Kapitel 10

Die Reise hat lange gedauert, und erst zum Ende hin kann ich an Deck des Schiffs stehen, ohne dass es mir den Magen umdreht und mir die Galle hochkommt.

Ich bin begierig, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Auf See gibt es zwar keine plappernden Wiesen, keine nervtötenden Bäume und keine Äcker mit kleinkariertem, hochnäsigem Getreide. Aber die Algen, die wie ein blutrotes Laken auf den Wellen treiben, summen wie ein ganzer Bienenschwarm. Das Surren und Dröhnen hört nie auf.

Schlimmer noch ist das Warten, denn an Bord eines Schiffes kann ich rein gar nichts ausrichten. Doch jetzt hat die Warterei ein Ende. Schon bald werde ich meine Suche nach Jessamine wieder aufnehmen können, und diesmal, so hoffe und bete ich, mit Erfolg.

Nachdem ich die brennenden Überreste von Hulne Abbey hinter mir gelassen habe, bin ich von einer Stadt zur anderen geirrt, habe mich aber meistens abseitsgehalten, denn ich sah aus wie ein wilder Geselle. Unterwegs habe ich mich verwandelt. Ich stahl Geld und Kleidung und ließ mir von einem Barbier das verfilzte Haar und den Bart stutzen.

Später habe ich mich einer fahrenden Gauklertruppe angeschlossen, wo ich einfache Tricks vorführte, um die Menge zu amüsieren, während die Quacksalber ihre Wässerchen und Cremes anpriesen. Was für einen Anblick ich geboten habe! Selbst Jessamine hätte mich nicht erkannt, gekleidet in einen Samtanzug mit einem weißen Rüschenhemd und Pomade im Haar. Meine Spezialität war es, eine Rose auf Befehl erblühen zu lassen. Danach verbeugte ich mich tief und reichte die Blume jener goldgelockten jungen Frau in der Zuschauermenge, die meiner verlorenen Liebe am ähnlichsten sah.

Nach jeder Vorstellung erhielt ich Briefe, geschrieben auf mit Monogrammen versehenen, dicken Briefbögen und getränkt mit französischem Parfüm, geschickt von Frauen, die mich kennenlernen wollten, die nach einer Liebesnacht mit mir verlangten oder mich sogar zu heiraten wünschten. Es war meine eigene Schuld, weil ich mich derart zur Schau stellte, aber ich hatte keine Wahl. So wie das Geißblatt die Bienen mit seinen strahlenden Farben und dem intensiven, süßen Duft anlockt, so brauchte ich eine starke Attraktion, um ein zahlendes Publikum anzulocken. Dass ich all die Angebote meiner weiblichen Verehrer abwies, schien mich nur noch verführerischer zu machen.

Nachts, wenn die Vorstellung vorbei war, las ich immer wieder in dem einzigen Buch, das ich besaß: Thomas Luxtons Gifttagebuch. Ich kann nicht besonders gut lesen, denn ich habe nur eine sehr unzureichende Bildung genossen. Aber ich arbeitete mich durch, Seite für Seite, geschrieben in der schmalen, ordentlichen Schrift dieses verabscheuungswürdigen Menschen.

Das Tagebuch enthält Giftrezepte für jede Gelegenheit. Einige wirken sofort und töten so schnell wie ein Keulenschlag. Andere sind dazu da, das Ende qualvoll lange hinauszuzögern und es wie das Resultat einer Krankheit aussehen zu lassen, die den Unglücklichen seit Wochen oder Monaten heimgesucht hat. Einige Gifte töten nicht einmal, sondern führen nur zu unheilbarem Wahnsinn. Einige haben die Macht, einen Menschen vollständig zu lähmen, ihn aber bei Bewusstsein zu lassen, als Gefangenen in seinem eigenen Körper.

Was für einen Nutzen konnte ein einzelner Mann aus so vielen Anwendungen von Gift ziehen? Luxtons Methoden werden minutiös erläutert, nicht aber ihr Zweck. Wieder und wieder beklagt er seine Verzweiflung, weil er Wissen aufspüren muss, das vor langer Zeit verlorenging. Es gibt ganze Listen von Orten, wo er gefährliche Erkenntnisse verborgen glaubt, und die Namen von Giftmördern längst vergangener Tage, deren Geheimnisse er zu entschlüsseln wünscht.

