare überreden könnte, persönlich seine Sonette vor dem Rathaus von Nowosibirsk aufzusagen: mehr als drei Pensionäre würden bis Mitternacht nicht stehen bleiben. Lasse ich den Dichter entfernen und stelle Eric Clapton auf, dann muss fünfzehn Minuten später die Polizei anrücken, um den Mann vor einem Volksrausch zu schützen. Beide sind Genies, aber das eine Genie, die Sprache, braucht Umwege. Das andere, die Musik, nie und nimmer.

Bei den gelungensten Reisen löst ein Zauber bald einen anderen ab. Wie diesmal. In Chicago, der knapp Drei-Millionen-Stadt am Michigansee, war ich als Glückskind unterwegs. Denn ich wurde für nichts anderes bezahlt, als nach meiner Lieblingsmusik zu suchen: the Blues.

Das klingt frivol, denn diese Musik gehört den Schwarzen, deren Vorfahren – eingenietet in Kisten mit Luftlöchern – von Afrika nach Amerika verfrachtet worden waren. Alles hatten die (weißen) Masters ihnen gestohlen: die Heimat, die Würde, die Freiheit, ja, die Freiheit zu sprechen. Also sangen sie. Und da »blue« nicht nur blau bedeutete, sondern auch die Farbe des Unglücks, des Unheils, des Bösen, sprach einer irgendwann den Satz aus: »I’ve got the blues«, ich bin traurig. Und aus dieser Trauer über das gestohlene Leben entstand ein Weltwunder. Victor Hugo, der dieses Wort im fernen Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts wohl nie gehört hatte, notierte einen Gedanken, der wie maßgeschneidert zu dieser Musik passte: »La mélancholie, c’est le bonheur d’être triste«, die Melancholie ist das Glück, traurig zu sein.

Die ersten Menschenkisten wurden im Süden der Staaten ausgepackt. Um die billige Fracht als Arbeitstiere auf den Plantagen einzusetzen. Dreihundert Jahre später, an einem heißen Julitag 1921, stieg Louis Daniel Armstrong am Hauptbahnhof von Chicago aus, die Trompete im kleinen schwarzen Koffer. Denn in diesen Jahren zogen die Blues-Musiker nach Norden um. Da sie hier weniger oft das Wort »Nigger« hörten. Und hier begannen sie weltberühmt zu werden.

Die meisten amerikanischen Städte ähneln in Beton gegossenen Pavianärschen. Chicago nicht. Ich liebe gut aussehende Großstädte nicht minder als eine Gänseblümchenwiese mit drei Bäumen. Und obwohl ich viele Jahre zu spät kam, um »Satchmo« zu treffen, erwies sich mein letzter Tag in dieser Stadt – nachdem ich nächtelang durch Blueskneipen gezogen war – als »a perfect day«. Auch wenn ganz andere Dinge passierten als in Lou Reeds Song.

Es war schon abends und ich ging den Chicago River entlang. Wieder einmal. Um diese Uhrzeit blinkten die Lichter an den drei Dutzend Klappbrücken, die bisweilen hochgingen, um ein Schiff durchzulassen. Chicago, das einst Massenmörder Al Capone zu Unsterblichkeit (nach seinem Syphilistod) verholfen hatte, sah jetzt wie Märchenland aus: das Bimmeln, das Funkeln, das leuchtende Wasser.

Und eine Vollbusige in feuerroten Leggings war heute die Märchenhexe. Sie stand an der Michigan Avenue Bridge, neben ihr eine transportable Lautsprecheranlage mit Megaphon, dahinter ein Schild, Aufschrift: »I was a hooker, I was a sinner, but I found Jesus!«

