Kapitel 9

Man schleppt mich wieder zum Gasthof und stößt mich in einen der privaten Schankräume hinter der großen Gaststube. Ich trage immer noch Ryes Mantel. Irgendjemand hat mir noch eine grobe Decke über die Schultern geworfen. Dem süßen Tiergeruch nach zu urteilen, gehört sie einem der Pferde, die hier im Stall stehen.

Mein Kleid liegt in Fetzen gerissen in der Ecke des Raums. Der Rest meiner Habseligkeiten ist auf dem Tisch ausgebreitet. Die Frauen durchwühlen sie wie geldgierige Angehörige die Hinterlassenschaften eines gerade verstorbenen und gänzlich ungeliebten Familienmitglieds.

Der größte Teil der Menge hat sich wieder zerstreut: keine Hexe, kein Galgen und daher auch kein Grund, noch länger hier herumzulungern. Aber Agnes ist noch da. Verbissen sucht sie immer noch nach einer Möglichkeit, mich zu Fall zu bringen. Die beiden Frauen, mit denen ich beim Frühstück gesprochen habe, sind ebenfalls geblieben, und auch eine Handvoll Männer, einschließlich des Gastwirts, der als Herr des Hauses angerufen wurde, um über mein Schicksal zu entscheiden.

Rye, mein Möchtegern-Held, ist fort. Es ist vielleicht besser so. Mir ist keine Scham mehr geblieben, die ich empfinden könnte, aber trotzdem will ich ihm jetzt nicht unter die Augen treten. Ich bin zu erschöpft und kann nicht mehr die Kraft aufbringen, Angst oder Verzweiflung zu heucheln. Oleanders Worte – tot nutzt du mir nichts – haben sich wie Eis auf meine Seele gelegt, und in meinem Inneren ist alles ruhig geworden, wie erstarrt und doch voller Hass. Vor meinen Augen plappern und befragen mich diese Tölpel, aber ich habe nicht die Absicht, auch nur auf eine einzige Frage zu antworten.

»Sag uns deinen wahren Namen, Mädchen.«

»Warum hast du dein Äußeres verändert? Vor wem versteckst du dich?«

»Was hast du mit dem kranken Kind gemacht?«

»Denk dran, auch das Vortäuschen von Hexenkunst ist ein ernstes Vergehen«, sagt der Gastwirt bedächtig. Er macht keinen Hehl daraus, dass ihm die ganze Sache Unbehagen bereitet. »Was sollen wir von all dem halten?« Er deutet auf die Kräuter, die fein säuberlich aufgereiht auf dem Tisch liegen, neben meinen anderen Sachen. Jedes Kraut steckt noch in seiner kleinen Papiertüte, glücklicherweise unbeschriftet. Ich kenne jede Pflanze so gut wie einen alten Freund.

»Fragen Sie sie, wie viel Geld sie den Eltern des kranken Kindes abgeknöpft hat«, keift Agnes. »Bestimmt hat sie versprochen, einen Heilungszauber zu weben, mit einem magischen Trank aus Karottengrün und Kräutern.«

Ich ziehe die Decke eng um meine Schultern, denn in meinen Körper sickert allmählich eine tödliche Kälte. »In meinem Dorf gab es eine alte Frau, vor vielen Jahren«, sage ich. Diese Geschichte habe ich mir auf dem Weg vom Fluss hierher ausgedacht. »Wenn sie eine Hexe war, habe ich jedenfalls nichts davon gemerkt. Ich war damals noch ein Kind. Sie konnte einen Tee zubereiten, der Kopfschmerzen heilt. Sie brachte mir das Rezept bei. Bis heute habe ich immer ein paar Kräuter bei mir, weil ich oft darunter leide. Unter Kopfschmerzen, meine ich.«