Gegen Ende des Tagebuchs spricht er über eine geplante Reise zu einem Ort, an dem sich angeblich der größte und umfangreichste Apothekergarten der Welt befindet. Es gibt keinen Ort auf Erden, schreibt er, wo das uralte Wissen über die Macht der Pflanzen besser bewahrt wird als im Orto botanico di Padova – im botanischen Garten der Universität Padua in Italien.

Und das ist nun mein Ziel. Denn nirgends auf all meinen Reisen habe ich eine Spur von Jessamine gefunden. Ich habe das Grünzeug in den Hecken und auf den Feldern Englands gefragt, ob irgendeins davon meine Geliebte gesehen hat, und sie alle haben verneint. Wenn ich sie fragte, ob sie Oleanders Gefangene ist und welches entsetzliche Schicksal sie erwartet, dann schwiegen sie.

Sie haben Angst, mir zu sagen, was sie wissen, was mich zu der Überzeugung gelangen ließ, dass Jessamine in Gefahr schwebt. Aber ein Garten, der so alt und weise ist wie der Orto botanico wird gewiss keine Angst haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Giftprinz dort etwas zu sagen hat.

Während ich mit den Gauklern und Quacksalbern unterwegs war, habe ich genug verdient, um die Überfahrt nach Italien bezahlen zu können. Und bald schon – sehr bald, wie ich hoffe – werden mir die edlen Heilpflanzen Paduas helfen, meine Jessamine zu finden.

Wenn sie mir nicht helfen, dann weiß ich nicht mehr weiter. Jessamine, meine zarte, sanftmütige Liebste, die mich das Mitgefühl mit den Menschen gelehrt hat! Sie ist geflohen, so viel ist sicher, aber wohin? Was hat sie dazu gebracht, einen Mord zu begehen – nicht einen, sondern gleich zwei! Wenn sie Oleander verfallen ist, dann ist er hundertmal mehr mein Feind, als er es ohnehin schon war. Aber trotzdem … ich schäme mich es zuzugeben, doch ich empfinde eine Art Erleichterung bei dem Gedanken daran, dass Jessamine mit Sünde befleckt sein könnte. Denn auch ich habe getötet. Auch ich bin verdammt.

Die Menschen haben ganz bestimmte Vorstellungen von Strafe und Vergebung, und vieles davon begreife ich nicht, genauso wenig, was mit Sündern geschieht, wenn sie sterben. Ich wünschte, Jessamine wäre hier, um es mir zu erklären, denn die Pflanzen kennen weder Himmel noch Hölle. Sie sprechen über das Kommen und Gehen der Jahreszeiten und davon, dass jeder Frühling ein neuer Anfang ist. Verzweifle nicht, sagen sie, denn der Garten, der jetzt kahl und tot ist, kann im nächsten Jahr schon reiche Früchte tragen.

Können Jessamine und ich ebenfalls wieder neu anfangen, irgendwann? Ich weiß es nicht, aber während ich noch hier stehe, an Deck des schaukelnden Schiffes, und zuschaue, wie die Morgensonne den Nebel auflöst und am Horizont die Dächer von Venedig auftauchen, verfluche ich die Pflanzen, weil sie mir diesen Gedanken eingegeben haben. Denn er erfüllt mich mit einer schmerzenden Sehnsucht. Er erfüllt mich mit einer quälenden Hoffnung.

***

In Venedig gehe ich von Bord und lasse mich von dort aus von einer Barke durch den Brenta-Kanal zum Hafen von Padua fahren. Luxtons Anweisungen folgend, durchschreite ich das Tor in der uralten Stadtmauer und miete mir eine Gondel, die mich durch die Kanäle zum Orto botanico bringt, der Heimstatt des größten existierenden Wissensschatzes über die Macht der Pflanzen.

Als die Universität in Sichtweite kommt, brauche ich nicht mehr nach dem Weg zu fragen, denn der Garten summt mir sein Willkommen entgegen. Ich werde von einem vielstimmigen Chor empfangen, so reich und bunt, wie ich es noch nie erlebt habe, der mich auf eine Art und Weise zu sich befiehlt, die keinen Widerspruch duldet. Es ist ein herrlicher Lärm, brausend und wunderschön. Wie der Schlachtengesang von Engeln.

Der Garten ist groß und kreisförmig angelegt. Die Steinmauern, die um seinen Rand verlaufen, sind so hell wie ausgebleichte Knochen. Mit gesenktem Kopf gehe ich außen an der Mauer entlang, lasse ein Tor nach dem andern hinter mir und versuche, mein rasendes Herz zu beruhigen.

