Kapitel 26
»Tja, ich wusste ja immer, dass der Junge keinen Verstand hat.« Francine stellte ein Stück Kuchen vor Sissy hin. »Aber ich wusste nicht, dass er so dumm ist.«
Sissy nickte zustimmend und nahm ihren Kuchen in Angriff; sie wollte sich lieber mit Essen beschäftigen, als über Gil Warren zu reden. Dee war nach Hause zu ihren Eltern gegangen und hatte ihrer Mutter alles erzählt. Daraufhin hatte diese ihre Schwestern angerufen, und die waren sofort herbeigeeilt. Bis Sissy gemerkt hatte, dass Mitch den versteckten Kuchen gefunden und verschlungen hatte, waren auch schon die Tanten hier gewesen. Und hatten mehr Kuchen dabei.
»Er dachte sich, Sissy würde es am Ende akzeptieren.« Ronnie zog die Beine hoch, stellte die nackten Füße auf den Sitz und schlang die Arme um die Schienbeine. »Er hatte die Stirn, ihren Daddy und Miss Janie als Beispiel anzuführen.«
Francine öffnete eine weitere Schachtel und zog eine ihrer Schokoladen-Sahnetorten heraus. »Das war Bubbas Schuld. Er hat dieses Gerücht wuchern lassen, weil er und seine Brüder so ehrgeizig sind. Sie beschreiben es immer so, als wären sie Wikinger gewesen, die über Smithville herfielen, um sich die Lewis-Frauen mit Gewalt zu nehmen.«
Sissy und Ronnie lachten darüber, bis Francine den Schokoladenkuchen vor einen leeren Stuhl stellte und eine Gabel danebenlegte. Sie sahen sich an, dann sahen sie sich um. Als sie nach Hause gekommen waren, hatten sie erst einmal den größten Teil ihrer Zeit damit verbracht, sich Blut und Schmutz von den Gesichtern und Armen zu waschen, während die anderen Wölfinnen Stühle und Sofas besetzten oder auf dem Wohnzimmerboden herumlagen. Sie hatten sich nicht die Mühe gemacht, im Haus nachzusehen, wer sonst noch da war. Abgesehen von Mitch und Brendon – wer brauchte einen ganzen Kuchen für sich allein …?
»Ist der für mich?« Jessie Ann kam die Treppe heruntergerannt wie ein übereifriger Welpe und ließ sich auf den Stuhl vor dem Kuchen fallen. Sie schaute Francine mit unverhohlener Verehrung an. »Ich habe Ihre Schokoladen-Sahnetorte so vermisst, Miss Francine!«
»Dann nur zu, Schätzchen. Wir können das Baby ja nicht verhungern lassen, oder?«
Sissy nippte an ihrem Glas Milch, bevor sie zu Jessie sagte: »Es tut mir wirklich leid wegen eurer Flitterwochen, Jessie.«
»Muss es nicht«, sagte diese freundlich, während sie die Gabel vor ihrem Mund in der Luft schweben ließ. »Ich liebe deinen Bruder, aber ich hatte angefangen, die Wände hochzugehen. Abgesehen davon« – sie deutete auf das Festmahl vor sich – »Kuchen.«
Ohne ein weiteres Wort nahm sie ihren ersten Bissen. Dann verdrehte sie die Augen und ließ sich auf ihrem Stuhl nach hinten fallen.
Zum ersten Mal seit Stunden lächelte Sissy. Das Mädchen hatte etwas. Trottelig, wie Mischlinge eben waren. Und es überraschte nicht, dass sie das Namensarmband trug, das Sissy Bobby Ray zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie wusste, dass Jessie Ann ein Diamantenarmband besaß, das Bobby Ray vermutlich ein kleines Vermögen gekostet hatte. Aber es war dieses versilberte Namensarmband, das Bobby Ray als Teenager gekauft hatte, das ihr am meisten bedeutete. Und darum war Jessie Ann cooler als die meisten Leute, die Sissy kannte – obwohl sie das nie laut zugegeben hätte.