Die Reaktion meines Publikums reicht von Zweifel bis hin zu offenem Hohn. »Als ich hörte, dass das Kind krank ist, hatte ich Mitleid. Ich brachte ein paar der Kräuter, mit denen ich meinen Tee zubereite, zu der Familie. Ich dachte, sie könnten die Schmerzen des Mädchens lindern. Auf jeden Fall haben sie ihr nicht geschadet. Mehr konnte ich nicht tun. Ich habe keine Bezahlung verlangt und auch keine bekommen.«

Der Gastwirt hebt ein Päckchen mit Rizinussamen hoch, die ich getrocknet und zu Mehl gemahlen habe, um das tödliche Gift in ihnen freizusetzen. »Das alles sind also bloß Kräuter gegen Kopfschmerzen?«

»Ja. Und ein paar Zutaten, um Kosmetik herzustellen.« Eine Prise von dem, was du in der Hand hältst, würde deinem Leben in Sekundenschnelle ein Ende bereiten, denke ich. Ein Teil von mir wünscht sich fast, er würde davon kosten – aber dann würde ich garantiert am Galgen baumeln.

»Sie sind ein junges, gut aussehendes Mädchen. Wofür brauchen Sie einen Beutel voll Kosmetik?«

»Um sie auf dem Markt zu verkaufen.«

»Sie hat uns erzählt, sie sei eine Stickerin. Sehen Sie, sie hat gelogen! Sie ist eine Lügnerin!«, kräht Agnes, den sicheren Sieg vor Augen.

»Ich stelle auch Stickereien her. Aber meine Augen sind nicht besonders gut, und ich kann nicht viel Näharbeit machen, wegen der Kopfschmerzen. Kosmetik verkauft sich besser, aber meine Kundinnen sind oft … bitte vergeben Sie mir, wenn ich es ausspreche: Huren. Ich schäme mich, weil ich mit solchen Leuten Umgang pflege, und ich versuche, nicht über diesen Teil meines Gewerbes zu sprechen. Aber ich muss mein Brot verdienen, und diese lästerlichen Frauen haben viel Geld.« Mit einem unschuldigen Blick schaue ich auf, geradewegs in Agnes’ Augen. »Es ist nicht leicht, auf tugendhafte Art und Weise sein Geld zu verdienen, wie Sie sicher wissen.«

Einige der Männer scharren unruhig mit den Füßen. Sie werden verlegen. Meine Lügen klingen glaubhaft, wie alle guten Lügen. Außerdem haben wohl alle schon einmal ihre Erfahrungen mit Dirnen gemacht.

Der Gastwirt räuspert sich. »Also schön, das Mädchen stellt Tee und Schminke her. Darin kann ich nichts Verwerfliches sehen. Werden Sie uns Ihren richtigen Namen verraten?«

»Mein Name ist Rowan. Nur Rowan. Der Name meiner Familie ist entehrt, und ich habe geschworen, ihn nie mehr auszusprechen.«

Meine Ankläger fangen an zu diskutieren.

»Warum will sie uns ihren Namen nicht nennen?«

»Entehrt? Vielleicht sollten wir einen Priester holen.«

»Was, wenn sie die Tochter eines Edelmanns ist? Vielleicht wird eine Belohnung für ihr Aufgreifen gezahlt.«

Bei dieser Aussicht wenden sich aller Blicke wieder zu mir. Ein gutes Dutzend Augenpaare schauen mich gierig an.

Mittlerweile ist mir die Kälte des Flusswassers bis in die Knochen gekrochen. »Ich versichere Ihnen«, sage ich zähneklappernd, »dass es niemanden gibt, der auch nur einen Penny für mich zahlen würde. In barer Münze ausgedrückt, bin ich völlig wertlos für Sie.«

»Wertlos? Wohl kaum. Ich würde Miss Rowan mein ganzes Vermögen zahlen, wenn sie darum bittet.«

