Kapitel 20
Er hatte gedacht, dass sie ihr Rennen auf irgendeinem Feld auf neutralem Boden abhalten würden. Wieder einmal hatte sich Mitch sehr getäuscht. Wie das »Spielfeld« mitten in Smithtown stand die »Strecke« mitten in dem von Bären bewohnten Collinstown der Rennstrecke in Daytona in nichts nach. Noch interessanter war die Tatsache, dass ein Rennen, an dem sechs Frauen teilnahmen, so eine Menge an Zuschauern angezogen hatte. Die Tribünen waren voller Gestaltwandler aus der ganzen Gegend und einer Menge dazugehöriger vollmenschlicher Partner.
Wie üblich wurden Bier und Hotdogs verkauft, aber es gab auch noble Fanartikel wie T-Shirts, Sweatshirts und Jacken mit den Namen der Städte darauf. Es war auf eine übertrieben zwanghafte Art niedlich. In einer großen Stadt gab es einfach zu viele Vollmenschen, um so eine Veranstaltung zu machen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Aber hier konnten sie es einfach genießen, so außer Rand und Band zu sein, wie Gestaltwandler eben waren. Mitch musste zugeben, dass er es großartig fand.
Er konnte sich nicht vorstellen, immer hier zu leben, aber ein Teil von ihm, ein Teil, den er sich nicht zu genau anschauen wollte, konnte sich vorstellen, mit Sissy ab und zu herzukommen. Kuchen essen, Ball spielen, ausflippen, weil ihre Eltern immer noch ein gesundes Sexualleben hatten. Ja, die Vorstellung fiel ihm immer leichter. Was ihn wiederum daran erinnerte, dass er Sissy niemals ganz würde haben können. Wenn er nach Philly zurückkehrte, musste es enden.
Er stützte die Füße am Geländer ab und fragte: »Seid ihr glücklich, du und Ronnie?«
Brendon zuckte die Achseln. »Denke schon. Ich meine, ich bin glücklich. Ich glaube, sie ist glücklich. Wenn sie es nicht ist, hat sie normalerweise kein Problem damit, es mir zu erzählen.«
Mitch grinste. »In allen Einzelheiten.«
»Einmal hat sie ein Schaubild mit Tabellen herausgezogen.« Brendon nahm einen Schluck von seinem Bier. »Was ist mit dir und Sissy?«
»Was ist mit uns?«
»Komm schon, Bruder. Ich bin nicht blind. Ihr zwei fahrt voll aufeinander ab.«
»Es kann nicht für immer sein.«
»Das sagst du ständig, aber es hat keinen von euch beiden davon abgehalten …«
»Ja, ja, ja, ich weiß.«
»Was zum Henker tust du dann?«
»Sehe ich aus, als wüsste ich, was ich tue?«
Sissys Tanten setzten sich auf die Sitze hinter sie, und sowohl Mitch als auch Bren wollten aufstehen.
»Setzt euch wieder hin!« Miss Francine wedelte mit den Händen. »Lasst euch nicht von uns stören.«
Mitch warf einen Blick zurück und runzelte die Stirn. »Keine Smith-Männer?«
»Oh Schätzchen, die sind alle bei Sissy und den anderen und bereiten die Autos vor.«
Mitch gluckste. »Wirklich? Alle?«
Miss Francine schüttelte den Kopf. »Ich weiß. Die Armen!«
Hätte sich ihr Onkel nicht zwischen sie und Jackie gestellt – Sissy hätte dieses Riesenbaby umgehauen.
Ihr Onkel winkte Jackie mit einer Kopfbewegung weg. »Du hast eindeutig das Temperament deines Vaters«, sagte er mit einem warmherzigen Lächeln.
»Er hat angefangen, Onkel Bud.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber du musst dich auf dein Rennen konzentrieren. Du kannst diesen Idioten wirklich jederzeit verprügeln, wenn du willst.«
»Du hast recht.«
»Und rat mal, wer sich aus dem Wald hergeschleppt hat, um dich zu sehen?« Bud trat beiseite, und Sissy riss die Augen auf.
»Onkel Eggie!« Sie warf sich dem älteren Wolf in die Arme. Das bedeutete ihr viel. Jeder wusste, dass es außer seiner Gefährtin und seiner Tochter nicht viel gab, was Eggie dazu bringen konnten, menschliche Gestalt anzunehmen, Kleider anzuziehen und sich als Mensch unter die anderen zu mischen.
