Kapitel 27

 

Um drei Uhr morgens rief Mitch an, um Sissy zu sagen, dass ein paar von ihnen, unter anderem Brendon und Bobby Ray, Travis ins Krankenhaus gebracht hatten, um sein Bein behandeln zu lassen. Der Bruch war anscheinend so schlimm, dass es mehr als eine Woche brauchen würde, bis er verheilte.

Sissy hätte sich schrecklich gefühlt, wenn Mitch am Telefon nicht so stolz geklungen hätte. Einmal sagte er sogar: »Ich dachte mir, ich muss ihn begleiten, weil es meine Freundin war, die ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt hat.«

Es war das erste Mal, dass jemand sie so nannte und sie nicht automatisch antwortete: »Von wem zum Henker redest du?«

Stattdessen rollte sie sich auf der Couch zusammen – Ronnie schlief mit den anderen Wölfinnen auf dem Boden – und sagte: »Er hat mich wütend gemacht.«

»Mich auch. Aber ich bin froh, dass du diejenige warst, die ihm den Arschtritt verpasst hat.«

Sie redeten fast eine Stunde, bis Mitch sagte: »Es sieht aus, als könnten wir ihn wieder mitnehmen. Ich übernachte heute bei Smittys Meute. Sehen wir uns vor dem Spiel?«

»Natürlich. Eigentlich hatte ich gedacht, dass … ähm … Wenn du zurück nach Philly gehst, könnte ich doch mitkommen. Nur bis du deine Aussage machst«, beeilte sie sich zu erklären.

Er schwieg lange und fragte schließlich: »Warum?«

»Weil ich nicht will, dass du allein bist.«

»Sissy … das würde mir viel bedeuten. Du wärst wie mein sexy Bodyguard.«

Sie lachte. »Na ja, irgendwer muss ja auf dich aufpassen.«

»Ich muss los. Wir reden in ein paar Stunden weiter.«

»Okay.« Die Worte, die sie eigentlich sagen wollte, lagen ihr ganz vorn auf der Zungenspitze. Aber sie hatte sie nie zu jemandem gesagt, der kein Blutsverwandter oder ihre beste Freundin war. »Ähm …«

»Sissy?«

»Mhm?«

»Ich liebe dich.«

Sissy atmete hörbar aus und umklammerte den Hörer fester. »Ich auch. Ich meine … ich liebe dich auch.«

»Das war jetzt schwer, oder?«

Sie verdrehte die Augen und lächelte über die Heiterkeit in seiner Stimme. »Ach, halt die Klappe!«

»Wir sprechen uns später, Baby.«

»Ja.« Sie legte auf.

Sissy war verliebt, und es war nicht halb so abstoßend, wie sie geglaubt hatte.

»Ich liebe dich, Mitchy!«

»Und ich liebe dich, Sissy!«

Dann begannen Ronnie und eine von Sissys Cousinen Kussgeräusche zu machen, während die restlichen Wölfinnen sich vor Lachen auf dem Boden wälzten.

»Zum Teufel mit euch allen!«

Mitch hatte nur ein paar Stunden geschlafen, als er spürte, wie sich das Sofa, auf dem er geschlafen hatte, neigte und ihm jemand einen Klaps auf den Hinterkopf gab.

Knurrend warf er einen Blick über die Schulter und verzog finster das Gesicht. »Desiree.«

»Mitchell.« Sie grinste. »Schön zu sehen, dass du noch atmest.«

»Ich habe geschlafen!«

»Ja. Aber ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht.«

»Ich spiele in ein paar Stunden Football, also …« Er wedelte mit der Hand.

»Oh, das ist nett. Ich komme in die hinterste Provinz, um deine kleine Mörderin aufzuspüren, und du jagst mich weg.«

»Du wirst mich nicht schlafen lassen, oder?«

Ihr Grinsen wuchs in die Breite. »Eigentlich hat mich Smitty heraufgeschickt, um dich zu holen. Er sagte, ich solle dich mit meiner lieblichen Stimme wecken.«

Liebliche Stimme? Die Frau hatte eine Stimme wie Sandpapier auf Kieseln. Und das wusste Smitty auch.