Im Türrahmen steht Maryams Vater. Die Augen liegen vor Müdigkeit und Sorge tief in den Höhlen. »Das Fieber meiner Tochter ist gesunken.« Er schiebt sich durch die Menge zu mir und nimmt meine eiskalten Hände in seine. »Danke. Danke für Ihre Freundlichkeit und Ihr Mitgefühl.«

Er wendet sich meinen Anklägern zu. »Schon vor Sonnenaufgang habe ich mich auf die Suche nach einem Arzt gemacht. Stunde um Stunde bin ich von Haus zu Haus gegangen. Aber es war kein Arzt aufzutreiben. Mein Herz fühlte sich wie ein Stein in meiner Brust an. Ich glaubte, meine Tochter bei meiner Rückkehr nur noch tot vorzufinden.«

Er schweigt. Einen Augenblick lang ist nur mein Zähneklappern zu hören. »Stattdessen war sie auf dem Weg der Besserung. Meine Frau sagt, dass diese Dame, Miss Rowan – die Sie alle wie eine Verbrecherin behandeln – zu uns kam und die Hand meiner Tochter gehalten hat. Sie hat ihr einen Tee zubereitet. Hat für ihre Gesundheit gebetet. Wer von Ihnen hat auch nur annähernd so viel für uns getan?«

Er bekommt keine Antwort, bis auf verlegenes Füßescharren. Er funkelt den Gastwirt an. »Wenn es ein Verbrechen ist, einem kranken Kind zu helfen, dann müssen Sie mich auch verhaften, weil ich einen Arzt holen wollte, und meine Frau, weil sie seit Mitternacht kein Auge zugetan, sondern unsere Tochter gepflegt hat.«

Der Gastwirt hebt abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut, beruhigen Sie sich. Hier wird niemand verhaftet. Das Fieber ist gesunken, sagen Sie?«

»Gott sei Dank, ja.« Die Stimme des Teppichhändlers ist rau vor Zorn. »Und ich möchte noch etwas sagen, Sir. Wenn dies die Art und Weise ist, wie in Ihrem Haus Gäste behandelt werden, dann werden Sie bald keine Kundschaft mehr haben. Ich werde überall, wohin ich auch komme, erzählen, was hier vorgefallen ist. Ich werde dafür sorgen, dass alle fahrenden Händler von Inverness bis Bagdad erfahren, was für entsetzliche Dinge in diesem Haus geschehen sind!«

Der Gastwirt murmelt einige Worte der Erklärung, wenn auch nicht der Entschuldigung. Aber der Bann ist gebrochen. Mit einer Handbewegung scheucht er die Ankläger aus dem Saal. »Das Mädchen trägt Schminke und trinkt Tee, und deshalb soll ich sie als Hexe verurteilen? Unruhestifter, das seid ihr! Macht, dass ihr wegkommt! Wenn ihr morgen nicht sowieso abreisen würdet, würde ich euch auf die Straße setzen, egal wie viel Geld ihr hier ausgebt …«

***

Maryams Vater bringt mir ein Kleid seiner Frau. Er bleibt bei mir, während ich meine Habseligkeiten zusammensuche. Mein ganzes Geld ist verschwunden, aber wenigstens sind mir die Kräuterpäckchen geblieben. Dann begleitet er mich zurück in meine Kammer.

Nachdem er gegangen ist, wickele ich mich in alle Decken, die ich finden kann. Wenn mir warm werden würde, könnte ich schlafen – und ich würde schlafen wie eine Tote – aber die Kälte lässt nicht nach. Mein Körper ist zerschlagen, meine Gedanken drehen sich im Kreis. Die Zeit zerrinnt mir zwischen den Fingern, aber ich bin zu schwach, um zu tun, was nötig ist.

