Kapitel 3

Eine giftige Rebendolde wächst in einem stämmigen Büschel in der Nähe des Flussufers, tief im alten Wald von Northumberland. Die Pflanze hat dicke, gerade, hohle Stängel mit zarten, spitzenartigen Blüten. Ein einziger Wurzelstrang könnte mich töten, wenn ich so dumm wäre, ihn zu essen.

»So köstliche Wurzeln«, summt die Pflanze. »Süß und saftig und sättigend, Master Weed. Bist du sicher, dass du nicht doch davon kosten möchtest?«

»Hast du kein Schamgefühl?« Ich rolle mich auf meinem nassen Moosbett zur Seite. »Schau dich doch an. Deine Blätter tarnen sich als Petersilie, deine Stängel sehen aus wie Sellerie, und deine Wurzeln verwechseln viele mit Pastinaken. Wie viele Männer hast du durch deine Tricks schon getötet?«

»Nicht nur Männer. Auch Frauen und Kinder. Und Vieh.« Die Spitzenhauben der Blüten zittern unschuldig. »Du siehst verärgert aus, Fleischkörper. Es tut dir nicht gut, im Wald zu leben.«

Ich verlagere mein Gewicht und suche nach einer trockenen Stelle. Nach dem wilden Sturm letzte Nacht ist alles durchnässt – der Boden, die Bäume, die Felsen. In jedem Spalt sprießen Pilze. Einige von ihnen sind ebenfalls geschickte Mörder, aber sie sind wenigstens so anständig, nicht damit zu prahlen.

»Es ist nicht der Wald, der mich verärgert. Es ist dein Stolz über deine eigene Boshaftigkeit. Du gewinnst nichts, indem du Leben vernichtest. Du ernährst dich nicht von deinen Opfern, wie die Falken und die Füchse. Und doch genießt du das Töten.«

»Ein jeder handelt nach seiner Natur. Genauso wie du, du hörender Mensch.«

So nennt man mich im Wald. Fleischkörper. Hörender Mensch. Selbst hier gibt man mir das Gefühl, eine Missgeburt zu sein.

»Auch du hast getötet«, fügt die Rebendolde hinzu. »Hast du dein Opfer verspeist? Nun, hast du?«

Ich gebe keine Antwort. Denn es stimmt: Ich habe gemordet. Schändlich habe ich ein unschuldiges Leben ausgelöscht. Und ich würde es wieder tun, genau in diesem Moment, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte.

Wer meine Opfer wären? Zum einen Thomas Luxton, der Vater meiner geliebten Jessamine. Zum anderen Oleander, der Giftprinz.

Allein um Jessamines Willen halte ich mich fern von meinen verhassten Feinden.

Als ob sie einen eigenen Willen hätten, tasten meine Hände zu dem Buch des Bösen, das ich Tag und Nacht bei mir trage. Thomas Luxtons Gifttagebuch. Ich habe es sorgfältig in ein Öltuch eingewickelt, das ich von der Wäscheleine einer Bauersfrau gestohlen habe.

Jeden Tag nehme ich mir vor, es zu verbrennen. Es ist genau wie dieser üble Garten, den er unter Verschluss hält: Es ist unnatürlich und hätte nie erschaffen werden dürfen. Aber ich bringe es nicht fertig. Es ist das einzige Bindeglied zu meiner Vergangenheit – zu allem, was mir genommen wurde –, das mir noch geblieben ist. Meine Verbindung zu Jessamine. Zu dem Glück, das ich einst empfand.

»Antworte mir, Fleischkörper. Tu nicht so, als wärst du ein gewöhnlicher, tauber Mensch. Wir wissen, dass du uns hören kannst.«

»Ja, das kann ich.« Mit der Hand, zur Kralle gebogen, reche ich durch den Kies. Ich hebe eine Handvoll Kiesel auf und werfe sie auf einen großen Fels. Einer nach dem anderen prallen sie ab, wobei sie meine zarte, tödliche Anklägerin nur um Haaresbreite verfehlen. »Als Einziger meiner Art kann ich euch hören. Aber das bedeutet nicht, dass mich interessiert, was du zu sagen hast.«

Die gezackten Blätter beben vor Wut. Ich dagegen empfinde eine gewisse Befriedigung – ein solcher Mensch ist aus mir geworden: bitter, zornig, ohne Respekt für andere und mit viel zu viel Selbstmitleid.

Ich stehe auf. Es bringt die Pflanzen zur Weißglut, dass ich dazu in der Lage bin. Dass ich weggehen kann.