Am liebsten ist mir die Welt immer dann, wenn neben dem Erhabenen der Aberwitz auftaucht. Wie jetzt. Denn kaum hatte mich die ehemalige Hure im Blickfeld, rief sie: »Bitte komm näher und bringe deine Homosexualität (sic!) vor Jesus Christ.« In solchen Augenblicken bete ich Amerika an. Klar, sofort spielte ich mit, näherte mich schuldbeladen und legte – von Mary geführt – mein Gesicht auf ihr Dekolleté. Ort der Buße, kein Zweifel. Und roch ihr, überraschend, elegantes Parfum. Und Mary stammelte in den Märchenhimmel, bat the Lord, sich meiner anzunehmen, mir doch endlich die Perversion auszutreiben. Und ich versäumte keinen Genuss: Nicht die schöne Frauenhaut, nicht die friedlichen Geräusche der Schiffe, nicht den harmlosen Schwachsinn einer Durchgeknallten, die sich vorgenommen hatte, mich in einen Heterosexuellen zu verwandeln. Mit Gottes Hilfe. Und ich versprach alles, Abbuße, Heimkehr (»coming home«), eine baldige Verlobung mit der hübschen Nachbarstochter, ja nie wieder nach einem verbotenen Männerhintern zu greifen. Alles »aus Liebe zu Dschissas«.

Heiterer Abschied, ich machte mich rasch aus dem Staub, noch fürchtete ich einen Lachkrampf. Und wanderte weiter, wanderte stundenlang durch die Stadt. Wie immer am letzten Tag einer Reise. Bis ich, weit nach Mitternacht, ein Taxi stoppte. Und die Magie ihren Höhepunkt erreichte. Als wäre der ganze Tag nur eine Vorbereitung darauf gewesen.

Ich stieg ein und traf Eddie, den Fahrer. »Black Eddie«, so stellte er sich grinsend vor. Er streckte sogar die Hand nach hinten. Wir mochten uns sogleich. Eddie sprudelte sofort los: Er spare gerade, denn er wolle »Minister« werden, Pfarrer einer koptischen Gemeinde. Früher hätte er als Bluessänger gearbeitet (ich war sofort hellwach), aber jetzt durfte er nicht mehr singen, denn Blues – so hatten ihn seine künftigen Arbeitgeber wissen lassen – wäre Sünde und sündig.

Ah, die unversiegliche Wut der Christlichkeit auf Sinnenfreude. Poor Eddie.

Da ich inzwischen zu viele Bluesleute getroffen hatte, um nicht zu wissen, dass »the poison« – das Gift, Blues singen zu wollen, nein, singen zu müssen – nicht aufhört zu wirken, übernahm ich umgehend die Rolle des Teufels. Und predigte Eddie von den Wunderbarkeiten seiner Musik. Und da ich ziemlich gut bin im Einreden einer (Wohl-)Tat, die Scheinheilige verteufeln, wurde Eddie bald sündenschwach, fuhr in ein dunkles Eck, stieg aus, holte die Gitarre aus dem Kofferraum, setzte sich auf den Beifahrersitz und – fing an.

Drei Lieder lang habe ich durchgehalten, dann wurde ich wieder die alte Heulsuse. Weil der blues man eines meiner Lieblingsstücke – St. James Infirmary – anstimmte und ich (zum hundertsten Mal?) die Geschichte eines todtraurigen Mannes hörte, der sich auf den Weg in ein Krankenhaus machte und dort seine Freundin vorfand, aufgebahrt, tot und »so sweet, so cold, so fair«.

In Kirgisien hatte die Musik – unter einer glühenden Sonne – vom Beginn der Liebe erzählt und hier, in einer Sackgasse mit einer flackernden Straßenlampe, sang Ex-Profi Eddie von ihrem Ende. Das ist der Magie egal. Sie kann überall hexen. Als ich vor meinem Hotel ausstieg, war ich seltsam erfüllt. Vom schönen Traurigsein. »Magic«, sagte Eddie noch, der offensichtlich in seinem dritten Beruf als Poet jobbte, »magic is a many splendid thing.« Manche verschenken einen Diamantring, andere einen einzigen Satz. Würde man die beiden, wie jetzt, nebeneinanderlegen: Sie funkelten ganz sicher um die Wette.