Kapitel 28
Ronnie sah sie als Erste, wahrscheinlich, weil sie ihren Blick nicht von dem Wald abgewendet hatte, seit sie Mitchs Brüllen gehört hatte.
Als ihre Freundin aus dem Wald kam, gefolgt von Mitch, rannte sie auf Sissy zu. Bis sie ihre Arme um sie schlang, hatte Sissy sich wieder zurückverwandelt. Ronnie drückte sie an sich und kämpfte mit den Tränen. Sie hatte ernstlich befürchtet, Sissy nie wiederzusehen. Es war schon vorgekommen, dass jemand ohne Einladung und Erlaubnis auf den Hügel gegangen und verschwunden war, oder aber zurückgekommen war, nur … falsch.
Die Macht, die die alte Frau ausübte, war groß, und sie hasste alles und jeden.
»Schon gut. Uns geht es gut.«
Ronnie löste sich von ihr. »Sie hat euch gehen lassen?«
»Sie hatte keine große Wahl.«
Es war eine einfache Aussage, aber sie machte Eindruck auf die Wölfinnen. Sie verstanden ihre wahre Bedeutung. Sissys Macht würde nie wieder in Frage gestellt werden. Und nur die Mutigsten würden ihr je die Position der Alphawölfin streitig machen.
Ronnie grinste. Stolz. Sissy hatte einen langen Weg hinter sich, seit sie ihr als Dreijährige eines Tages erklärt hatte: »Wir sind jetzt Freundinnen. Du bist nicht so hübsch wie ich.«
»Ich bin froh, dass es dir gut geht, Sissy.«
»Ja. Ich auch.«
Ein nackter Mitch hastete an ihnen vorbei, nahm im Gehen Sissys Hand und zog sie zu den Autos. »Komm. Wir müssen gehen.«
»Gehen? Wohin?«
»Das Spiel!«
Sissy erstarrte – sie alle erstarrten – und staunte ihn mit offenem Mund an. »Das kann nicht dein Ernst sein!«, blaffte sie.
Mitch wandte sich zu ihr um. »Baby, ich bin der Wide Receiver. Das Team ist auf mich angewiesen!«
Ronnie stellte sich hinter Sissy und sprach aus, was sie alle dachten: »Oh mein Gott. Er ist jetzt einer von denen.«
»Wo zum Teufel wart ihr?«, wollte Travis wissen. Sein ganzes rechtes Bein war eingegipst, und seine Gefährtin hatte ihn in einen Rollstuhl gesetzt. Sissy hatte Mühe, nicht zu kichern.
»Er ist in fünf Minuten fertig.« Sie und Dee beeilten sich, ihm zu helfen, sein T-Shirt über seine Schulterpolster zu ziehen.
»Das will ich ihm auch geraten haben. Das Spiel fängt gleich an.«
»Ich weiß, ich weiß.«
Sissy reichte Mitch seinen Helm. Leider war es nicht der, den sie für ihren Bruder benutzt hatte. Er hätte es auf jeden Fall cool gefunden, diesen Helm zu tragen. »Bist du bereit, Baby?«, schnurrte sie.
»Ich wurde bereit geboren, Baby.«
»Würdet ihr zwei bitte damit aufhören!«, knurrte Travis.
»Was ist los, Travis?«, fragte Sissy mit falschem Mitgefühl. »Machen dich deine Schmerzmittel ein bisschen schlecht gelaunt?«
»Geh vom Feld runter, Sissy!«
»Ich gehe ja schon.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Mitch.