»Danke.« Gähnend und sich die Augen reibend, richtete er sich auf. »Irgendwelche Spuren?«

Dez zuckte die Achseln. »Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie auf dem Weg hierher ist. Dein Kopf ist im Moment einiges wert. Vielleicht hängen sie ihn sich an die Wand.«

»Halt die Klappe!«

»Oder sie stopfen deinen ganzen Körper aus, damit dich jemand neben sein ausgestopftes Gürteltier und den Tigerfellteppich stellen kann.«

»Ich hasse dich!«

Sie lachte. »Ich weiß. Mace hasst es, wenn ich ihn so aufwecke. Allerdings hasst er es noch mehr, wenn es die Hunde tun.«

»Ich weiß nicht, wie du ihn dazu gebracht hast, mit diesen Hunden zusammenzuleben.«

»Wer mich lieben will … muss meine Hunde lieben.«

»Hast du ein Auto?«, fragte Mitch sie abrupt.

»Yup. Einen hübschen beigen Mietwagen.«

»Nimmst du mich mit, wenn ich angezogen bin?«

»Klar«, antwortete sie, als Brendon auf dem Weg zum Badezimmer vorbeikam.

Er blieb stehen und starrte Dez und Mitch an. »Dez … was ist das eigentlich mit dir und den Katzen?«

Sie hatten nur ein paar Stunden Schlaf bekommen und dann im ganzen Haus rein gar nichts zu essen finden können. Verdammte Katze. Jetzt waren die Wölfinnen der Smith-Meute mit ihrem Frühstück im Diner fertig und auf dem Weg hinaus auf die Straßen, auf denen sie aufgewachsen waren, die sie aber für das Großstadtleben in New York verlassen hatten.

Ronnie schaute auf Sissys Füße hinab. »Vielleicht sollten wir deine Hufe in einem Nagelstudio machen lassen. Ein bisschen Nagellack würde nicht schaden.«

»Soweit ich weiß, kann ich deine Stiefel immer noch tragen. Also pass auf das Glashaus auf, in dem du deine Felsbrocken wirfst.«

Die beiden Freundinnen grinsten einander an, erstarrten aber, als ihnen die Duftmarke in die Nase stieg. Sie rochen es alle.

Da fuhren auch schon Paula Jo und ihre Meute, diese unverschämten Schlampen, in ihrem offenen Jeep vor.

»Hey, Sissy Mae.«

Sissy trat einen Schritt vor. »Was tut ihr hier? Seid ihr verrückt geworden?«

»Ich musste eine Entscheidung treffen.« Sie hob die rechte Hand mit erhobener Handfläche. »Meine Sippe« – sie hob die linke – »deine Sippe.« Sie fuhr kopfschüttelnd fort: »Aber letztlich war es in Wirklichkeit eine wichtigere Entscheidung.«

Wieder hob sie die rechte Hand. »Südstaatler« – und dann die linke – »Yankee.«

Sissy verdrehte kurz die Augen. »Wovon redest du?«

»Wir wurden angeheuert, um dich abzulenken. Irgendeine Yankee-Löwin, die mit zehn Riesen gewedelt und zwanzig versprochen hat. Wir dachten uns, dass wir auch mit zehn eine Menge Spaß haben können, und sie kann sich die anderen zehn in ihren Yankee-Hintern schieben.« Paula Jo sah Sissy direkt in die Augen. »Sie ist hinter deinem Mann her, Sissy Mae. Und diese verrückte Schlampe wird nicht ruhen, bis sie ihn hat.«

»Hallo?« Dee ging durchs Haus und fand die Nachricht auf einem der Beistelltische im Wohnzimmer.

Sind zum Frühstück ins Diner gegangen.

Wir sehen uns dort oder am Feld beim Spiel.

--- Sissy

Typisch. Die Kühe warteten nicht einmal auf sie. Natürlich verschwand sie öfters einfach so, und sie wusste, dass es Sissy egal war. Deshalb war sie so eine gute Alpha – Sissy bestand nicht wie die meisten Alphas darauf, dass Dee jeden Augenblick mit ihr verbrachte. Sissy verstand ihre Meute und verhielt sich entsprechend.

Aber Dee hatte gehört, was zwischen Sissy und Travis vorgefallen war, und Dee hasste es, dass sie nicht für ihre Cousine da gewesen war.