Es vergeht keine Stunde, da taucht Maryams Mutter mit einer Schale Brühe bei mir auf. Sie will mich füttern wie ein krankes Kind, aber ich bitte sie, die Schale auf dem Nachttisch abzustellen. »Ihre Tochter braucht Sie«, sage ich. »Gehen Sie wieder zu Maryam.«

Sie nickt und ringt die Hände. »Mein Mann ist jetzt bei ihr. Aber ich musste kommen und Ihnen sagen, dass es mir so leidtut, was man Ihnen angetan hat, Miss Rowan. Ich versichere Ihnen, dass ich nichts gesagt habe, zu niemandem. Ich habe mein Versprechen gehalten. Als mein Mann zurückkam, erzählte er mir, dass er Gerede über eine Hexe gehört hätte, über eine junge Frau, die im Fluss ertränkt werden solle. Ich erinnerte mich daran, was Sie mir gesagt hatten, und bekam es mit der Angst zu tun. Ich habe ihn gebeten, nach Ihnen zu sehen. Ich bin so froh, dass er Sie gefunden hat. Und jetzt sehen Sie sich an! Wie Sie zittern! Ich fürchte, Sie sind die Nächste, die krank wird.«

Ganz plötzlich werden meine Augenlider so schwer, dass ich kaum noch aufrecht sitzen kann. »Es ist nicht Ihre Schuld«, murmele ich. »Vielen Dank für Ihre Fürsorge. Aber wenn es Ihnen recht ist, möchte ich mich jetzt gerne ausruhen.«

Sie nickt und geht zur Tür, bleibt aber stehen und dreht sich noch einmal um. »Ich verstehe diese Leute nicht«, sagt sie. »Wir werden nicht mehr mit ihnen reisen. Und Sie auch nicht, damit Sie’s nur wissen. Miss Rowan, Sie müssen mit uns kommen. Bitte versprechen Sie mir das. Wir haben genügend Platz in unserem Wagen. Meinem Mann macht es nichts aus zu laufen. Und auf diese Weise bleiben Sie in unserer Nähe – wenn Maryams Fieber zurückkehrt oder wenn Sie jemanden brauchen, der sich um Sie kümmert.«

»Wir können morgen darüber reden.« Ich lächle schwach. »Und ich verspreche, dass ich die Brühe trinken werde.«

Sie geht und ich schlürfe ein paar Löffel. Die heiße Brühe erwärmt mich gerade so weit, dass ich ins Bett kriechen und mich unter den Decken vergraben kann.

Mein letzter Gedanke, ehe ich in tiefen Schlaf versinke, gilt dem erstaunlichen Umstand, dass es noch immer gute Seelen auf dieser Welt gibt. Nicht viele. Aber ein paar.

***

Wieder versinke ich. Diesmal werde ich in die Tiefe gezogen. Ein schweres Gewicht liegt auf mir, wie ein Stein, der auf mein Herz drückt.

Die Pflanzen am Grund des Flusses winken mir zu. Ich spähe durch das trübe Wasser auf die grünlichen Gestalten unter mir. Diesmal erwartet mich keine Wiese aus schwankenden Seegrashalmen, sondern die Pflanzen aus dem Giftgarten meines Vaters. Mondsame, Seidelbast, Rittersporn, Schweigrohr.

»Warum seid ihr hier?«, frage ich verwirrt. »Ihr wachst doch gar nicht unter Wasser.«

Sie zucken und schütteln sich, als ob sie in spöttisches Gelächter ausbrechen würden. Und dann – zu meiner großen Überraschung – sprechen sie.

»Willkommen, liebliche Jessamine.«

»Willkommen zu Hause …«

Aufkeuchend erwache ich aus dem Traum.

Was hat mich geweckt? Reglos sitze ich da und lausche. Ein leises Klicken, als sich die Tür öffnet. Ein Schritt im Dunkeln.

Jemand steht in meinem Zimmer und atmet leise.

»Hab keine Angst. Ich bin es. Rye.«

»Aber … die Tür …«

Er entzündet einen Kerzenstummel und hält ihn dicht an sein Gesicht. Ich kann das schiefe Lächeln auf seinem Mund sehen.