Am Osttor befindet sich ein großer Springbrunnen. Dort mache ich Rast, denn die kühle Gischt des Wassers lindert den Aufruhr in meinem Herzen. Ich spüre die Stimmung dieses Ortes, die so ganz anders ist als in Thomas Luxtons Schreckensgarten. Die Pflanzen hinter dieser gebogenen Mauer sind genauso mächtig, aber dieser Garten wünscht nur zu heilen.

Gereinigt und erfrischt durch das Wasser des Brunnens, scheine ich würdig zu sein. Die Einladung kommt als brausendes Lied aus bedeutungslosen Silben, die mich zum Eintreten auffordern.

Ba-li-oh-ni.

Ich hole tief Atem, sammle all meinen Mut und trete ein.

Hinter dem Tor und der Mauer erwartet mich eine geordnete Welt. Hier herrschen Geometrie und Gleichgewicht. Die Pflanzen nicken mir wie alte Freunde zu und singen ihr brausendes Lied, als sei es die Antwort auf all meine Fragen.

Ich verliere mich in der Ordnung und Anlage des Gartens. Ich habe einen langen und gefahrvollen Weg hinter mir, aber jetzt, da ich hier bin, fühle ich mich aufgesogen in der Anmut und der Kraft der Pflanzen. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.

»Bitte«, flüstere ich einem Beet voller Veilchen zu. »Ich brauche eure Hilfe.«

Ba-li-oh-ni, singen sie.

»Ich suche meine Liebste – Jessamine – und kann sie nirgends finden. Könnt ihr mir helfen?«

Ba-li-oh-ni.

Verzweifelt sinke ich zu Boden. Was muss ich tun, um das Vertrauen dieses Gartens zu gewinnen und mich seiner Hilfe zu versichern? Ich lege meine Wange auf die feuchte Erde des Beets und schließe meine Augen, um dem Klang des Liedes zu lauschen.

Ba-li-oh-ni.

Ba-li-oh-ni.

»Sie da! Aufstehen! Was machen Sie hier?«

Ich reiße die Augen auf und sehe jemanden vor mir – eine Frau, aber wie ein Mann gekleidet in Stiefel, Hosen und eine Lederschürze. Ein breitkrempiger Hut schützt ihren Kopf und ihr Gesicht vor der Sonne. In einer Hand hält sie einen Spaten wie eine Waffe und in der anderen einen Weidenkorb mit ausgerupftem Unkraut. Auf ihrem Gesicht prangen Schmutzflecken.

»Ich sagte: Aufstehen! Hier ist nicht der richtige Ort für ein Nickerchen. Ihr Studenten bringt mich noch mal ins Grab!« Sie beugt sich vor und schnüffelt. »Sind Sie betrunken?«

Ich rappele mich auf die Füße. »Nein, Ma’am.«

Misstrauisch betrachtet sie mich. »Wirklich nicht? Die Medizinstudenten sind die Schlimmsten. Erst betrinken sie sich. Dann warten sie, bis es dunkel ist und stehlen Leichen aus ihren Särgen, für den Anatomie-Unterricht. Danach betrinken sie sich erneut, wofür man ihnen keinen wirklichen Vorwurf machen kann. Im Morgengrauen kommen sie her und stecken die Köpfe in meinen Springbrunnen, um wieder nüchtern zu werden. Jeden Morgen finde ich sie am Wegesrand liegen, wie Unkraut.«

Ich muss lächeln.

»Finden Sie das amüsant? Das ist es ganz gewiss nicht.«

»Sie sagten, die Studenten lägen am Wegesrand wie Unkraut. Das ist mein Name: Weed – Unkraut. Ich weiß, das ist ungewöhnlich.« Ich sehe, dass sie böse auf mich ist, aber ich mag sie, obwohl ich nicht weiß, warum. »Ich schwöre, dass ich weder betrunken noch ein Grabräuber bin.«

»Sie heißen Weed?« Sie lacht, ein unbeschwertes, rollendes Lachen tief aus ihrem Bauch. »Das wäre ein fürchterlicher Name für einen Gärtner. Ich hoffe, Sie sind nicht hergekommen, weil Sie Arbeit suchen.«

»Ich bin hergekommen, weil ich lernen will«, sage ich. »Aber ich werde gern jede Arbeit erledigen, die Sie mir auftragen.«