»Hallo, Kleine!« Seine Stimme war so rau wie Kies. Man spürte die Worte mehr, als man sie tatsächlich hörte. »Kümmere dich um die Katzen, tu’s für deinen Onkel Eggie.«
»Das werde ich.« Sie küsste ihn auf die Wange, und Dee schlang ihrem Vater von hinten die Arme um die Schultern.
»Hey, Daddy.«
»Hey, meine Süße, ich will, dass ihr da draußen vorsichtig seid. Denkt daran – Katzen spielen nicht sehr nett.«
Sissy ließ ihre Fingerknöchel knacken und warf einen Blick zu Paula Jo Barron und ihren Schwestern hinüber. »Kein Problem«, murmelte sie.
Mitch hatte nur eine einfache Frage gestellt: »Wie viele Runden?« Was Brendon dazu brachte, zu einem Vortrag über NASCAR-Regeln anzusetzen, die Mitch im Moment nicht egaler hätten sein können.
»Und willst du den Unterschied wissen zwischen Speedwayrennen und …«
»Nein.« Mitch drehte sich zu den Tanten um. »Wie viele Runden?«
»Normalerweise ungefähr zwanzig.«
Mitch und Brendon schauten sich an und dann wieder die Tanten.
»Äh … das klingt nicht besonders schwierig.«
Sie lächelten alle, wodurch sich Mitch kein bisschen besser fühlte.
Aus den Lautsprechern erklang die Nationalhymne, und alle standen auf, bis auf Mitch und Brendon, die nicht daran dachten, bis Francine ihnen Klapse auf die Hinterköpfe gab.
Nachdem sie ihre Pflicht als Amerikaner erfüllt hatten, setzten sie sich wieder, und Mitch sah zu, wie die Wagen auf die Bahn fuhren.
Sechs. Es waren nur sechs Autos.
Wieder schaute er über die Schulter. »Nehmen nur sechs teil?«
»Yup«, sagte Francine und bot ihm ein Kirschbonbon an, das er annahm, da er langsam ein wenig Hunger bekam.
Mitch und Brendon tauschten noch einen Blick. »Irgendetwas stimmt nicht.« Mitch wandte jetzt seinen ganzen Oberkörper um, damit er die Frauen hinter sich direkt ansehen konnte. »Was ist los? Was verschweigen Sie uns?«
»Es ist eigentlich nicht so wichtig, was wir euch verschweigen, oder? Da keiner von euch jetzt noch etwas tun kann, nicht wahr?«
»Was soll das denn für eine Antwort sein?«
»Mist.«
Bren sagte es leise, und jeden anderen hätte es nicht beunruhigt. Mitch allerdings schon. Sofort drehte er sich wieder um, schaute zur Strecke und merkte, dass die Wagen schon den Asphalt entlangschossen. Zuerst sah es aus wie ein gewöhnliches Rennen, nur dass nur sechs Wagen auf der Strecke waren und drei von ihnen in verschiedenen Schattierungen von Gold lackiert waren. Dann rammte das hellgoldene Auto mit der Nummer 48 auf der Seite Ronnie Lees kirschroten Wagen. Es streifte nicht nur, sondern fuhr ihr richtig in die Seite und drückte Ronnie beinahe gegen die Wand.
»Mist!«
Mitch beugte sich vor, und genau wie er es sich vorgestellt hatte, kam Sissy in dem schwarzen Auto heran. Zuerst rammte sie die 48 von hinten, zog zur Seite und rammte sie seitlich. Der goldene Wagen krachte gegen die Wand, und Mitch dachte sich, die Fahrerin werde draußen bleiben. Doch das tat die Löwin nicht. Sie fuhr zurück auf die Strecke. Noch unglaublicher war, dass es für keine dieser Aktionen eine Straffahne gab noch die anderen Autos langsamer wurden. Mitch war kein richtiger Fan von Autorennen, aber er hatte ein paar Regeln aufgeschnappt, als er an seinen freien Sonntagen NASCAR-Rennen im Fernsehen gesehen hatte.
Anscheinend galt hier keine dieser Regeln.