Aber wenn man Dee fragte, hatte Travis verdient, was er bekommen hatte. Seinetwegen war sie froh, dass sie selbst keine Geschwister hatte. Natürlich konnte man einen Bobby Ray oder Sammy bekommen, aber man konnte auch genauso leicht einen Travis oder Jackie haben.

In der Annahme, dass sie sie im Diner schon verpasst hatte, beschloss Dee, bis kurz vor dem Spiel nach Hause zu gehen. Sie ging in die Küche, und sobald sie eintrat, nahm sie den Geruch wahr. Sie hob automatisch den Blick, genau im selben Moment, als sich die 45er auf sie richtete. Ohne nachzudenken, nur dank jahrelangen Trainings, hakte Dee ihren Fuß unter den Küchenstuhl neben sich und trat aus, sodass der Stuhl quer durch den Raum flog. Er traf die Löwin und schlug ihr die Waffe aus der Hand.

Die Löwin starrte ihre Waffe an, dann wieder Dee. Einen Moment später weiteten sich ihre Augen, als es ihr dämmerte. »Na so was, na so was, wir sind ja ganz schön weit gekommen.«

Dee legte den Kopf schief. »Ich dachte, du wärst tot, Mary. Sie haben uns gesagt, du wärst tot.« Und deshalb hatte Dee auch nie daran gedacht, dass Mary die Schützin sein könnte – sie hatte sich durchaus ein paar ihrer alten Kameradinnen angesehen, aber die waren alle noch am Leben und hatten Alibis.

»Für sie bin ich auch tot. Gott weiß, wir haben nicht genug verdient in diesem Job, wenn man bedenkt, was wir tun mussten.« Sie öffnete und schloss ihre Pistolenhand, wahrscheinlich versuchte sie, den Schmerz loszuwerden, den der Stuhl verursacht hatte. »Also habe ich beschlossen, allein loszugehen. Das große Geld machen. Aber glaub bloß nicht, dass du dich zwischen mich und meinen Zahltag stellen kannst, kleines Hündchen. So gut warst du nie.«

Dee hatte keine ihrer Waffen dabei, und die der Löwin war unter den Kühlschrank geschlittert. Als sie den Blick rasch über die saubere Arbeitsplatte schweifen ließ, sah Dee den Messerblock und einen Hammer, der neben ein paar Schraubenziehern hing. Sie entschied sich für den Hammer. Messer waren ein Albtraum, wenn man damit kämpfen musste. Auch wenn sie es konnte – zum Henker, sie war darauf trainiert worden –, aber man hatte ihr auch beigebracht, dass man sich dabei leicht eine größere Arterie verletzen konnte.

Bis sie den Hammer gepackt hatte, hatte Mary sich schon auf sie geworfen, ein Jagdmesser in der Hand. Dee drehte ihren Körper, und Mary traf sie an der Seite. Dann knallte Dee die Hand der Frau auf die Arbeitsplatte und brach sie mit dem Hammer.

Mary brüllte auf und drückte Dee gegen den Küchentresen. Die Löwin hatte ihr Messer verloren, hielt aber Dees Handgelenke fest. Dee trat ihr mit Kraft auf den Spann und verpasste ihr einen Kopfstoß.

Da riss Mary sich los und stieß Dee noch einmal, diesmal gegen den Küchentisch, und machte dann einen Satz darüber. Instinktiv wusste Dee, dass sie draußen noch weitere Waffen hatte, rappelte sich auf und setzte ihr nach. Mary hatte gerade die alte Fliegengittertür erreicht, als Dee sie von hinten zu Fall brachte und mit ihr zusammen durch die Tür auf die Veranda stürzte.

»Also gut, was ist da los?«

Mitch warf Dez einen Seitenblick zu und runzelte die Stirn. »Was ist wo los?«

»Du und Sissy? Mann, Smitty ist vielleicht sauer! Er sagt, du seist ein egoistischer Mistkerl. Warum?«

Seufzend sah Mitch wieder aus dem Fenster. »Kannst du diese Fragen nicht Sissy stellen? Ich bin ein Kerl!«

»Ich komme besser mit Männern klar.«

»Dann frag Smitty.«

»Er ist wütend weggerannt, und Jess hinterher. Komm schon!« Sie hüpfte praktisch auf ihrem Sitz auf und ab. »Sag es mir! Ich bin eine Kollegin. Du musst es mir sagen.«

