Kapitel 3

 

Sissy Mae drehte sich um, vergrub ihren Kopf wieder in den Kissen und versuchte ihr Bestes, das Sonnenlicht auszublenden. Da sie noch nie ein Morgenmensch gewesen war, schloss sie die Jalousien in ihrem Zimmer im Kingston Arms Hotel immer. Warum sie es letzte Nacht nicht getan hatte, war ihr ein Rätsel.

Na ja, es war nicht wichtig. Sie war sowieso zu erschöpft, um sich jetzt darum zu scheren. Sie war erschöpft und hatte Schmerzen. Ihr Hals war rau und tat weh, und in ihrem Kopf hämmerte es. Es fühlte sich an, als klappere ihr Gehirn in ihrem Schädel herum.

Daran musste der letzte Schluck Tequila schuld gewesen sein. Sie erinnerte sich deutlich daran, sich dabei gesagt zu haben: »Na ja, verkommen lassen kann ich ihn ja auch nicht.«

Leider war das das Letzte, woran sie sich deutlich erinnerte.

Nein, sie würde nicht so schnell aufstehen, wenn sie es vermeiden konnte. Und zum Beweis vergrub sie ihr Gesicht tiefer im Kissen. Das fühlte sich gut an, also tat sie es noch einmal. Auf eine merkwürdige Art half es gegen ihre Kopfschmerzen – sie hätte nie zugegeben, dass es ein Kater war –, also tat sie es noch einmal. Dann rieb sie den Kopf am Kissen.

Es war dieser Geruch. Sie wollte diesen Geruch an ihrem Körper haben. Was sehr typisch für Gestaltwandler war, und sie hatte es nie so recht einem Vollmenschen erklären können, ohne eine angewiderte Reaktion zu ernten.

Während ihr Gehirn langsam zu verarbeiten begann, wessen Duft das womöglich sein konnte, spürte sie, wie sich das Bett senkte und sich etwas Schweres an ihre Seite legte.

»Baby?«, fragte eine köstlich tiefe Stimme. »Bist du wach? Ich brauche dich, Baby.«

Sissy riss die Augen auf, schloss sie aber sofort wieder, als helles Sonnenlicht brutal ihr Gehirn im Schädel versengte.

»Mitchell?«

»Ja«, schnurrte er und rieb den Kopf an ihrem Kinn, an ihrem Ohr. »Hast du Lust auf mehr von mir, Baby? Denn wir sind ganz und gar noch nicht fertig.«

Egal, wie sehr das Licht schmerzte – Sissy stemmte die Hände gegen Mitchs Brust und schob ihn von sich, während sie rückwärts krabbelte, bis ihre Schultern das Kopfende berührten. Mit beiden Händen zog sie das Laken bis unters Kinn hoch.

»Was zum Henker ist hier los?«

»Stimmt etwas nicht, Baby?«

Sie starrte ihn entsetzt an. »Mitchell Shaw, sag mir, dass du das nicht getan hast!«

»Was getan?« Er krabbelte übers Bett auf sie zu. »Dich nicht von innen nach außen gekehrt und rangenommen, wie du noch nie rangenommen wurdest? Na ja, wenn du mich bittest, ehrlich zu sein, dann muss ich wohl sagen …«

»Nicht.« Eine Hand ließ das Laken los, das sie umklammert hielt, um seinen Worten Einhalt zu gebieten. »Kein Wort mehr.«

»Sei nicht so, Baby!«

»Und hör auf, mich so zu nennen!«

Er ergriff das Laken und begann, es von ihr wegzuziehen. »Sei nicht schüchtern, Baby. Wir haben jetzt keine Geheimnisse mehr voreinander.«

Das konnte nicht sein! Das konnte nicht sein! Sie war doch vollständig angezogen!

Moment mal. Sie war vollständig angezogen.

Sissy starrte hinab auf das saubere weiße T-Shirt und die weiße Trainingshose. Sie rochen eindeutig nach Ronnie. Das waren Ronnies Kleider. Mussten es sein. Sissy trug niemals Weiß. Sie kleckerte immer innerhalb von Sekunden Essen auf ihre Kleider. Und etwas sagte ihr, dass es Ronnie gewesen war, die ihr diese verdammten Sachen angezogen hatte.

