Kapitel 10

 

Mitch stieg aus dem Mietwagen und sah sich um. Sissy hatte neben einem kleinen, aber hübschen Haus geparkt, das mitten auf einem riesigen Grundstück stand. Mitch war in Philly aufgewachsen und daher an den kleinen überdachten Hinterhof gewöhnt, den das Rudel seiner Mutter besaß. Dieses riesige Stück Land schockierte ihn. Eine Menge Bäume, kleine Bäche und große Seen.

Jetzt verstand Mitch, warum Bren gern hierherkam, um Ronnie Lees Familie zu besuchen. Mitch musste nur auf Sissys Veranda sitzen, Kaffee trinken, und schon sah er Rehe und Elche vorbeirennen. Das versetzte ihn natürlich in einen permanenten Hungerzustand.

»Ist das Clydes Haus?«

»Nö. Das ist das Haus meines Bruders.«

Mitch feixte. »Von welchem? Da musst du schon genauer werden.«

»Haha.«

»Tante Sissy!«, kreischte eine junge Stimme, dann wurde Sissy von fünf Kindern belagert, die aussahen, als lägen sie kaum ein Jahr auseinander. Was seine Mutter gern als »Orgelpfeifen« bezeichnete.

Sissy hob das kleinste hoch und schwang es um sich herum, während die anderen sich um sie scharten.

»Wie geht es meinen kleinen Lieblingsterroristen?«, fragte sie.

»Gut!«, riefen sie im Chor und überhäuften ihre Tante mit … na ja, was auch immer. Mitch verstand kein Wort, während sie versuchten, sich gegenseitig zu überschreien.

Die Kinder waren unordentlich und schmutzig, aber das war nicht anders zu erwarten, denn Mitch bezweifelte, dass sie mehr als zehn Minuten am Tag im Haus verbrachten. Und Gestaltwandlerkinder spielten instinktiv rau. So, wie sie heute spielten, jagten sie morgen ihr Abendessen.

»Wo ist eure Momma?«, fragte Sissy schließlich, nachdem sie Mitch damit verblüfft hatte, wie sie allem hatte folgen können, was jedes einzelne Kind sagte, und es kommentiert hatte, damit keines sich ausgeschlossen fühlte.

»Im Haus«, sagten sie alle … oder besser: schrien sie, je nachdem, wie man es sehen wollte.

»Sagt ihr, sie soll zu uns in die Scheune kommen. Okay?«

Sie stellte das kleinste Kind zurück auf die Erde, und die fünf rannten zum Haus. »Sammy hat noch fünf andere Kinder irgendwo hier.«

»Wow.«

Sissy schenkte ihm ein kleines Lächeln. »Ich liebe Kinder«, sagte sie, bevor sie zur Rückseite des Hauses und Richtung Scheune davonging. Aber er verstand ihre letzten Worte ziemlich deutlich: »Solange es nicht meine sind.«

Sie gingen zur Scheune, und Mitch fragte: »Ist Clyde eine Kuh?«

»Nein. Du weißt, dass wir hier keine Kühe haben können. Sie geraten so leicht in Panik.«

Sissy umfasste die Griffe des Scheunentors und schob sie auseinander.

»Das ist Clyde«, sagte sie mit echtem Stolz. Aber Mitch hörte sie kaum. Er war so damit beschäftigt, sich zu überlegen, ob ein Mann kommen konnte, ohne tatsächlich zu ejakulieren. Denn er hatte vorher nichts, absolut nichts so Schönes gesehen. So sexy. So … so …

So verdammt heiß!

»Hey, Sissy Mae.« Eine hübsche Wölfin mit strahlend blauen Augen kam auf sie zu. »Hab dich ja ewig nicht gesehen.«

»Hey, Violet. Das ist Mitch Shaw.«

Sie nickte ihm freundlich zu. »Hey.« Mitch schaffte eine Art halbherziges Winken.

»Wo ist mein Bruder?«

»Wo wohl? Im Diner. Muss dafür sorgen, dass diese Meute von räudigen Hunden genug zu essen bekommt.«

Sissy streckte die Hand aus. »Gib her.«

Violet schüttelte den Kopf und lachte. »Du wirst dich nie ändern, Sissy Mae Smith.«

»Nicht, solange es nicht gerichtlich angeordnet wird.«

Violet drückte Sissy einen Schlüsselbund in die Hand und ließ die beiden allein.