»Ich fasse es nicht, dass du mir mit diesem Argument kommst!«

»Mit allen notwendigen Mitteln.«

Mitch drehte sich mit wütendem Blick zu ihr um. »Du übertreibst!«

»Sag es mir!«

»Nein. Leide du ruhig. Und bieg hier ab.«

»Na gut. Ich frage Ronnie Lee.«

»Gut. Tu das.«

»Und eines will ich dir sagen, ohne Handy bin ich schon die ganze Zeit wahnsinnig geworden. Ich wusste, dass etwas vor sich geht, und keiner hat es mir erzählt.«

»Solltest du dich nicht darauf konzentrieren, meinen Mörder zu finden?«

»Du bist noch nicht tot. Also reiß dich zusammen.«

Warum mochte er diese Frau eigentlich? Vielleicht, weil sie auf seltsame Art faszinierend war. Allerdings – wenn man jeden Morgen von dieser Stimme aufwachte … viel Spaß, Mace.

»Das Haus ist direkt da oben.«

Sie bog ab und fuhr das kurze Stück unbefestigte Straße entlang. »Ich höre Banjos.«

»Hör auf damit. Und das sage ich Sissy.«

»Ratte.«

Sie hielten vor dem Haus. Mitch schaute durch die Windschutzscheibe. »Ich glaube nicht, dass sie hier sind.« Was ihn ehrlich enttäuschte, denn er hatte vorgehabt, Sissy für einen Quickie in ihr Zimmer oder ins Bad zu entführen. Je nachdem, was sich anbot.

Ein Geräusch im Haus übertönte das Radio und das Geräusch der Klimaanlage. Aber irgendetwas daran klang falsch. Er tauschte einen Blick mit Dez, und sie öffneten eilig ihre Türen. Mitch umrundete gerade die Motorhaube, als eine Frau und Dee-Ann durch die Fliegengittertür krachten.

Sie landeten auf dem Boden, und die Frau, eine Löwin, schätzte er, griff nach dem Rucksack, der hinter dem Geländer der Veranda stand. Sie riss eine Pistole heraus, und Dez schrie: »Waffe!«

Mitch hatte gerade zum Haus hinaufgehen wollen, doch als die Löwin Dez und Mitch sah, zielte sie auf sie und begann, ihre automatische Waffe abzufeuern.

Wie zum Henker hatte das alles so schnell passieren können? In der einen Sekunde war sie noch Mitch Shaw auf die Nerven gegangen, was sie überraschend amüsant gefunden hatte. Und im nächsten Augenblick eröffnete irgendeine verrückte blonde Schlampe das Feuer auf sie!

Dez benutzte die Tür des Mietwagens als Deckung und wartete, während die Blonde ihr Auto zu Klump schoss. Als es kurz aufhörte, kauerte Dez sich nieder und lehnte sich aus der Tür, ihre 45er in beiden Händen. Sie schaffte es, drei Schüsse abzugeben, bevor die Schlampe zurückschoss. Doch dann war schon die andere Frau, eine Brünette in nichts weiter als einem T-Shirt und Shorts, mit einem Jagdmesser über ihr.

Die Brünette hob ihren Arm nicht in hohem Bogen hoch, sondern schlitzte der Frau das Gesicht auf. Die Blonde brüllte und versetzte der Brünetten einen Schlag mit dem Handrücken, dass diese zurück ins Haus geschleudert wurde. Dann rappelte sich die Blonde auf und eröffnete erneut das Feuer.

Dez duckte sich hinter das Auto und konnte die Frau die Treppe herunterkommen hören, während das Trommelfeuer stoppte, weil sie nachladen musste. Dez schwang wieder hinter der Tür hervor, immer noch in der Hocke, und feuerte wieder. Sie traf die Katze an der Schulter, aber das Tragische an Gestaltwandlern war: sie waren nicht so leicht kleinzukriegen.

Dez hatte es nur geschafft, die Schlampe wütend zu machen. Sie richtete die Waffe erneut auf Dez. Doch bevor sie abdrücken konnte, kam die Brünette von der Veranda gerannt und schlug die Blonde mit einem wohlplatzierten Schlag nieder.