»Hört euch den Fleischkörper an«, höhnt die Rebendolde. »Kaum siebzehn Jahreswechsel hat er erlebt auf dieser alterslosen Erde, und doch straft er uns mit Verachtung. Wie lautet deine Antwort, Feigling? Hast du getötet oder hast du nicht getötet?«

Durch ein Dach aus Erlenlaub schaue ich hinauf in den Himmel. Er ist grau und wolkenverhangen. Ich erwarte beinahe, einen Schatten in Form von Flügeln zu sehen, die das wenige Licht, das noch übrig ist, zum Erlöschen bringen. Ein schwarzer Spalt, der sich über den ganzen Himmel öffnet.

»Ja, ich habe getötet«, knurre ich. »Wir sind beide Mörder. Bringe mich nicht dazu, es dir zu beweisen.«

Mit dem Gifttagebuch unter dem Arm drehe ich mich um und laufe weg.

»Was hoffst du, im Wald zu finden, Fleischkörper? Sie ist nicht hier, weißt du?«

Ich verschließe meine Ohren und renne schneller, immer tiefer in den Wald hinein.

***

Jessamine hat mir einmal gesagt, dass die Menschen in den Wald gehen, um allein zu sein und ihre Gedanken zu sammeln. Damals verstand ich nicht. Warum sollten menschliche Gedanken unter Bäumen verstreut liegen?

Für mich ist es im Wald wie auf einem Markttag in Alnwick, aber statt Ellbogen, die mich anstoßen und beiseiteschieben, sind es niedrig hängende Zweige, die mir ins Gesicht schlagen, Blätter, die nach meinen Haaren greifen, und Wurzeln, die sich erheben, um mich zu Fall zu bringen.

Hier im Wald kann man sich nicht verstecken. Die Bäume haben Kenntnis von allem, was ich tue – von jedem Rebhuhn, das ich töte, um zu überleben, von jedem Schluck, den ich aus dem Fluss trinke, von jedem Unterstand, den ich mir aus Moos und Laub errichte. Ich kann nicht einmal hinter einen Lorbeerbusch treten, um Wasser zu lassen, ohne dass sie davon erfahren.

Meistens sprechen sie in der ihnen eigenen Art – dem tiefen Grollen der Eichen, dem Flüstern der Birken oder dem Singsang der Erlen. Die Stimmen der immergrünen Kronen der Kiefern sind so scharf wie Nadeln.

Aber der Wald kann auch mit einer einzigen Stimme sprechen, wenn es sein muss. Wenn die Bäume es wünschen, denken sie mit einem einzigen Geist. Besonders wenn Gefahr droht, hallt ihre Warnung wie das einmütige Echo von Tausenden von Stimmen im Wald wider.

Ich hasse es, wenn sie das tun. Denn der Geist des Waldes hat immer recht und lässt keinen Widerspruch zu.

Ich steige den Hügel hinauf und folge dabei dem Verlauf eines Bachs. Das Plätschern wirkt beruhigend auf mich. Wenn ich durstig bin, bleibe ich stehen, knie mich hin und trinke.

Du hast einen halben Jahreswechsel bei uns verbracht, Weed. Und du bist immer noch unglücklich. Voller Wut. Wir wissen nicht, wie wir dir helfen sollen.

»Ihr könnt mir nicht helfen.« Ich spritze mir Wasser ins Gesicht, wieder und wieder, aber meine Haut will einfach nicht abkühlen. »Meine Liebste wurde mir genommen. Ich habe versprochen, ihr fernzubleiben, und ich kann niemals wieder glücklich werden.«

Die Zeiten ändern sich, Weed, gibt mir der Wald zur Antwort. Die Zeiten ändern sich.

Ich gehe bis zu der Stelle, wo ein stiller Teich den Bach nährt. Ich lege die gestohlenen Kleider ab, hole tief Luft und tauche in das Wasser. Es ist ein gutes Gefühl, die Muskeln zu bewegen und das kalte Wasser zu spüren, aber selbst das Bad im Teich kann mein Gemüt nicht kühlen.

Ich habe den Körper eines Mannes, aber was nutzt mir meine Stärke? Ich habe versucht, ein Mensch zu sein, und ich habe versagt. Dass ich überhaupt weiterleben kann, versteckt im Wald, wie ein Geächteter, der nirgends hingehört, verbannt und allein, ist selbst mir ein Rätsel.

Nachdem ich aus dem Wasser gestiegen bin, setze ich mich ans Ufer und starre mein Spiegelbild an. Es ist das einzige menschliche Antlitz, das ich gesehen habe, seit ich in den Wald geflohen bin. Mein Haar ist lang und verfilzt und auf meinen Wangen wächst ein rauer Bart. Meine Haut ist dunkel von der Sonne und vom Schmutz. In meinen Augen steht die Einsamkeit geschrieben, untermalt von einem kalten Glitzern der Wut.