»Es ist wie Roller Derby, nur mit Autos.«
»Ich bringe sie um!«, knurrte Bren. »Wenn sie das überlebt, werde ich sie umbringen, verdammt noch mal!«
Mitch verstand genau, wie sich sein Bruder fühlte, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.
Sissy trat auf die Bremse und vermied es knapp, von Paula Jo erwischt zu werden. Genau wie Sissy hatte Paula Jo nicht vor, die letzte Runde mit der besten Zeit zu fahren. Dafür waren ihre Schwester Lucy und Ronnie Lee vorgesehen. Die Aufgabe von Sissy, Dee, Paula Jo und Paula Jos mittlerer Schwester Karen Jane war, dafür zu sorgen, dass weder Ronnie Lee noch Lucy es überhaupt bis zur letzten Runde schafften. Sie sollten die Ziellinie nach Möglichkeit nicht überqueren.
Sie hatten genau zwanzig Runden, um das gegnerische Team aufzuhalten und gleichzeitig ihre Teamkameradin zu schützen. Es war ein brutales Spiel, das ursprünglich aus einem kleineren Unfall entstanden war, der sich zu etwas ausgewachsen hatte, das normale, gesetzestreue Leute »Gewalt im Straßenverkehr« nannten. Und nur die Frauen maßen sich darin, denn die Männer waren »einfach nicht verrückt genug«, wie Sissys Granddaddy eines Tages erklärt hatte.
Sissy schaltete und schloss zu Paula Jo auf. Sie wollte sie gerade rammen, als Paula Jo ihr zuvorkam und Sissy zu einer Drehung zwang, die sie fast völlig aus dem Rennen geworfen hätte. Dann stellte Paula Jo Ronnie Lee nach.
»Diese Schlampe!«
Jetzt war Sissy sauer.
Mitch atmete hörbar aus. »Okay. Jetzt ist sie sauer.«
Bren ließ die Strecke nicht aus den Augen. »Woher weißt du das?«
»Ich weiß es einfach.«
Und wie zum Beweis schoss Sissy mitten auf der Strecke zwischen der 48 und der 52 hindurch. Als sie zwischen ihnen war, rammte sie zuerst die Linke, was die 48 auf die Grünfläche in der Mitte der Strecke schob, und schwenkte dann rasch nach rechts, um die 52 gegen die Wand zu knallen.
»Wow.«
Mitch zuckte die Achseln. »Hab ich doch gesagt.«
Die Menge flippte aus, alle waren aufgesprungen. Selbst die Tanten hinter ihnen schrien: »Reiß die Zicken in Stücke, Sissy!«
Brendon beugte sich zu Mitchs Ohr vor. »Eines Tages, wenn wir zwei allein in einem schalldichten Raum sind und ein paar Bier dabeihaben, erzählen wir uns gegenseitig, was für eine Angst wir gerade haben.«
»Alles klar, Bruder.« Um ihren Pakt zu besiegeln, schlugen die Brüder ihre Fäuste aneinander und richteten dann die Blicke wieder auf die Rennstrecke.
Was sie dort sahen, machte ihnen natürlich nur noch mehr Angst.
Sissy schrie. Nein. Es war kein hysterisches Kreischen wie ein paar Abende zuvor, als sie herausgefunden hatte, dass ihre Eltern das Zuhause ihrer Kindheit als eine Art Sexclub benutzten – und das würde sie noch jahrelang schaudern lassen –, sondern einer ihrer »Ich bin bereit, alle zu töten!«-Schreie. Sie wandte sie nicht oft an, doch wenn sie es tat, gingen ihr kluge Leute aus dem Weg.
Natürlich war es nicht so, dass Paula Jo nicht klug war. Sie ging nur aus keinem Grund irgendjemandem aus dem Weg. Wären sie keine Todfeindinnen gewesen, hätte Sissy die Schlampe wahrscheinlich gemocht.
Sie sah die Flagge und wusste, dass sie die letzte Runde begannen. Das war praktisch die einzige Flagge, die in diesen Rennen je benutzt wurde.
Sissy drückte aufs Gas und schoss an den Löwinnen vorbei, um links neben Ronnie Lee zu fahren. Ronnie lag vorn und konnte gewinnen, aber die Katzen gaben ihr Bestes, um sie auszuschalten, denn so viel Mühe sich Lucy auch geben mochte, sie konnte mit Geschwindigkeit einfach nicht so gut umgehen wie Ronnie.