Die Blonde fiel kopfüber hin, aber sie benutzte ihre freie Hand – die Seite ihrer zerschmetterten Schulter –, um in eine andere Tasche ihrer Khakihose zu greifen. Sie zog ein weiteres, kleineres Messer heraus und rammte es der Brünetten in die Hüfte.

Dez sicherte ihre Waffe und fischte in ihrer hinteren Hosentasche nach einem neuen Magazin.

Die Brünette bellte vor Schmerzen von dem Messerstich, und die Blonde nutzte den Moment, um sich aufzurappeln und die Brünette zurückzuschlagen. Als sie aufrecht stand, drehte sie sich um und zielte mit der Waffe auf den Kopf der Brünetten.

Dez ließ das Magazin einrasten, zog den Lauf zurück und feuerte. Sie hatte keine Zeit zu zielen, aber sie schaffte es, die Blonde abzulenken.

Und dann hörte sie ein Brüllen. Sie alle hörten es.

»Mitch! Nein!«

Doch es war zu spät. Er hatte sich schon verwandelt und stand am Rand eines gruselig aussehenden Waldes. Er wartete, bis die Blonde ihn entdeckt hatte, dann rannte er in den Wald. Und sie alle wussten, dass sie ihm folgen würde.

Das tat sie auch. Aber nicht, ohne sich vorher umzudrehen und Dez’ Mietwagen mit Kugeln zu durchsieben.

Dez warf sich auf den Vordersitz, die Hände über dem Kopf, bis das Schießen aufhörte. Sie wusste, dass die Blonde inzwischen längst weg war, also verließ sie das Auto, um der Brünetten zu helfen, die gerade dabei war, sich vom Boden hochzurappeln.

»Alles klar?«

»Ja.«

Dez streckte die Hand aus, und die Brünette starrte sie einen Augenblick an, bevor sie sie ergriff und sich von Dez hochziehen ließ. Immer noch rann Blut aus der Wunde an ihrer Hüfte, aber Dez machte sich keine allzu großen Sorgen. Die Brünette wirkte stark wie ein Ochse, genau wie Sissy.

»Schaffen Sie es allein? Ich muss hinterher …«

»Nein. Das können Sie nicht. Sie sind in diesem Wald. Sie können ihnen nicht folgen.«

Dez wusste nicht, was die Brünette mit »diesem Wald« meinte. Im Gegensatz zu was? Dem anderen Wald?

Bevor sie fragen konnte, hielten Autos neben ihnen. Wirklich hübsche Autos, die klangen wie rollende Panzer.

Sissy stieg aus dem ersten aus. »Wo ist er?«

»Er hat die Schlampe in den Wald gelockt«, antwortete die Brünette.

Sissy rannte los und verwandelte sich im Laufen. Es war ein unglaublicher Anblick. Ihre Gliedmaßen wechselten in einer fließenden Bewegung von Mensch zu Wolf, und schwarzes Fell brach durch ihre Haut.

»Wir müssen mit ihr gehen.«

Ronnie stand jetzt neben ihr und umklammerte Dez’ Arm mit einem Griff wie ein Schraubstock. »Das können wir nicht.«

»Wovon redest du?« Sie hatte immer geglaubt, dass Ronnie Sissy Mae überallhin folgen würde, sogar in die Hölle, doch sie rührte sich nicht. Keine von ihnen rührte sich.

»Niemand betritt diesen Wald, Dez. Niemand.«

Sissy rannte blind, folgte Mitchs Geruch. Sie hatte ihn vor diesem Wald gewarnt. Und sie hatte ihn aus gutem Grund gewarnt. Dieser Wald gehörte Grandma Smith. Ihr gehörte der ganze Hügel. Sie hatte den Boden mit Macht getränkt. Macht, die sie den Seelen und Knochen anderer entrissen hatte.

Mitchs Ahnen, die irischen Heiden, von denen er abstammte, waren ein gefundenes Fressen für die alte Frau.

Macht war alles, was diese Frau interessierte. Macht hielt sie schon so lange am Leben. Jetzt, während Sissy diesen verhassten Hügel hinauf- und tiefer in den Wald hineinstürmte, musste sie tief in ihrem Inneren graben und ihre eigene Macht finden. Die Macht, die sie laut ihrer Tante Ju-ju besaß und die Grandma Smith angeblich fürchtete.