Nach mehreren weiteren Bissen und verzückten Reaktionen fragte Jessie: »Habt ihr eigentlich mal daran gedacht, einen Laden in Manhattan zu eröffnen?«
Francine schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Meinst du, wir würden dort gut verkaufen?«
»Ich bin mir relativ sicher, dass die Wildhunde Ihr Geschäft bis ans Ende aller Tage am Laufen halten würden.«
»Das ist wirklich lieb von dir, Schätzchen …«
»Ehrlich, Miss Francine, ich will nicht nur nett sein. Unsere Meute sucht immer nach neuen Investitionen, und Sie und Ihre Schwestern könnten eine Kuchenkette gründen. So in der Art wie das Van-Holtz-Steakhouse, nur nicht so versnobt.« Die Van-Holtz-Meute war die reichste Meute in den ganzen Vereinigten Staaten und Europa, und das hatten sie den von der Familie betriebenen Steakhäusern zu verdanken.
»Glaubst du wirklich?« Und Francine klang tatsächlich eher interessiert als amüsiert.
»Absolut. Natürlich müsste Ihr Hauptgeschäft in der Nähe unseres Meutenhauses sein.«
Sissy vergaß vorübergehend, dass Jessie nicht eine ihrer Wölfinnen war, und neckte sie automatisch: »Zum Glück mag mein Bruder Frauen mit Fleisch auf den Knochen, denn du wirst einen ganz schön dicken Hintern kriegen.«
Sobald die Worte aus ihrem Mund waren, wünschte sie, sie hätte sie zurücknehmen können.
Aber ohne zu zögern, konterte Jessie: »Cool. Dann kann ich anfangen, deine Jeans zu tragen. Ich dachte, das könnte ich nur, wenn ich schwanger bin.«
Die Milch, von der Ronnie einen großen Schluck genommen hatte, sprühte über den Tisch, und Sissy verschluckte sich fast an dem Stück Kuchen, das sie gerade kaute. Während Francine mit der Zunge schnalzte und die Schweinerei wegputzte, heulten Sissy und Ronnie vor Lachen, und Jessie grinste mit Kuchen im Mund.
Die Männer saßen draußen auf der Veranda, tranken Bier und beschlossen, dass Gil Warren und seine winzige Meute der Stadt verwiesen werden würden, sobald Gil selbst in seinem Rollstuhl hinausrollen konnte. Es war offensichtlich, dass jeder Bruder andere Gründe für diese Entscheidung hatte. Smitty und Sammy Ray fanden, dass Gil bei ihrer kleinen Schwester eine Grenze überschritten hatte, und dafür gab es kein Zurück. Er gehörte nicht ins Territorium der Smiths, Ende der Geschichte. Bei Travis Ray, Jackie Ray und … äh … dem anderen Ray – Mitch konnte sich den Namen nie merken – war die Begründung viel wölfischer. Gil Warren hatte bewiesen, dass er schwach war und zu einer Blutlinie gehörte, mit der sie den Genpool ihrer Stadt nicht verschmutzen wollten. Die Tatsache, dass ihre Schwester beinahe zu einer Verpaarung gezwungen worden wäre, die sie nicht wollte, schien sie überhaupt nicht zu stören, und Mitch war klar, warum Sissy sich an Smitty hielt. Er hatte seine Hochzeitsreise vorzeitig abgebrochen und war von New York nach Tennessee gereist, um nach ihr zu sehen. Als er erfahren hatte, dass sie in Schwierigkeiten steckte, war er ihr zu Hilfe gekommen, wie Mitch es bei seinen beiden Schwestern auch getan hätte.
Travis dagegen hatte Sissy geholfen, weil er nicht wollte, dass Mitch zu aufgebracht war, um am nächsten Tag zu spielen.
»Wir kümmern uns morgen nach dem Spiel um alles.« Travis sah Smitty an. »Spielst du morgen auch mit?«
»Da du deiner kleinen Schwester tatsächlich einmal geholfen hast, werde ich spielen, ja.«
»Gut.« Travis sagte nichts weiter – wie »Glückwunsch zur Hochzeit« oder »Tut mir leid, dass ich deine Hochzeit verpasst habe, Bruder« – und ging zurück ins Haus, seine Wolfsmeute im Schlepptau.
»Tut mir leid wegen eurer Hochzeitsreise, Smitty.«
Smitty winkte ab. »Mach dir nichts draus, Mann. Sissy hat das Richtige getan. Sie hat dich an einen sicheren Ort gebracht.«
»Ja.« Mitch lächelte, als er an Sissy dachte. »Am Anfang war ich nicht besonders glücklich darüber, aber ich bin froh, dass sie mich hergebracht hat.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Dann schlug ihn Smitty. Ziemlich hart.
Mitch stolperte rückwärts und versuchte, nicht ohnmächtig zu werden.