»Du bist so heiß, Baby.«

Langsam sah sie zu Mitch auf, und als sie sich zwang, ihre Kopfschmerzen zu ignorieren, konnte sie erkennen, dass er größte Mühe hatte, nicht laut loszulachen.

»Du. Haariger. Bastard!«

Sissy stürzte sich auf Mitch und warf ihn vom Bett auf den Boden. Sie boxte und schlug nach seinem Gesicht, und er wehrte ihre Schläge mit der Seite seiner Arme ab. Dabei war es nicht sehr hilfreich, dass er sich die ganze Zeit kaputtlachte.

»Ich hasse dich, Mitchell Shaw! Ich hasse dich!«

»Du liebst mich, Süße! Gib’s zu!«

»Eines Tages«, versprach sie ihm zwischen Schlägen, »wirst du mich in der Hölle wiedertreffen! Und ich werde dir in deinen dicken weißen Arsch treten!«

»Gestern Nacht hast du gesagt, es sei ein toller Arsch!«

»Halt die Klappe!«

Er schnappte ihre Handgelenke, drehte sie ihr auf den Rücken und legte sich zwischen ihre Beine. »Willst du weiter gegen mich kämpfen, oder wirst du zugeben, dass ich dein Herr und Heiland bin?«

»Gotteslästerer!«

»Das haben die Priester alle gesagt.«

»Ich sollte meinem Daddy sagen, dass er dir in den Arsch treten soll!«

»Er ist im Urlaub. Mit deiner Mutter. Weißt du noch?«

Und ganz plötzlich war ihr ganzer Kampfeswille wie weggeblasen. »Sie ist weg? Ganz ehrlich?«

»Ganz ehrlich.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Nase. »Also, willst du weiter mit mir kämpfen, oder besorgen wir uns was zum Frühstück?«

»Frühstück, du fieser Mistkerl. Aber das verzeihe ich dir trotzdem nicht!«

Grinsend ließ Mitch ihre Handgelenke los und sprang mit Leichtigkeit auf. Dann nahm er Sissys Hand und zog sie hoch.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?« Er hielt immer noch ihre Hand. »Ich habe dich gerade ganz schön durcheinandergebracht.«

»Das war gemein.« Sie zuckte die Achseln. »Wenn ich darüber nachdenke, muss ich anerkennen, dass es geradezu bösartig war.«

Er kam näher. »Dann bist du nicht sauer auf mich?«

»Das sollte ich wohl sein …« Sissy schaute in Mitchs hübsches Gesicht hinauf, und ihr blieben die Worte im Hals stecken, als sie dort etwas sah, was sie nicht sehr oft sah – vielleicht, weil sie vorher nie richtig hingesehen hatte. Sie sah Begehren. Rein und klar. Es stand ihm eindeutig ins Gesicht geschrieben und war daran erkennbar, wie er ihre Lippen ansah.

Sie schluckte und wollte sich gerade über die plötzlich trockenen Lippen lecken, als ihr klar wurde, dass das wahrscheinlich keine gute Idee war.

Er stieß einen Seufzer aus. »Wir müssen gehen, oder?«

»Ja. Müssen wir.« War doch so, oder? Irgendwo im Universum hätte man das für das Richtige gehalten. Nur dass sie sich nicht erinnern konnte, warum es das Richtige sein sollte.

»Du hast recht. Ich weiß, dass du recht hast.« Er schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Es ist verflucht schade, was?«

»Vielleicht. Soweit ich weiß, bist du eine Niete im Bett.«

»Na, das war jetzt aber grausam … und eine Herausforderung.«

Lachend schlug Sissy im Spaß nach Mitchs Kopf. Er duckte sich, sein Körper wich ein bisschen zur Seite aus, um dem Schwinger zu entgehen, und dann … dann wurde alles surreal. Sie hörte leise Knallgeräusche, und Mitch kippte nach vorn, fiel gegen sie und riss sie mit sich zu Boden.

»Mann, Mitchell! Was soll das …«

Dann roch sie es. Das Raubtier in ihr konnte es riechen – und hungerte danach.

Blut.

Mitchs Blut.

»Mitchell?«

Sie umklammerte seine Schultern, und plötzlich spürte sie Blut an ihrer rechten Hand. Sie drückte ihn, bis er auf dem Rücken lag, setzte sich rittlings auf ihn und schaute in sein Gesicht hinab.