Denn ihre Tante Ju-ju hatte recht … es war vielleicht das Einzige, was ihr Herz retten konnte.

Mitch rannte in die Hügel, vor denen Sissy ihn gewarnt hatte. Er rannte, so schnell und so weit er konnte. Doch die Löwin war schneller. Sogar in Menschengestalt.

Und sie würde sich nicht verwandeln, denn ohne Daumen konnte sie ihre Waffe nicht benutzen. Im Zweikampf zwischen Katzen hätte sie es nie mit ihm aufnehmen können.

Als sich Mitch wackligen alten Häusern näherte und ein Geruch seine Aufmerksamkeit weckte, überholte sie ihn und versperrte ihm den Weg.

Sie sah ihn mit kalten goldenen Augen an, und er wusste, dass sie überlegte, ob es sich lohnte, ihn jetzt zu töten, oder ob sie versuchen sollte, ihn dazu zu bringen, sich zu verwandeln. Wenn er Tier blieb, hatte sie keinen echten Beweis für seinen Tod. Doch Mitch hatte nicht vor, ihr zu helfen – und das wusste sie.

Sie zuckte die Achseln. »Ich muss nur sicher sein, dass du nicht auftauchst und deine Aussage machst.«

Sie hob die Waffe und zielte auf ihn. Er grub die Pfoten in die Erde, bereit, sich auf sie zu stürzen. Da merkte er, dass er sich nicht bewegen konnte. Allerdings nicht vor Angst. Er konnte sich einfach nicht bewegen. Überhaupt nicht.

Als gerade die Panik einsetzen wollte, spritzte Blut über sein Gesicht und blendete ihn fast.

Die Löwin breitete die Arme aus, und die Waffe fiel ihr aus der Hand. Sie sahen sich einen langen Augenblick in die Augen, bevor ihrer beider Blicke nach unten zu ihrem Bauch gingen – und zu den Zacken einer Mistgabel, die ihn durchbohrt hatten.

Sie öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch Mitch würde nie erfahren, was es war, denn die Mistgabel wurde weiter hineingerammt und brutal herumgedreht. Der Kopf der Frau fiel nach vorn, und das Blut begann aus ihr zu strömen. Sie hing an dieser Mistgabel, bis sie abgestreift wurde wie ein totgefahrenes Tier.

Mitch schluckte und hob den Blick zu den hundefarbenen Augen, die ihn jetzt ansahen. Sie war alt. Älter, als es ihm richtig erschien. Und was auch immer sie hier oben tat, hatte sie … verändert. Teile von ihr, unter anderem Fell, Krallen und Knochenbau, waren Wolf, während andere Teile menschlich waren. Auf die Mistgabel gestützt, hinkte sie auf Mitch zu. Sie hinkte, denn eines ihrer Beine besaß einen Fuß statt einer Pfote.

Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden, und sie war weniger als einen Meter von ihm entfernt, als sie die Mistgabel wieder hob. Er konnte sich immer noch nicht rühren, auch wenn er sich noch so sehr abmühte.

Also wartete Mitch auf den Tod. Wie er seit fast drei Jahren auf den Tod wartete. Doch er war noch nicht bereit zu sterben. Nicht jetzt. Nicht, wo er doch gerade den Spaß seines Lebens mit einer heißen kleinen Wölfin hatte. Sissy bedeutete ihm alles, und ihm fiel auf, dass ein Teil von ihm immer noch hoffte, dass alles gut ausgehen würde. Dass sie irgendwie für immer zusammen sein konnten. Zwei der größten Unruhestifter, die gemeinsam ihre Verwandten – und alle anderen mit etwas Verstand – in Angst und Schrecken versetzen würden.

Aber er würde diesen Wald wohl nicht lebend verlassen – und diese Erkenntnis machte ihn wütend.

Als die Mistgabel ihren Bogen nach unten begann, hielt die alte Frau plötzlich inne.

»Sieh an, sieh an«, sagte sie mit einer Stimme, die genauso vollkommen menschlich war wie der Rest von ihr. »Das ist aber eine Menge Wut, die da von dir ausgeht, Katze.«

Ihre Nase zuckte, und sie trat etwas näher und schnüffelte.