»Wo hast du den her?«, fragte Mitch schließlich, während er langsam um die Schönheit herumging.

»Wir haben ihn gebaut«, sagte sie schlicht, aber Mitch konnte nicht anders, als sie mit offenem Mund anzustarren.

»Das ist er? Das ist der Wagen, den ihr wieder zusammengebaut habt?«

»Ja.« Sie ging zu dem 1971er Chevrolet Chevelle Malibu hinüber und fuhr liebevoll mit der Hand über die Motorhaube. »Als Ronnie Lee und ich ungefähr fünfzehn waren, haben uns unsere Väter Geld gegeben, um uns eigene Autos zu kaufen. Und lass dir gesagt sein, viel Geld war es nicht. Aber sie waren es leid, dass wir ständig ihre Autos klauten, und der Sheriff damals sagte, wenn er uns noch einmal mit einem kurzgeschlossenen Auto erwischte, würde er uns ins Gefängnis stecken. Na, jedenfalls dachten sie sich, wir würden uns irgendeine Rostlaube kaufen, mit der wir in der Stadt herumgurken konnten. Du weißt schon, so ein Oma-Auto. Stattdessen gingen wir zum Schrottplatz und fanden die zerbeulten Rahmen von diesem Malibu und einem 71er Plymouth Barracuda. Den wollte Ronnie haben, weil sie schon immer den Song von Heart mochte. Mit dem Geld, das noch übrig war, fingen wir an, Teile zu kaufen. Als uns das Geld ausging, haben wir mit Aushilfsjobs angefangen. Und wir reden hier von einigen Scheißjobs, bis wir etwas Festes in Travis’ Tankstelle bekamen. Er hat uns einiges über Autos und Motoren beigebracht. Und wir haben ein paar andere zusammengebaut, wie den Camaro, den Dee-Ann fährt.«

Mit den Fingerspitzen fuhr sie die Kante des Autodachs entlang. »Wir haben über zwei Jahre gebraucht, um den hier und den von Ronnie fertigzumachen, aber das war es verdammt noch mal wert.«

»Warum steht er hier?«

»Als wir ins Ausland gingen, ließen wir die Autos an den sichersten Plätzen, die uns einfielen. Ich habe meines bei Sammy Ray gelassen, weil ich wusste, dass ich ihm neben Smitty als Einzigem vertrauen konnte, dass er es nicht verkauft oder sonst etwas damit anstellt. Ronnie hat ihres bei ihrer Momma gelassen, weil sie wusste, dass die niemanden in die Nähe dieses Autos lassen würde. Sie würde es nie zugeben, aber sie war richtig stolz auf Ronnie Lees Leistung.«

»Sie sollten auf euch beide stolz sein. Das ist unglaublich!«

Sissy grinste. »Das hier ist also Clyde. Ich habe ihn schon seit Ewigkeiten nicht mehr rausgelassen, aber ich träume oft davon.«

Mitch lachte. »Deshalb hast du seinen Namen gestöhnt?«

»Ganz genau. Aber kannst du es mir verdenken?«

»Kein Stück.« Er seufzte jetzt selbst.

»Na komm, Mitchell. Lass uns eine Runde fahren.«

Mitch schüttelte den Kopf. »Vergiss es, Smith. Ich bin noch nicht so weit, dass ich graue Haare in meiner Mähne akzeptieren könnte, vielen Dank auch.«

»Um meinen Daddy zu zitieren: ›Sei nicht so ein Miezekätzchen!‹«

»Aber ich bin ein Miezekätzchen!«

Sie faltete die Hände wie zum Gebet. »Wie wäre es, wenn ich dir verspreche, innerhalb der Geschwindigkeitsbegrenzung zu bleiben? Ich fahre dich nur ein bisschen in der Stadt herum.« Sie beugte sich vor, ihre schönen Augen blitzten. »Komm schon, hübsches Kätzchen. Ich weiß, dass du es willst.«

Und ob er es wollte!