»Meine Schwester? Meine kleine Schwester?«
Brendon stellte sich zwischen Mitch und Smitty. »He! Ganz ruhig!«
»Es ist nicht, was du denkst«, sagte Mitch und schüttelte den Kopf im Versuch, die Benommenheit abzuschütteln.«
»Ach nein? Was ist es dann?«
Mitch antwortete nicht sofort, und Smitty knurrte. »Ich habe dir vertraut, Kleiner. Und dann komme ich hierher und finde heraus, dass du meine Schwester nur benutzt …«
»Ich liebe sie.« Mitch sagte es ruhig, aber es war, als hätte er es geschrien, so still wurde es um ihn herum. Selbst die Nachttiere hielten inne, egal was sie gerade taten.
Smitty verschränkte die Arme vor der Brust, seine plötzliche Wut verschwand so schnell, wie sie gekommen war. »Stimmt das?«
»Ja, das stimmt. Ich liebe deine Schwester.«
Smitty schaute Mitch mehrere Sekunden nur an, dann hob er wieder die Faust. Bren versuchte, Mitch abzuschirmen, doch dieser wartete mehr oder weniger nur auf den Schlag.
»Du lässt dich einfach von mir schlagen, oder?«
Mitch zuckte die Achseln. »Du bist ihr wichtig, also fange ich, wenn möglich, lieber keinen Kampf auf Leben und Tod mit dir an.« Er hob die Hände. »Du weißt, wie tödlich meine Eisenfäuste sind.«
Smitty musterte ihn noch einmal von oben bis unten, und Mitch konnte sehen, dass er versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. »Du sorgst besser dafür, dass sie glücklich ist, Katze, oder ich lasse Sabina mit ihren Messern auf deine Nüsse los.« Die Männer zuckten zusammen. Hauptsächlich, weil sie wussten, dass es nicht viel Überredungskunst brauchte, um Sabina dazu zu bringen, ihre Messer an jemandem auszuprobieren. In Jessies Wildhundmeute war sie die … Tollwütigste.
»Ich werde nach dem Prozess nicht mehr hier sein.« Und plötzlich hatte er wieder die Aufmerksamkeit der gesamten New Yorker Meute.
»Wie bitte?«
Er räusperte sich, und Bren starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. Aber er wollte nicht, dass Smitty glaubte, er habe ihn angelogen. »Ich gehe nach dem Prozess ins Zeugenschutzprogramm. Ich werde nicht zu Sissy zurückkommen. Ich werde nicht mehr hier sein.« Und das würde ihn umbringen.
Doch bevor Smitty etwas sagen konnte, stürmte Travis zurück auf die Veranda. »Was zum Henker redest du da?«
»Ich dachte, ihr Jungs wüsstet das.«
»Und was ist mit meiner Schwester?«, grollte Smitty.
»Und was ist mit dem Spiel nächstes Jahr?«, knurrte Travis.
Smitty sah seinen Bruder an. »Spiel? Du redest von deinem verdammten Spiel, wenn es hier um Sissys Zukunft geht?«
»Seien wir realistisch, Bobby Ray. Sissy wird ja den nächsten Hengst bespringen, der vorbeikommt. Dieser Junge ist nur eine Durchgangsstation.«
»Hey!«, sagten die Shaw-Brüder unisono.
»Nichts für ungut, Mann, aber du glaubst doch nicht, dass meine Schwester ernsthafte Gefühle für dich oder irgendeinen anderen Mann hat.«
»Willst du mir etwas sagen, Travis?«
Sie waren so vertieft in ihren eigenen Quatsch, dass keiner von ihnen gemerkt hatte, dass die Wölfinnen der New-York-Smith-Meute vor dem Haus standen. Die Männer schauten von der Veranda auf sie herab. Jessie Ann, die süße Kleine in der Mitte, winkte Smitty zu. Sie sah verloren aus in der Masse dieser viel größeren und stärkeren, wütenden Wölfinnen.