»Du riechst nach Sissy Mae. Bist du ihr Mann?« Als Mitch sie nur ansah, bohrte sie nach: »Antworte mir, Junge!«

Mitch nickte.

»Und was für ein stattlicher Kerl du bist.« Die alte Frau schnaubte. Es war eine Art Lachen. »Genau wie ihre Momma … dreckige kleine Schlampe.«

Er bewegte sich, was sie beide verblüffte. Aber ihre Pfote schoss hoch, und seine Beine waren wieder starr. Er fühlte sich wie festgenagelt.

»Es gab eine Zeit, Junge, als deinesgleichen für eines gut war – um am Samstagabend Spaß zu haben.« Sie lachte, bevor sie ihre Mistgabel wieder erhob. »Aber heutzutage habe ich andere Verwendungsmöglichkeiten für dich.«

Sie hob die Mistgabel über ihren Kopf. »Ja, Teile von dir werden mir sehr nützlich sein.«

Die Mistgabel beschrieb einen Bogen nach unten, und Mitch beobachtete sie. Er würde den Blick nicht abwenden, würde nicht die Augen schließen. Er würde seinem Tod ins Auge blicken.

In diesem Moment kam Sissy angerannt und sprang mit ihrem kleineren Wolfskörper zwischen ihn und ihre verrückte Verwandte.

Sie knurrte und schnappte, und die Frau stolperte rückwärts.

»Er gehört mir«, zischte die Alte. »Er ist auf meinem Territorium, Sissy Mae. Er. Gehört. Mir!«

Sissy fletschte die Zähne, ihr Körper spannte sich zum Angriff. Doch sie waren nicht allein. Vier andere Wölfinnen bildeten einen Halbkreis hinter der alten Frau.

Und die alte Frau lächelte.

»Du bist allein, Sissy. Er kann das Siegel nicht brechen. Nicht so wie du. Und die anderen Wölfinnen … sie werden nie hier heraufkommen. Du bist ganz allein. Also geh zurück zum Fuß des Hügels, oder ich zwinge dich zuzusehen, was ich mit ihm machen werde.«

Sissy machte einen Schritt rückwärts. Und noch einen. Sie wich zurück, bis sie neben ihm war. Dann rieb sie den Kopf an seiner Seite, drängte ihren Körper an seinen und richtete sich auf, bis ihre Köpfe nebeneinander waren. Sie rieb die Schnauze an seiner Mähne.

Unsichtbare Ketten wurden gelöst, und plötzlich konnte Mitch sich bewegen, sein Körper gehörte wieder ihm.

Die Hexe sah fassungslos aus. Zum Henker, sie sah zu Tode erschrocken aus.

»Wie … wie hast du …?«

Die anderen Wölfinnen wichen zurück.

Mitch machte einen Schritt vorwärts. Und noch einen. Und noch einen. Dann brüllte er. Die Wölfinnen rannten davon, und die alte Frau sah ihnen zornig hinterher, doch ihre Macht war gebrochen. Sissy hatte sie gebrochen. Und das würde sie ihr nie vergeben.

»Dann nimm ihn mit. Ich hoffe, er hält dich warm, wenn du deine Familie, deine Meute verlierst, weil du deinesgleichen verraten hast.«

Sie bewegte sich langsam zurück zum Leichnam der Löwin. »Du kannst den Hügel verlassen. Aber komm nie wieder hier herauf, Sissy Mae. Du wirst nie wieder willkommen sein. Nicht hier.«

Während sie die Löwin am Knöchel packte, sagte sie: »Und nimm deine Katze mit.« Sie warf ihnen im Gehen noch einen finsteren Blick zu. »Und ich nehme meine. Ich habe Verwendung für ihre Knochen.«

Ohne ein weiteres Wort ging sie zurück zu der armseligen Hütte, in der sie wohnte, und schleppte die Löwin hinter sich her.

Mitch sah Sissy an. Er vertraute ihrem Urteil, ob sie sich die Leiche der Frau zurückholen sollten oder nicht. Der Cop in ihm wollte es versuchen. Dem Löwen war es ehrlich gesagt vollkommen egal.

Sissy schüttelte den Kopf und ging. Nach einem vorsichtigen Blick in die Runde folgte ihr Mitch.

Lions - Leichte Beute
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