»Na gut. Aber du hast es versprochen.«

Sissy quiekte auf und öffnete die Tür. Die Tatsache, dass das Auto sogar in dieser Scheune unverschlossen war, war ein Beweis für die Sicherheit in dieser kleinen Stadt. Aber natürlich war sie von Raubtieren bewohnt. Man stahl also auf eigenes Risiko.

Sissy startete den Motor, und er erwachte wie ein wohlgenährter Puma schnurrend zum Leben. Mitch wand sich ein wenig auf seinem Sitz.

»Was auch immer du da drüben tust … hör auf damit!«

»Ich kann nicht anders.« Mitch streckte die Hand nach dem Radio aus, das Sissy eingebaut hatte. Es besaß einen Kassettenspieler, und Mitch lächelte, als er sich an seinen eigenen erinnerte. »Mal sehen, was sich unsere liebreizende Sissy damals so angehört hat.« Er schaltete ihn ein und schaute sie nach ein paar Takten von der Seite an. »Also ehrlich … Sissy!«

»Was denn? Das sind meine ›Raus aus dieser Stadt‹-Songs!«

»›Ramble On‹ von Led Zeppelin?«

»Und ›Free Bird‹ von Lynyrd Skynyrd, und ›Radar Love‹ von den Golden Earrings. Auf dieser Kassette ist alles, worin es ums Fahren oder Weggehen geht. Also lehn dich zurück und genieße das Sissy-Erlebnis.«

»Da könnte ich mich über so viele lustig machen – ich lasse es einfach bleiben.«

Langsam fuhr sie aus der Scheune, und Sammy Rays Kinder standen mit ihrer Mutter auf der Veranda und skandierten: »Clyde, Clyde, Clyde!«

»Denk daran, was du mir versprochen hast, Sissy Mae Smith!«

Sie seufzte. »Ich denke daran, du Feigling.«

So, wie sie fuhr? Da war er gerne ein Feigling.

Francine Lewis schaute von ihrer Buchhaltung auf und warf ihrer jüngeren Schwester, die in ihr Büro gerauscht kam, einen finsteren Blick zu. Ihr blieb am Tag nicht viel Zeit, um die finanzielle Seite ihres Geschäftes zu erledigen, und jede Unterbrechung ärgerte sie. Wenn sie abends ihre Kuchenbäckerei schlossen, wollte sich Francine über nichts mehr Gedanken machen müssen. Sie ging lieber nach Hause zu ihrem Gefährten und entspannte sich, oder vielleicht jagte sie noch etwas.

»Was ist los, Janette?«

»Die alte Frau hat es wieder einmal bei Sissy versucht.«

Francines Hand schwebte über dem Taschenrechner. »Wann?«

»Vorletzte Nacht.«

»Und?«

»Du kennst Sissy. Sie hat abgelehnt, aber das gefällt mir nicht.« Janette ließ sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch ihrer Schwester fallen. »Wenn Janie zurückkommt und herausfindet …«

»Okay. Stopp. Wir reden hier von Sissy. Sie ist nicht dumm, und seien wir ehrlich – sie muss sich um diese Großkatze kümmern.«

»Sie bietet ihr die ganze Macht der Smiths an. Und Sissy mag Macht.«

»Was das angeht, ist sie genau wie ihre Momma. Aber Sissy mag Macht, über die sie die volle Kontrolle hat.« Francine strich sich die Haare aus dem Gesicht, es störte sie, wenn sie ihr in die Augen hingen. »Nein, ich glaube nicht, dass wir uns über irgendetwas Sorgen machen müssen. Sie weiß, dass sie sich besser von ihnen fernhält.«

»Ich hoffe, du hast recht.«

Das hoffte auch Francine. Sie konnten es sich nicht leisten, Sissy an diese Schlampe auf dem Hügel zu verlieren. Wenn das je passieren sollte, würden sie sie niemals zurückbekommen. Und niemand wusste, wie weit diese Frau ging, um ihre Macht zu erhalten. Auf jeden Fall weiter als die meisten anderen.

»Ich vertraue Sissy. Sie ist verrückt, aber sie würde nichts tun, was sie für immer hier festhalten würde.«

Janette lachte freudlos auf. »Da hast du wohl recht.«

Lions - Leichte Beute
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