»Ich bin nicht das, was man einen gesetzestreuen Bürger nennen würde. Verschlossene Türen können mich in der Regel nicht aufhalten.«

Ich kämpfe mich in eine sitzende Position, was mir schwerfällt, weil mich der Traum immer noch halb im Griff hat. Außerdem habe ich den Eindruck, dass irgendein Gewicht meine Glieder nach unten drückt. Ich fühle mich wie lebendig begraben.

»Bleib unter der Decke. Du willst dich doch nicht erkälten. Nicht, nachdem du heute so knapp dem Tod entronnen bist.« Er kniet sich neben mich. »Ich wollte dir nur sagen, wie leid es mir tut, was ich dir angetan habe. Unten am Fluss.«

»Du hast mein Leben gerettet. Das weiß ich.«

»Vielleicht, mag sein. Trotzdem. Ich will nicht, dass du mich hasst.«

»Weil du mich gerettet hast? Vielleicht sollte ich dich dafür wirklich hassen.«

»Rede nicht solchen Unsinn, Rowan.« Er verstummt. »Soll ich dich immer noch Rowan nennen?«

»Es ist der Name, den ich mir erwählt habe.«

»Also gut, Rowan. Bis wir einen schöneren Namen für dich gefunden haben.« Wieder gerät er ins Stocken. »Du hast mir jede Menge Rätsel aufgegeben. Ich habe den ganzen Tag damit verbracht, nach Antworten zu suchen.«

»Hast du welche gefunden?«

»Vielleicht. Ich habe so dies und das gehört, während ich unterwegs war. Das ist auch der Grund, warum ich gekommen bin.«

Etwas in seiner Stimme macht mir Angst. »Was hast du gehört?«

»Eine Geschichte über einen Mord in der Nähe von Alnwick.« Er beugt sich näher und seine Stimme wird so leise, dass es mir scheint, als ob sie aus meinem Inneren kommt. »Es sieht so aus, als ob es sich nicht um einen gewöhnlichen Kräuterkundigen handelt, sondern um einen weithin bekannten Apotheker, einen Günstling des Herzogs. Um einen Mann mit mächtigen, gefährlichen Freunden. Ein Mann, der mit Hilfe von Pflanzen heilen – oder großes Unheil anrichten – konnte. Man sagt, dass seine Tochter über ähnliche Fähigkeiten verfügte.«

Ich bin jetzt hellwach.

Er stellt die Kerze auf meinen Nachttisch. »Ich habe sogar den Namen des Mädchens herausgefunden. Eine blonde, hellhäutige Schönheit soll sie gewesen sein, benannt nach einer ebenso strahlend hellen Blume …«

Mit einem Ruck richte ich mich auf. »Was willst du von mir?«

Er stößt einen sanften, leisen Pfiff aus, als ob er ein scheuendes Pferd beruhigen wollte. »Ich will gar nichts, Mädchen, bis auf das, was du mir freiwillig geben willst.«

Ich zittere jetzt heftig, aus Angst und wegen der Eiseskälte, die mir immer noch in den Knochen steckt. Ohne zu zögern oder um Erlaubnis zu fragen, legt sich Rye zu mir auf das schmale Bett und schlingt seine Arme um mich. Instinktiv kauert sich mein Körper an seine Wärme, wie eine Sonnenblume, die sich nach der Sonne dreht.

»Dein Anblick da unten am Flussufer ist nichts, was ein Mann so leicht vergessen kann«, murmelt er in mein Haar. »Wie eine Sirene bist du aus dem Wasser gestiegen, wie eine Seejungfrau, die die Fischer auf die Felsen lockt. Mich hat’s gepackt, Rowan. Du hast mich gepackt, wie ein Fieber.«

»Ich könnte dich ganz schnell davon heilen.«

»Das bezweifle ich.« Seine Lippen streifen mein Ohr. »Sag mir die Wahrheit – nein, weiche nicht zurück! Ich will nichts wissen, was du mir nicht sagen möchtest. Ich will nur wissen, ob dir mein Kuss gestern Nacht gefallen hat. Und keine Lügen diesmal.«

»Ja«, flüstere ich beschämt. »Es hat mir gefallen.«

»Dann hör mir gut zu. Ich möchte dir ein Angebot machen. Sag kein Wort, bis du alles erfahren hast.«

Ich versteife mich, aber er hält mich nur umso fester.