»Mitchell?«

Er öffnete die Augen und schaute zu ihr auf. »Raus hier, Sissy«, brachte er heraus. »Verschwinde von hier!«

»So leicht wirst du mich nicht los, Schätzchen.« Sie blickte an seinem Körper entlang und entdeckte sofort sein Handy. Er benutzte es für private Anrufe, aber es war auch für ihre Firma eingerichtet.

Sie benutzte die Sprechfunkfunktion.

»Hier ist Sissy. Bitte kommen.«

Ihr Bruder war ein unglaublich misstrauischer Mann, und er hatte wirklich von dem Zeitpunkt an, wo die Gäste auf Long Island ankamen, bis zu dem Moment, wo der letzte gegangen war, für Security gesorgt. Sie war noch nie so dankbar gewesen.

»Hier ist Té, Sissy. Was ist los, Mädchen?«

»Té, du musst Mace und Brendon sofort in Mitchs Zimmer schicken. Er ist verletzt und blutet an Hals und Schulter.«

Mit jetzt ganz und gar nicht mehr entspannter Stimme antwortete die eins achtundneunzig große Bärin: »Bleib dran.«

Sissy zog das Leintuch vom Bett und zerriss es mit ihren Krallen. Sie nahm mehrere der Streifen und drückte sie an seinen Hals und die Schulter. Mehr Sorgen machte ihr der Hals.

»Mitch, Schätzchen, du musst bei mir bleiben!« Sie ließ ihre Stimme gebieterisch klingen, obwohl sie sich fühlte wie ein verängstigtes Häufchen Elend. »Halt einfach deine irren Katzenaugen offen und schau mich an.«

Er tat es, aber sie wusste, dass es eine echte Herausforderung für ihn war. Er wollte so gerne schlafen.

Té war wieder am Telefon. »Sissy, bist du da?«

»Ich bin hier. Schieß los.«

»Wir sind unterwegs.« Das war alles, was sie sagte, und genau das wollte Sissy hören.

»Kein Krankenhaus«, sagte Mitch und schaute sie mit seinen goldenen Augen an. Sie wusste, dass er recht hatte. Sie konnten ihn nicht in ein Krankenhaus bringen. Jedenfalls in kein normales Krankenhaus, wo sie ihn nicht schützen konnten.

Ins Telefon sagte sie: »Kein Notarzt, Té. Keine Cops.«

»Verstanden.«

»Ich muss nach Hause, Sissy. Dort bin ich sicher.« Irgendwie bezweifelte sie das, aber sie würde nicht mit ihm darüber diskutieren.

»Ich kümmere mich um alles, Mitch. Mach dir keine Sorgen, Schätzchen.«

»Du musst gehen.«

»Du weißt, dass Wölfinnen nur das tun, was sie wollen. Wir sind in der Hinsicht schwierig. Also denkst du jetzt einfach nur daran, für mich durchzuhalten, Schätzchen, und lässt mich den Rest erledigen.«

Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, vielleicht zwei Minuten, aber es fühlte sich an wie dreißig Stunden, bis die Hoteltür mit einem Tritt aufging und Mace hereinkam. Dez war hinter ihm, bekleidet nur mit einem langen T-Shirt, auf dem »Ich liebe meine Rottweiler« stand. Fast hätte Sissy gelacht, was ihr im Augenblick allerdings echt unangemessen vorgekommen wäre. Wie immer war Dez gut bewaffnet, mit einer 45er, und sie ging langsam zum Fenster hinüber, wobei sie sich dicht an der Wand und aus der direkten Schusslinie hielt.

Mace kauerte sich neben sie und Mitch.

»Kein Krankenwagen«, sagte Mitch noch einmal.

»Keine Sorge, Kleiner«, sagte Mace. »Wir haben alles unter Kontrolle.«

Aber die Streifen des Lakens, die sie zusammengeknüllt auf seine Wunden gedrückt hatte, waren schon blutgetränkt, und Blut bedeckte Sissys Hände und die Unterarme fast bis zu den Ellbogen hinauf.

Dez kam wieder herüber. Sie warf einen Blick auf Mitch, bevor sie auf die Tür zusteuerte. »Ich gehe draußen nachsehen.«

»Dez …« Aber Mace konnte nicht ausreden, denn sie war schon weg.