Hinter ihr knurrte Bobby Ray: »Hör auf, meine kleine Schwester zu begrapschen.«
Sissy lachte und wollte gerade mit Ronnie und Dee zur Tribüne gehen, als der Trainer der Bären, der zwei Meter dreiunddreißig große Bibliothekar von Collinstown, angerannt kam. »Die spielen nicht!«
Travis sah Mitch und Brendon an. »Es steht nirgends in den Regeln, dass Katzen nicht für uns spielen dürfen.«
»Die meine ich nicht. Wir haben dir schon mal gesagt, Smith, dass wir nicht spielen, wenn sie« – er deutete auf Sissy – »oder sie« – er deutete auf Ronnie – »mitspielen.«
Mitch sah sie an. »Äh … Sissy?«
Sissy ging auf den Trainer los: »Ich fasse es nicht, dass du uns das immer noch vorwirfst! Das ist Jahre her!«
»Er war drei Monate im Streckverband! Ein Gestaltwandler! Im Streckverband!«
»Er war mir im Weg!«
Travis schickte Sissy mit einer Handbewegung zur Tribüne. »Verschwinde.« Er schaute den Trainer an. »Sie spielen nicht. Sie sind nur zum Zusehen hier.«
»Das will ich hoffen. Wenn ich sie irgendwann auf dem Feld erwische, habt ihr verloren.«
»So, so«, sagte Mitch und genoss offensichtlich Sissys Verärgerung, »du hasst das Spiel nicht, weil es langweilig oder dumm ist, wie du immer gesagt hast. Sondern weil die großen Jungs dich nicht mitspielen lassen!«
»Die großen Jungs? Wohl eher die Riesenbabys!«
Brendon beobachtete die Bären, die Sissy und Ronnie nicht aus den Augen ließen. »Was genau habt ihr zwei angestellt?«
Sissy wollte antworten, doch Bobby Ray schüttelte den Kopf. »Wisst ihr noch, was ihr als Teil des Vergleichs vor Gericht versprochen habt?«
»Vergleich?«
»Ach, vergiss es!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte auf die Tribüne zu.
Als sie es sich gemütlich gemacht hatten, erinnerte Dee Sissy lachend: »Ich hab dir doch gesagt, dass die Bären euch das nie verzeihen.«
Der Bär traf ihn so hart, dass Mitch direkt in die Endzone geschleudert wurde, den Ball fest in den Armen. Aus dem Gebrüll – und dem Geheul – der Menge schloss er, dass er den Sieger-Touchdown geschafft hatte.
Eine große Hand streckte sich ihm entgegen, und er ergriff sie. Brendon zog ihn auf die Füße und hieb ihm die Hand auf die Schulter. In manchen Kulturen zählte das vielleicht als Zuneigungsbekundung, in anderen war es schlicht Körperverletzung.
»Gut gemacht, kleiner Bruder.«
»Ich kann nicht richtig sehen. Aber das ist okay.«
»Der Bär hatte es auf dich abgesehen.«
»Und wo zum Henker warst du?«
»Die anderen Bären ausschalten, die es auf dich abgesehen hatten.« Brendon grinste. »Ich wusste doch, ich habe Talent.«
»Solange wir den Ball von dir fernhalten.«
»Du kannst mich …«
Brendon kam nicht dazu, seine Beleidigung zu beenden, denn Sissy rannte herbei und warf sich auf Mitch. Die Arme um seinen Hals und die Beine um seine Taille geschlungen, küsste sie seinen Helm, denn er hatte ihn noch nicht abgenommen.
»Du warst so heiß!«
Einen Arm unter Sissys Hintern, zog sich Mitch mit der anderen Hand den Helm vom Kopf. »Küss mich, Baby!«
Sie tat es, und all seine Schmerzen und die Erschöpfung der letzten Stunden verblassten. Sie grub die Hände in seine Haare, und er drückte ihren Körper an sich.
»Könnt ihr zwei das später machen?«, beschwerte sich jemand, aber Mitch wusste nicht, wer, und es war ihm auch egal.
Dennoch löste sich Sissy ein wenig von ihm und lächelte ihn an. »Ich muss dich in ein Bett schaffen.«
»Wer braucht schon ein Bett?«
»Mir wird gleich schlecht!« Smitty drängte sich an ihnen vorbei. »Und ich erzähle es Daddy!«
Bevor Mitch Smitty noch ein bisschen mehr ärgern konnte, entdeckte er Dez mit ihrem Handy, die sich mit den Händen durch die Haare fuhr. Sie wirkte frustriert und besorgt. Als ihr Blick seinen traf und sie rasch wieder wegschaute, wusste Mitch, dass sie ihn für seine Aussage brauchten.
Er wusste, dass Sissy das auch verstanden hatte, als sie ihm ins Ohr flüsterte: »Es ist Zeit, oder?«
»Ja, Baby.«
Sie holte tief Luft, und ihre Arme und Beine umklammerten ihn fester. »Aber wir haben noch heute Nacht. Und morgen den ganzen Tag.«
»Wir haben heute Nacht. Und morgen.«
Während sie ihre Stirn an seine lehnte, seufzte sie: »Morgen den ganzen Tag …«