»Also?«, fragte Sissy und kam die Treppe hinauf, Ronnie direkt hinter ihr. »Sag, was du eben sagen wolltest, Travis. Sag es mir ins Gesicht.«
Travis warf einen Blick auf Mitch und schüttelte den Kopf. »Nein. Schon in Ordnung. Vielleicht ein andermal.«
»Keine Sorge. Mitch wird spielen. Und er wird gut spielen. Ich sorge dafür. Also sag es einfach.«
»Du willst nicht wirklich, dass ist das tue, Sissy Mae.«
»Nein«, schaltete sich Sammy ein. »Ich will nicht, dass du das tust.«
»Schon gut, Sammy. Wirklich. Ich will hören, was er zu sagen hat. Also los, Travis. Sag es.«
»Na gut. Wir wissen alle, dass dir dieser Junge nicht egaler sein könnte, außer zum Vögeln. Wenn er weg ist, kommt der Nächste, und dann noch einer und noch einer. Wie immer. Es hat sich nichts geändert. Auch wenn ich gebetet habe, dass du den hier wenigstens ein paar Jahre behältst, denn er spielt ziemlich gut. Aber du bist dieselbe Hure …«
Es war wohl das Wort Hure, das ihm den Rest gab; seine Faust krachte in Travis’ Gesicht und warf den größeren Mann um. Und während alle erstarrt herumstanden, packte Sammy seinen älteren Bruder am T-Shirt, hob ihn hoch und hieb ihm die Faust ins Gesicht … wieder … und wieder … und noch ein paar Mal, um sicherzugehen.
Schließlich mussten Bobby Ray und Sissy ihn festhalten. Sissy hatte den Arm um seine Schultern gelegt und wiederholte immer wieder: »Ist okay. Ist okay.«
Aber der gutmütige Sammy hatte anscheinend seine eigenen Grenzen, und Travis hatte sie gerade überschritten.
»Ich hatte dich gewarnt, was ich tun würde, wenn du sie noch einmal so nennst! Ich hatte dich gewarnt!«
Travis setzte sich auf, den Rücken ans Verandageländer gelehnt. Sein Gesicht war von seiner gebrochenen Nase abwärts größtenteils mit Blut beschmiert.
»Du benimmst dich, als hätte sie noch nie jemand so genannt«, blaffte Travis und versuchte, einen Teil seiner Würde zu erhalten.
Sammy wollte wieder auf ihn losgehen, aber Bobby Ray hielt ihn zurück, auch wenn Mitch das Gefühl hatte, dass er ihn am liebsten selbst krankenhausreif geprügelt hätte.
Travis hatte ein leichtes, spöttisches Lächeln auf den Lippen. »Und Gott weiß, man wird sie wieder so nennen.«
Es lag etwas in ihrem Blick, das Mitch nicht entging. Dieser Bruchteil einer Sekunde, in dem es ihr endgültig zu viel wurde. Er griff nach ihr, aber da schnappte sie sich schon den Footballhelm, den einer der Spieler neben der Haustür abgelegt hatte. Sie hob ihn hoch über den Kopf, dann ging sie auf ein Knie und ließ ihn niedersausen.
Der Helm traf Travis’ Knie, und sie zuckten alle zusammen und verzogen die Gesichter, als sie Knochen splittern hörten. Dann heulte der Wolf in höchster Qual auf.
Keuchend, während ihr Zorn in Wellen von ihr ausging, stand Sissy wieder auf. »Ich habe versprochen, dass Mitch morgen für euch spielen wird. Aber ich habe nichts davon gesagt, dass du spielen kannst. Zum Glück ist Bobby Ray hier und kann euch aushelfen.« Sie warf den Helm Donnie zu, der ihn auffing, aber klugerweise auf Abstand blieb.
Sissy strich mit der Hand über Mitchs Arm, bevor sie ging, und ihre Wölfinnen folgten ihr.
Brendon schaute hinab auf den heulenden, schreienden Wolf zu seinen Füßen. »Wir bringen ihn besser ins Krankenhaus. Das muss er untersuchen lassen.« Er sah Smitty an. »Aber vorher sollten wir deine Frau vom Baum holen.«
»Vom …« Smitty schaute zu dem dicken Baum, der am nächsten an der Veranda stand. »Jessica Ann!«
»Schrei mich nicht an!«, blaffte sie. »Es war ein Instinkt!« Sie beugte sich ein bisschen vor, sodass sie nur ihren Kopf sehen konnten, während der Rest von ihr immer noch hinter dem Baumstamm verborgen war. »Eine wütende Sissy bedeutet, dass ich in die Hügel rennen muss, aber mir war nicht nach Rennen. Also habe ich das Nächstbeste gemacht.«
Mitch lächelte. »Ich bin beeindruckt, dass ein Hund auf Bäume klettern kann.«
Das wiederum brachte ihm einen finsteren Blick von Smitty ein. »Sieht so deine Hilfe aus? Ich glaube nicht, dass das sehr hilfreich ist.«