Plötzlich waren Brendon und Marissa da, aber ohne Ronnie, was Sissy sehr seltsam vorkam. Mace rückte zur Seite, um Brendon Platz zu machen. Marissa sagte nichts, lehnte sich nur mit dem Rücken an die Wand, schlang die Arme um ihren Körper und starrte. Sissy konnte das Entsetzen in ihren Augen, in ihrem bleichen Gesicht sehen. Sie hatte furchtbare Angst um ihren kleinen Bruder. Und sie hätte es wahrscheinlich nie zugegeben.

Die Brüder sahen sich in die Augen, und Sissy spürte die Verbindung zwischen ihnen. Sie hatte dasselbe mit Bobby Ray. Diese Verbindung, die über einfache Blutsbande hinausging, viel tiefer.

Brendon nahm Mitchs Hand in seine und hielt sie fest. »Wir müssen ihn hier rausbringen.«

»Kein Notarzt«, wiederholte Mitch. »Keine Polizei.«

»Wir können ihn nicht hierlassen«, sagte Brendon ruhig. »Kennen wir einen Arzt in der Umgebung?«

»Ich nicht«, sagte Mace. »Aber ich bin mir sicher …«

Ronnie kam hereingerannt, und hinter ihr Mitchs Mutter und Gwen.

Roxy schob Brendon beiseite und kauerte sich neben Mitch. Sie zog die Lakenstücke weg und untersuchte die Wunden. »Ich brauche Wasser. Gwen, geh zum Auto und hol den Verbandskasten!«

Gwen setzte sich ohne eine weitere Frage in Bewegung, und Ronnie nahm den Eiseimer und ging damit ins Bad, um das Wasser zu holen.

Roxy nahm saubere Streifen von dem zerrissenen Laken und drückte sie auf Mitchs Verletzungen. Sie rief Sissy mit einer Kopfbewegung zu sich. »Drücke die auf seine Wunden, bis ich es dir sage.«

Sissy nickte und tat, wie ihr befohlen.

Es vergingen kaum zwei Minuten, bis Gwen mit einem Metallkasten zurückkam, auf dem in roter Schrift »Erste Hilfe« stand. Sie öffnete ihn und zog eine riesige Rolle Verbandsmull heraus. Davon riss sie Streifen ab und reichte sie ihrer Mutter.

Bis dahin hatte Roxy ihr Wasser. Sie schob Sissys Hände weg und wischte vorsichtig das Blut ab. Es schien noch mehr herauszuströmen, aber ihre Miene war unbewegt. Sie sah äußerst interessiert aus, nichts weiter. Sie ließ keine Anzeichen von Panik, Angst oder Wut erkennen. Sie säuberte nur die Wunden ihres Sohnes und untersuchte den Bereich.

»Ich sehe drei Eintrittswunden. Die an seinem Hals ist eher ein Kratzer. Die anderen beiden …« Sie schob die Hand unter Mitchs Schulter, ignorierte erfolgreich, wie er vor Schmerzen zusammenzuckte, und tastete herum. »Ja. Sie sind durchgegangen. Das ist gut. Dann muss ich nicht herumgraben.«

Sie umfasste Mitchs Schulter, und er knurrte sie an. »Ja. Die Kugel hat auf dem Weg einen Knochen getroffen. Das wird höllisch wehtun, wenn es heilt.«

Sie nahm mehr Gaze und übte wieder Druck auf die Wunde aus. »Sissy.« Sofort ersetzte Sissy Roxys Hände durch ihre eigenen und drückte.

»Gwen, was haben wir in dem Kasten?«

»Um seine Wunden zu schließen?« Gwen schaute hinein, ohne auf die Antwort ihrer Mutter zu warten: »Wir haben dein Klammergerät.«

Und Mitch knurrte wieder.

Roxy tätschelte seinen Kopf. »Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass sie in seine Wunde einwachsen. Sie sind verflixt kompliziert wieder herauszubekommen. Was noch?«

»Klemmpflaster.«

»Perfekt. Die nehmen wir.«

»Warum nicht nähen?«, fragte Brendon, der ruhelos auf und ab ging, während er zusah.

»Ich weiß nicht, wann die Fäden gezogen werden. Und auch da will ich nicht, dass sie in die Wunde einwachsen. Gwen, nimm Sissys Platz ein. Du hilfst mir.«

Sissy stand auf und ging Gwen aus dem Weg. Sie starrte auf ihre blutverschmierten Hände hinab und merkte, dass die weißen Sportklamotten, die sie trug, ebenfalls blutverschmiert waren.