Sie schüttelt den Kopf und wendet sich zum Gehen. »Nein, nein, nein. Ich habe keine Zeit, jeden hergelaufenen Möchtegern-Gärtner einzuarbeiten. Das Werk, das wir hier im Orto botanico vollbringen, lässt sich mit nichts vergleichen, was Sie vielleicht über Landwirtschaft wissen. Sie wollen lernen? Gut! Signora Baglioni wird Ihnen etwas beibringen.« Sie deutet nach oben. »Sonne.« Sie deutet auf den Springbrunnen. »Wasser.« Sie deutet nach unten. »Erde. Jetzt wissen Sie mehr als neun von zehn Gärtnern. Machen Sie eine Schule auf, wenn Sie wollen! Aber mich müssen Sie jetzt entschuldigen, ich habe nämlich zu tun.«

Sie geht davon und schwingt im Gehen ihren Spaten.

Baglioni, drängt der Garten. Baglioni!

Ich folge ihr. »Signora Baglioni, warten Sie! Ich bin nicht wie neun von zehn Gärtnern. Im Gegenteil, ich fürchte ich bin einzigartig. Bitte, ich möchte es Ihnen zeigen.«

Ich will sie mit meinem Trick beeindrucken und laufe voraus zu einem kleinen Rosenstrauch, der kurz vor seiner Herbstblüte steht. Während Signora Baglioni sich an mir vorbeischieben will, wölbe ich meine Hand um einen einzelnen Zweig, an dessen Ende sich eine kleine Knospe befindet. Mit halbgeschlossenen Augen murmele ich: Ich bitte um Verzeihung.

Ja?

Würdest du mir die Ehre erweisen und für mich erblühen? Du würdest mir damit einen großen Gefallen tun.

Selbstverständlich.

Die Signora schaut zu, wie die Knospe wächst und anschwillt, bis sie aufbricht und sich zu einer herrlichen pinkfarbenen Blüte ausbreitet, in der die Blütenblätter dicht an dicht stehen wie bei einem winzigen Kohlkopf. Der Duft, den sie verströmt, ist so betörend wie ein ganzes Lavendelfeld.

Signora Baglioni keucht auf. Dann verengen sich ihre Augen. »Wie haben Sie das gemacht? War das irgendein Zaubertrick? Eine optische Täuschung? … Aber nein«, murmelt sie dann und begutachtet die neu erblühte Rose. »Ich weiß, dass diese Knospe hier war. Ich beobachte sie seit zwei Wochen, und es hätte eigentlich noch vier oder fünf Tage dauern sollen, bis sie erblüht …«

Sie rammt das Blatt des Spatens in den Boden und lehnt sich auf den Stiel. Dann fixiert sie mich mit einem Blick aus funkelnden Augen. »Also schön, Signor Weed. Sagen Sie mir, wie Sie das gemacht haben. Und ich warne Sie, ich habe keine Lust auf irgendwelche Spielchen.«

Ich zucke mit den Schultern. »Ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, wenn Sie mir beibringen, was Sie wissen.«

Sie macht den Mund auf, zweifellos, um mich für meine Unverblümtheit zurechtzuweisen. Aber was ich höre – und nur ich allein – ist die Antwort der Rose.

Nur für dich werde ich so erblühen, Master Weed. Vielleicht wirst du eines Tages auch für mich erblühen.

Ich muss mir ein Lächeln verkneifen, aber zu spät. Signora Baglioni hat es bereits gesehen. Ihr Blick wandert zwischen der Rose und mir hin und her.

»Also schön. Kommen Sie mit.« Ihre Stimme hat sich verändert. Sie ist nicht länger gereizt und ungeduldig, sondern beinahe eifrig und voller Neugier. »Begleiten Sie mich nach Hause. Wir werden guten Käse essen, etwas Brot und ein paar späte Tomaten aus meinem Garten. Sie werden mir erklären, was Sie hergeführt hat, und ich werde zuhören.« Sie wirft noch einmal einen Blick auf die Rose. »Und dann, wenn ich der Meinung bin, dass Sie in allem die Wahrheit sagen, werde ich Ihnen vielleicht verraten, was Sie wissen wollen.«

Dann wendet sie sich um und marschiert zum Osttor, ohne sich zu vergewissern, ob ich ihr folge. Ich lasse sie ein paar Schritte vorausgehen und neige mich der Rose entgegen.

Danke, sage ich. Dann folge ich der Signora.