Ich werfe einen Stein ins Wasser, und mein Spiegelbild zersplittert. Als Kind, geschmäht für meine Andersartigkeit und gemieden von meinen Mitmenschen, glaubte ich, dass ich glücklich sein würde, wenn es mir nur vergönnt wäre, unter Pflanzen zu leben. Jetzt bin ich hier, und alles, was ich empfinde, ist Wut.

Gib dich nicht der Selbsttäuschung hin, Weed. Deine Wut hat nichts mit uns zu tun. Sie lebt tief in deinem Inneren.

Genug. Wie ein Hund schüttele ich die Wassertropfen aus meinem zerzausten Haar. Dann mache ich mich auf zu der Lichtung am höchsten Punkt des Waldes. Von dort kann ich wenigstens den Himmel sehen und das plappernde Dickicht aus Laub hinter mir lassen. Trotzdem folgt mir die schulmeisterliche Rede den Hügel hinauf.

Deine Ohren haben die Macht, uns zu hören, aber dein Herz ist so bitter wie ein Rhabarberblatt. Diese Bitterkeit macht dich der Wahrheit gegenüber taub.

»Lasst mich in Ruhe«, schnaube ich und trete nach einer Wurzel.

Du hast einen Fehler gemacht, Weed. Deswegen leidest du. Du hast den Wert eines Lebewesens einem anderen vorgezogen, als ob nicht alles Leben den gleichen Wert besäße. Du hast Schreckliches getan – um ihretwillen, um eines Menschenmädchens willen, wegen eines hübschen Geschöpfs mit goldenen Haaren …

Jessamine. Die Blätter wispern ihren Namen. Die Luft schimmert bei seinem Klang. Er durchbohrt mich wie ein Dorn.

Denk daran, Weed: Das Wohl eines Baums spielt keine Rolle. Das Wohl des Waldes ist wichtiger als alles andere.

»Genug!« Ich halte mir die Ohren zu. Werden sie mich jemals in Frieden lassen? »Menschen denken anders als ihr. Sie … wir … fühlen nicht so wie ihr.«

Das wissen wir.

»Und nicht alle Pflanzen sind so selbstlos und edelmütig wie ihr behauptet. Es gibt das Böse in der Welt der Menschen – ebenso wie in der Welt der Pflanzen.«

Überall im Wald wird es still. Das Schweigen ist unnatürlich.

Das wissen wir, sagt der Wald schließlich. Das wissen wir nur zu gut.

***

Auf aufgeschürften Händen und zerkratzten Knien setze ich meinen Aufstieg fort, hinauf auf das Plateau, das sich am Rand des Waldes erhebt. Die Lichtung auf dem Gipfel ist klein verglichen mit den schier endlosen Feldern von Hulne Park. Es ist ein offenes Areal aus hoch gelegenem Sumpfland, mit Büscheln aus hartem Gras, die ein kleines Stück Heide und einen Torfacker einrahmen.

Die grauen Wolken hängen tief und schwer. Trotzdem atme ich auf, weil ich mich wenigstens ein Stück von den Bäumen entfernen und den offenen Himmel sehen kann.

Die Moltebeeren sind reif. Genauso wie die Krähenbeeren. Ich greife herzhaft bei den braunen und lilafarbenen Früchten zu. Die Pflanzen haben nichts dagegen, dass ich mich bei ihnen bediene, denn auf diese Weise verbreiten sie ihre Samen. Sie summen vor Stolz, wenn ich die saftigsten Beeren auswähle und ihre Süße in höchsten Tönen lobe.

Ich folge dem Bach, der sich mitten durch die Lichtung schlängelt. Es dauert nicht lange, da höre ich ein vertrautes Necken.

Berühre mich. Berühre mich nicht. Berühre mich. Berühre mich nicht.

Wenn ich nicht in solch einer düsteren Stimmung wäre, würde mich der Klang zum Lächeln bringen. Am feuchten Rand auf der anderen Seite der Lichtung, dort wo der Bach wieder im Wald verschwindet, wachsen jene, die ich in Ermangelung eines besseren Wortes meine Freunde nenne. Diese einfachen Blumen sind in diesen Tagen meine liebsten Gefährten. Ihre Unterhaltung hat die Macht, meine Verzweiflung zu lindern, so wie der Saft aus ihren Stängeln das Brennen der Nesseln lindert.

Sie wachsen in ordentlichen Büscheln mit kerzengeraden Stängeln. Selbst jetzt noch, im Spätsommer, haben die Mimosen Neuigkeiten für mich. Aus Jessamines Gemüsebeet am Haus, von den Lilien auf dem Altar in der Kirche, von der Schafweide an den Hängen von Hulne Park, von der Prunkwinde an ihrem Fenster – hin und wieder schicken sie Nachricht, die sie geflüstert von einer Pflanze zur andern weitergeben, bis sie mich erreicht.