Mace nahm ihren Ellbogen und führte sie zur Schlafzimmertür. Das Letzte, was Sissy sah, bevor Mace sie in das kleine Wohnzimmer der Suite zog, waren die Tränen, die über Marissa Shaws Gesicht rannen.

»Rede mit mir!«

Sie zuckte die Achseln. Das Blut trocknete auf ihren Händen und Armen. Im Moment war es klebrig. Bald würde es trocken sein und …

»Sissy! Erzähl mir, was passiert ist!«

»Wir standen am Fenster und haben geredet. Und dann habe ich Knallgeräusche gehört, und er ist umgefallen.« Sie schloss die Augen, als die frische Erinnerung über sie hereinbrach. »Er ist beiseitegegangen, Mace. In der letzten Sekunde ist er beiseitegegangen, und wenn er nicht …« Die Worte blieben ihr im Hals stecken, als das Bild von Mitchs Gehirnmasse, die Ronnies hübsche weiße Kleider bedeckte, sie fast erstickte. Himmel, sie schaffte es kaum, sich zusammenzureißen.

»Er ist einer von uns, Sissy.« Mace streichelte ihren Rücken. »Und Gott weiß, er ist härter im Nehmen als die meisten anderen.«

»Ich weiß.«

»Und was ist mit Smitty?«

Sissy blinzelte und schaute zu Mace auf. »Was ist mit ihm?«

»Wir müssen es ihm sagen.«

»Er sitzt schon in einem Flugzeug. Sie sind vor Sonnenaufgang abgereist. Abgesehen davon: Was soll er tun, außer sich Sorgen zu machen und dich in den Wahnsinn zu treiben?«

»Da hast du auch wieder recht«, brummte Mace.

»Nein. Wir lassen ihn für den Moment außen vor.«

Ronnie zog an ihrem Shirt. »Ich habe dir saubere Kleider besorgt.«

»Danke.« Sissy schaute an sich hinab. »Ich muss mich erst waschen.«

Aber bevor sie in ein Badezimmer entkommen konnte, erschien Té in der Tür. Die Bärin musste sich beinahe ducken, um hereinzukommen. »Wir haben ihn verloren.«

Sissy konnte sehen, wie Mace diesen Blick bekam. Deshalb hatten es die Mitarbeiter lieber mit Bobby Ray als mit Mace zu tun. Mace hatte eine sehr niedrige Toleranzgrenze bei Versagen. Selbst bei Versagen, das nicht zu vermeiden war.

»Irgendein Hinweis, wo sie waren?« Sissy wusste, dass dieses Zimmer im zweiten Stock wegen seiner Lage und besonderen Sicherheit speziell für Mitch ausgewählt worden war. Keine Bäume, hinter denen sich jemand vor dem Fenster verstecken konnte, und keine Gebäude in der Nähe. Und er war umgeben von Gestaltwandlern, sodass sich keiner einschleichen konnte.

»Nein. Aber wir suchen noch.« Té lehnte sich zur Seite und versuchte, ins Schlafzimmer zu spähen. »Wie geht es ihm?«

»Er lebt.«

Tés Blick aus ihren braunen Augen fiel auf die Blutflecke auf Sissys Kleidung. »Okay.«

»Also, was jetzt?«, fragte Mace. »Was können wir am besten für ihn tun?«

Brendon kam ins Zimmer – Sissy hatte das Gefühl, dass Roxy ihn hinausgeworfen hatte – und sagte: »Ich kann ihn im Familienflugzeug nach Philly bringen.«

»Und wir können dir Schutz bieten, solange du es brauchst.«

Sissy schüttelte den Kopf. »Du kannst ihn nicht nach Philly bringen.«

»Warum nicht?«

»Alle, die ihn tot sehen wollen, sind dort.«

»Aber jetzt sind wir nicht dort. Wir sind auf Long Island, verdammt. Und hier war er auch nicht sicher.«

»Sie hat recht.« Roxy kam herein und wischte sich dabei mit einem Hotelhandtuch das Blut von den Händen. »Er sollte nicht zurück nach Philly. Noch nicht. Zumindest nicht, bis er seine volle Kraft wiederhat.«

»Wohin dann?«

Mace lehnte sich mit dem Po an die Rückenlehne der Couch. »Nimmt ihn der Zeugenschutz?«

»Vielleicht.«

»Vergesst es. Ich lasse meinen Sohn nicht bei irgendwelchen nutzlosen Vollmenschen, wenn er immer noch zu schwach ist, um sich selbst zu schützen. Selbst wenn sie bewaffnet sind. Er wird bei seinem Rudel wohnen, wenn er zurückmuss.«

Brendons kaum noch vorhandener Geduldsfaden riss, und er baute sich vor Roxy auf, was Mace und Sissy schockierte – aber Roxy ganz und gar nicht.