»Komm mit mir«, sagt er. »Ich bin schon mein ganzes Leben ein fahrender Händler, ein Landstreicher und ein Schmuggler, immer unterwegs, von einem Ort zum anderen. Mit dir an meiner Seite hätte ich einen Grund, anzuhalten und das Leben zu genießen. Aber wir müssen dieses verdammte Land verlassen und dürfen nie zurückkommen. Wir können es schaffen. Ich kenne alle Schmuggler von Kent bis Cornwall, und es gibt so manchen Kapitän, der mir einen Gefallen schuldet. Ich habe viel Geld verdient und noch nie im Leben einen Penny Steuern bezahlt. Das meiste davon ist zu Hause in Irland versteckt. Wir besorgen uns eine Überfahrt auf einem Kutter, wo keine Fragen gestellt werden. Mit dem Geld, das ich gespart habe, kaufen wir uns einen kleinen Hof in Sligo. Oder wenn dir das noch zu nah an England ist, können wir uns nach Amerika einschiffen. In Virginia ist gutes Land billig zu haben, wird behauptet, und man kann mit dem Tabakanbau reich werden. Es wird kein leichtes Leben werden, aber ein gutes, und wir müssen nicht mehr fliehen.« Er presst seine Lippen auf meinen Nacken. »Komm mit mir.«

»Hör auf damit!« Meine Stimme ist scharf. »Du glaubst mich zu kennen, aber das stimmt nicht. Wenn du wüsstest, was ich getan habe …«

»Ich muss es nicht wissen, weder jetzt noch später. Wenn wir über die irische See gefahren sind, heißt es: ein neues Land, ein neues Leben. Deine Schwierigkeiten werden dir nicht folgen, egal, worum es sich handelt. Das schwöre ich.«

Schon ist das Bett warm von seinem Körper, so warm wie eine sonnengetränkte Wiese an einem langen Sommertag.

Verführerisch, nicht wahr, meine Liebe?

Ich bin Weed versprochen. Ich will keinen anderen.

Aber es ist doch ein angenehmes Gefühl, in den Armen eines Mannes zu liegen, der zur Abwechslung einmal anwesend ist, oder? Dessen Küsse dich aufwühlen und erregen, auch wenn du energisch behauptest, einen anderen zu lieben.

Es ist … wunderbar.

Und wo war Weed, als meine liebreizende Jessamine in den Fluss geworfen wurde und bis zum schlammigen Grund sank? Der Pferdehändler war da, bereit, dich aus jeglicher Gefahr zu retten und dem Leben zurückzugeben. Weed? Nirgends zu sehen. Wie üblich.

»Wirst du mit mir kommen, Rowan?«

Warum sagst du nicht ja, Liebchen?

Ich kann nicht. Ich will nicht.

Welch edle Regung! Du glaubst doch wohl nicht, dass Weed diese Nacht allein verbringt, oder?

Ich weiß, dass er mir treu ist.

Tatsächlich? Du hast zwar keine Ahnung, wo er sich befindet, aber das gilt nicht für mich. In diesem Moment reicht er einer errötenden jungen Frau eine vollkommene Rose. Sie ist schön – die Frau, meine ich – das muss ich schon sagen. Sie sieht dir sogar ziemlich ähnlich …

In dem Glauben, meine Tränen seien ein Zeichen der Rührung und Dankbarkeit für seinen Vorschlag, küsst mich Rye.