Jedes Mal ist es das Gleiche. Sie lebt. Der Ausdruck in ihren Augen hat sich verändert – früher waren sie von einem sanften, vertrauensseligen Blau, aber jetzt haben sie die Farbe von Eis. Sie hält sich sehr gerade, fast trotzig. Aber sie lebt und sie ist gesund.

Wenn es anders wäre, wäre Thomas Luxton schon ein toter Mann. Aber solange es ihr gutgeht, werde ich mich in mein Schicksal fügen. Ich werde Oleanders Befehl befolgen und ihr fern bleiben. Ich werde wie ein Tier leben. Oder wie ein Bettler. Ich werde mein Leben unter Pflanzen verbringen. Oder allein. Es spielt keine Rolle. Solange sie in Sicherheit ist.

»Irgendwelche Neuigkeiten?«, frage ich mit freundlicher Stimme.

Die Mimosen geben keine Antwort.

»Wie geht es Jessamine?«, will ich wissen. »Wo ist sie?«

»Warum gehst du nicht selbst und schaust nach?« Sie sprechen ohne Hohn. Ich schüttele den Kopf.

»Ich kann nie wieder zu den Menschen zurück.«

»Wegen des Mädchens?«

»Wegen dem, was ich für sie getan habe. Ich habe einen Mann getötet, einen dummen Mann, der mir nichts zuleide tun wollte, und der Jahreswechsel wird ihn nicht zurückbringen. Die Menschen werden mir das nie verzeihen.«

»Für sie ist der Tod endgültig.« Die Mimosen sagen es, als ob sie es verstehen würden, aber das können sie nicht. »Es ist nicht leicht für dich, im Wald zu leben«, fügen sie nach einer Weile hinzu.

»Nein.«

»Es ist auch nicht leicht für den Wald.«

»Ich verlange nichts von dem Wald, außer in Frieden gelassen zu werden.«

Das Licht wird schwächer. Laub wird über das Moor geweht, ein Gewirbel aus Rot, Gelb und Braun.

»Es wird Zeit für dich zurückzukehren, Weed.«

Ich will das nicht hören.

»Der Wald wandelt sich, wie stets im Rhythmus der Jahreszeiten. Alles geschieht in Harmonie, Geduld, Ruhe …«

Was sie wirklich meinen, bleibt unausgesprochen. Aber ich höre es trotzdem, so deutlich wie der kühle Wind, der über dieses Hochmoor pfeift: Es ist besser, wie die Pflanzen zu sein als wie ich. Denn ich bin entwurzelt. Voller Wut. Voller Willkür. Voller Verzweiflung.

»Du bringst die Welt des Waldes durcheinander«, sagen sie in ihren sanften, klingenden Stimmen. »Du bist unruhig und von Leidenschaften erfüllt, die wir nicht begreifen. Du musst zu deinesgleichen zurückkehren. Geh zu den Menschen zurück. Bringe deine Angelegenheiten mit ihnen ins Reine, was auch immer das zu bedeuten hat. Stell dich deinen Taten.«

»Ich kam zu euch, weil ich Trost suchte. Stattdessen – wieder Verbannung.« Ich erhebe mich, aber wohin kann ich diesmal fliehen? Von diesem hohen Aussichtspunkt aus kann ich über das Dach des Waldes zu den Türmen von Alnwick Castle blicken. Die steinernen Zinnen verschwimmen im grauen Himmel. In den Wachtürmen brennen Fackeln, glühend rot wie heiße Kohle.

»Ich kann nicht«, sage ich mit brechender Stimme. »Oleander ließ mich schwören, dass ich niemals zurückkehre. Bei Jessamines Leben musste ich schwören!«

»Oleander!« Die Mimosen erbeben vor Zorn. »Sein Reich ist das Werk des menschlichen Apothekers. Er hat diese verwünschten Pflanzen zusammengetragen. Er hat ihnen ein Heim gegeben, wo sie nie hätten wachsen dürfen. Er ließ sie sich verbünden, auf eine Art, wie es die Natur niemals gestattet hätte. Oleander war einstmals einer von uns. Jetzt ist er eine große Gefahr. Für dich. Für alle von uns.«

Eine Windbö fegt über das flache Hochplateau und lässt alle Pflanzen erzittern. Nachdem sich der Wind gelegt hat, zittern die Mimosen noch immer – jetzt vor Angst, wie es scheint. »Du musst zurückgehen. Geh zurück an den Ort, den ihr Menschen Hulne Abbey nennt. An diesen verfluchten Ort, wo der entsetzliche Garten wächst.«

»Geht es um Jessamine? Ist ihr etwas zugestoßen?«

Die Blumen klingen jetzt panisch. »Kehr um. Geh zurück. Geh und sieh selbst.«