»Hör mal, ich lasse ihn nicht ungeschützt mitten in Philly mit einem Haufen gleichgültiger Frauen allein!«

»Wir können es auch nicht schlechter machen als du und dein Vater.«

Sissy atmete hörbar aus. Sie war nicht in der Stimmung für so etwas. Und ihre übliche Geduld war im Augenblick nicht existent.

»Hört auf. Beide.« Sie hob weder die Stimme noch sprach sie gar schneller. Im Moment klang sie mehr wie Bobby Ray oder ihr Daddy. Dennoch traten sie beide zurück und sahen sie an. »Wie lange, bis er reisen kann?«, fragte sie Roxy.

»Wir haben die Blutung gestoppt, und ich habe mich um die Wunden gekümmert. Gwen macht ihn jetzt sauber.«

»Macht ihn fertig, packt seine Sachen zusammen. Er kommt mit mir.«

Brendon runzelte die Stirn. »Mit dir? Wohin?«

»Nach Hause.« Sie sah Ronnie an, und ihre Freundin riss die Augen auf, als ihr bewusst wurde, welches Zuhause Sissy meinte. »Ich nehme ihn mit nach Smithtown.«

Das Letzte, woran sich Mitch wirklich erinnerte, war … auf Sissy zu liegen. Er hatte den Bruchteil einer Sekunde Zeit gehabt, um zu denken: »Wow, das fühlt sich echt gut an!« Dann war alles irgendwie diffus geworden.

Als er die Augen öffnete, sah er sich um und sah Sissy auf dem Boden ihm gegenüber sitzen. Sie hatte den Kopf gesenkt, die Beine angezogen, ihre Ellbogen ruhten auf den Knien.

»Sissy?«

Sie hob den Kopf und lächelte, aber er konnte sehen, wie müde sie war, wenn er ihr nur ins Gesicht blickte. Nicht nur müde – erschöpft.

»Hi«, sagte sie und sah erleichtert aus.

»Hi.« Mitch blinzelte und schaute sich noch einmal um. Sie waren in einem Flugzeug. Das Flugzeug seines Bruders, wenn man vom Grad des Luxus ausging. Verdammt viel besser als bei einer der Fluggesellschaften.

»Wir fliegen nach Hause, ja?«, fragte er Sissy, und er machte sich Sorgen um sie. Sie hätte nicht mit ihm kommen sollen. Und wo waren überhaupt alle anderen? Irgendetwas stimmte nicht, aber er konnte sich nicht genug konzentrieren, um herauszufinden, was es war.

»Ja, Schätzchen. Wir fliegen nach Hause. Und jetzt schlaf weiter.«

»Geht es dir gut?«

Ihr Lächeln wurde breiter, aber er wusste nicht, warum. »Ja, Mitch. Mir geht es gut.«

»Oh. Gut.« Er begann wieder wegzudämmern, wachte aber mit einem Ruck noch einmal auf. »Aber …«

»Schschsch.« Und es war gut, dass sie ihn unterbrach, denn er wusste wirklich nicht mehr, was er hatte sagen wollen. »Schlaf jetzt. Alles wird gut.« Etwas Weiches streifte seine Stirn, und hätte er es nicht besser gewusst, hätte er geschworen, dass Sissy ihn gerade geküsst hatte.

Er lächelte, als er wieder einschlummerte. »Du schmutzige Wölfin. Versuchst wohl, meinen geschwächten Zustand auszunutzen.«

Sie lachte leise und flüsterte: »Dummkopf.«

»Großmaul«, schoss er zurück.

Er hörte Sissy wieder kichern, bevor er vollends einschlief. Der Klang beruhigte ihn. So sicher hatte er sich seit sehr langer Zeit nicht mehr gefühlt.

Lions - Leichte Beute
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