Dee-Ann kam an Ronnies rechter Seite heran. Ihr Wagen hatte deutliche Dellen in Kotflügel und Seitenverkleidung, aber Sissy wusste, dass ihr eigenes Auto schlimmer aussah. Natürlich hatte sie auch ein schlimmeres Temperament als Dee.
Die Löwinnen hatten noch eine Runde, um Ronnie aufzuhalten oder zu verlieren. Sie gingen aufs Ganze und starteten ein Manöver, das Sissy ihrer Erinnerung nach noch nie gesehen hatte – es musste neu sein.
Karen Jane zog an Sissy vorbei und scherte vor ihr ein. Dann trat sie auf die Bremse. Sissy hatte nur Bruchteile von Sekunden, um zu reagieren, trat selbst auf die Bremse und drehte das Lenkrad herum; da rammte Paula Jo sie von hinten und schleuderte Sissy von der Strecke auf das Grasfeld in der Mitte.
Lucy schob sich zwischen Ronnie und Dee und schaltete Dee mit einem wohlplatzierten Schlenker aus. Sissys Cousine geriet ins Schleudern und krachte gegen die Wand.
Okay. Sissy war schon vorher sauer gewesen, aber jetzt …
Sie schoss über die Mitte der Strecke. Das war in einem normalen Rennen komplett illegal und bei manchen Rennstrecken gar nicht möglich. Aber in diesem Spiel gab es nur zwei Regeln – man durfte ein Auto, wenn es aus dem Rennen war, nicht absichtlich rammen, und man durfte auf keinen Fall eine Fahrerin anfahren, wenn sie sich außerhalb ihres Wagens befand. Jede Regelverletzung brachte einen in das Gefängnis von Smithtown oder Barron.
Sissy fuhr jetzt wieder auf die Strecke, und als ihre Hinterreifen auf dem Asphalt landeten, brach ihr Heck aus. Aber sie war, wo sie sein musste. Sie hatte es so getimt, dass Ronnie Lee in dem Moment an ihr vorbeifuhr, als sie wieder auf der Strecke war. Nun überquerte sie die Bahn und drängte Paula Jo und Karen Jane zurück. Lucy stahl sich vorbei, aber Ronnie Lee würde immer schneller sein als dieses kleine Mädchen. Sissys große Sorge waren ihre beiden älteren Schwestern.
Mit zusammengebissenen Zähnen schleuderte sie herum, und ihr Heck kollidierte mit Paula Jos Front. Durch die Trägheit der Masse wurde Paula Jo ins rechte Heck des Wagens ihrer Schwester gedrückt. Das wiederum ließ Karen Jane ins Schleudern geraten, und sie fuhr direkt gegen Sissy.
Sissy wurde gestoßen, und plötzlich … flog sie.
Als Sissys Wagen hochgerissen wurde und sich überschlug, sprang Mitch auf, sein Herz riss ein Loch in seinen Brustkorb. Doch ihr Auto hielt nicht an. Es flog weiter und überschlug sich auf der Grasfläche, die sie für ihre wahnsinnige Aktion benutzt hatte, erneut. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft sie sich überschlug. Aber als sie schließlich landete, hatte Ronnie Lee die letzte Runde geschafft, und die karierte Flagge flog in die Höhe.
Wieder tobte die Zuschauermenge, und Mitch fühlte sich kurz an die Randale bei Fußballspielen in Europa erinnert, bevor er über das Geländer sprang und quer über die Strecke auf Sissys Wagen zurannte.
Er war vor ihren Brüdern dort, und ohne auch nur nachzudenken, riss er die zerquetschte Seitentür von dem Wagen los und schleuderte sie hinter sich. Er hätte jemanden treffen können, aber das war ihm egal.
»Sissy?«
Er kauerte sich neben sie, erleichtert zu sehen, dass sie zumindest die angemessene Ausrüstung trug, angefangen bei einem Sechspunktsicherheitsgurt bis zu einem Helm, der zu ihrem tiefschwarzen, feuerfesten Anzug und dem Genickschutz passte.
Himmel, diesen verfluchten Genickschutz brauchte sie auch!
»Sissy!«
Ihre Augen öffneten sich, sie blinzelte und sah sich um. Als sie ihn schließlich ansah, fragte sie nur eines …
»Haben wir gewonnen?«