»Dann kommst du mit? Ja?«

Mach schon, Liebchen. Umgarne ihn mit deinen zarten Lügen, bedecke ihn mit den Schwingen der Liebe. Gehorche mir, und ich werde dich am Schluss belohnen, wie ich es versprochen habe. Wenn Weed dich wahrhaftig liebt, dann wird er dich auch haben wollen, wenn du … nun … ein wenig besudelt bist. Und du weißt doch, wie amüsant ich dergleichen finde …

»Ja.« Ich schlinge meine Arme um Ryes Hals und ziehe ihn zu mir. »Ja. Ich komme mit dir.«

Das Glück breitet sich wie die Morgendämmerung über Ryes Gesicht aus. »Und jetzt besiegele unser Abkommen mit einem Kuss.«

Er küsst mich, und dabei bleibt es nicht. Er ist ein erwachsener Mann und weiß mit Frauen umzugehen. Und ich bin kein unschuldiges Lämmchen mehr.

Ist die Einsamkeit auch eine Art Liebe? Oder die Verzweiflung? Ich weiß es nicht, aber beide stoßen die Tür zur Leidenschaft auf. Vielleicht liegt es an dem kleinen Funken Eifersucht und dem Schatten des Zweifels, die Oleander in mein Herz gepflanzt hat. Jedenfalls empfinde ich nur ein kurzes Bedauern darüber, dass ich nicht standhaft bleibe. Denn mir ist so kalt, in jeder Faser meines Körpers, und Rye wärmt mich. Seine Leidenschaft ist ein Feuer, das meinen Schmerz zu Asche verbrennt.

Es ist genau die Art von Vergessen, die ich brauche.

***

Er rührt sich lange vor Tagesanbruch und streckt die Hand nach mir aus.

»Wenn wir nach Irland kommen, will ich, dass du mich heiratest, Rowan«, sagt er schlaftrunken. »Sag, dass du mich willst.«

»Das habe ich dir doch schon gesagt.«

»Sag es noch mal.«

»Ich will dich. Jetzt schlaf weiter.« Er grunzt und rollt sich auf den Rücken.

Zeit zu gehen, Liebchen.

Ich habe keinerlei Geld mehr – wie soll ich von hier wegkommen?

Schau in die Taschen des Pferdehändlers. Und sorg dafür, dass er bis lange nach Sonnenaufgang schläft. Ich will nicht, dass er dir folgt.

Leise schlüpfe ich aus dem Bett und gehe zu meinem Beutel mit den Kräutern. Mein Herz hämmert. Ich arbeite still und geschickt.

Ich warte, bis ein leises Schnarchen Rye den Mund öffnet. Als die süßen Tropfen an seiner Zunge vorbeifließen, rührt er sich. Schnell verschließe ich ihm die Lippen mit einem Kuss. Gleich darauf verwandelt sich sein schläfriges Grummeln in verlangendes Murmeln. Seine Finger wandern zu meinen Hüften, und seine rauen Hände schieben mir das Kleid nach oben.

Ich küsse ihn noch einmal. Er stöhnt auf – und dann fällt er schwer auf das Kissen, wie eine tote Last. Er wird noch stundenlang schlafen.

Ich durchwühle seine Taschen und finde ein dickes Bündel Banknoten, das mit einer Schnur zusammengebunden ist. Ich bringe es nicht über mich, ihn völlig auszurauben. Ich ziehe einen Geldschein heraus und stecke den Rest zurück.

Ich sollte mich beeilen, aber ich nehme mir die Zeit, um sein dickes, rotbraunes Haar zurückzustreichen und seine mit Bartstoppeln übersäte Wange zu liebkosen. Im Schlaf wirkt er jünger, weicher. Weniger wie der zynische Schmuggler und mehr wie der vertrauensselige Liebhaber.

Wenn er später am Morgen aufwacht und merkt, dass ich fort bin … aber daran darf ich jetzt nicht denken. Ich muss fliehen, muss mich immer weiter von mir selbst entfernen. Aber wohin mich das führen wird, weiß ich nicht.