Kapitel 8
Am nächsten Morgen erwache ich früh. Ich habe nur wenige Stunden geschlafen, und trotzdem bin ich sofort hellwach, wie ein gehetztes Tier.
Ich zünde eine Kerze an, denn der Morgen dämmert gerade erst. Dann wasche ich mein Gesicht mit dem kalten Wasser aus der Waschschüssel. Mit jedem eisigen Spritzer spüle ich die Erinnerung an Ryes Gegenwart in dieser kleinen Kammer fort. Seine Stimme, sein Körper, seine Wärme, sein Kuss – alles verblasst, bis es nicht mehr ist als der Schatten eines halb vergessenen Traums.
Meine Scham lässt sich allerdings nicht so leicht abwaschen. Was würde Weed sagen, wenn er wüsste, wie bereitwillig ich mich in Ryes Umarmung geschmiegt habe? Ich bin einsam und verängstigt, gewiss – aber ist meine Liebe für ihn so schwach, dass ich Schutz in den Armen des erstbesten Mannes suche, der mir eine kleine Freundlichkeit erweist?
Du empfindest Beschämung wegen eines kleinen Kusses – nachdem du einen zweifachen Mord begangen hast? Also wirklich, mein Liebling, manchmal benimmst du dich einfach lächerlich. Aber der Pferdehändler hat recht – es wird Zeit, allein weiterzuziehen. Ich möchte nicht, dass du in irgendeinem Verlies in irgendeinem gottverlassenen Ort landest und darauf wartest, dass man für dich den Galgen bereit macht …
Oleanders Hohn gießt Öl in die Flammen meiner Scham. Aber ich werde tun, was er mir befiehlt. Wie ein gejagtes Reh, das in den Fluss läuft, damit die Hunde die Fährte verlieren, muss auch ich viele Haken schlagen, damit man mich nicht aufspürt.
Ich werde meine Sachen packen und niemanden in meinen Plan einweihen. Morgen vor Tagesanbruch werde ich mich davonstehlen und dem Fahrer ausrichten lassen, dass ich mich einer anderen Reisegruppe angeschlossen habe, damit niemand auf mich wartet oder nach mir sucht. Lügen und Ausflüchte würden die Sache nur erschweren. Es ist am besten, wenn ich einfach verschwinde.
Um neun Uhr gehe ich nach unten und hole mir Brot und ein gekochtes Ei aus der Küche. Im Gasthaus ist es noch ruhig. Vielleicht sind einige der Gäste in die Kirche gegangen. Die meisten werden noch schlafen und sich von dem ausgelassenen Treiben gestern Nacht ausruhen.
Ich setze mich an einen kleinen Tisch und schenke mir eine Tasse Tee ein. Zwei Frauen aus unserer Gruppe betreten die Gaststube. Eine von ihnen gähnt herzhaft.
»Das Weinen und Stöhnen hat mich die halbe Nacht wachgehalten«, beklagt sie sich bei ihrer Begleiterin. »Ich hoffe natürlich, dass das Kind wieder gesund wird, aber ich sage dir, ich werde keine Nacht mehr nebenan verbringen, wenn das so weitergeht.«
»Wenn das Mädchen krank ist, kann der Teppichhändler morgen nicht mit uns weiterziehen. Ist mir ganz recht, wenn du mich fragst. Wir kommen allein schneller voran – und sicherer. Dieses Maultier ist so langsam, dass wir leichte Beute für jeden Straßenräuber sind.«
»Träumst du immer noch von Robin Hood und einem Leben voller Diebeszüge und Romantik?« Beide brechen in Gelächter aus. Sie haben an einem Tisch in meiner Nähe Platz genommen. Ich schiebe meinen Stuhl zurück und räuspere mich.
»Entschuldigung, ich habe zufällig Ihr Gespräch mitangehört.« Ich spreche hastig, ehe ich mich eines Besseren besinnen kann. »Habe ich richtig verstanden? Das kleine persische Mädchen ist krank?«
Die Frau mit den müden Augen zuckt mit den Schultern. »Ich habe heute Morgen an die Tür geklopft und um Ruhe gebeten. Die Mutter hat sich vielmals entschuldigt. Sie sagte, das Kind hätte heute Nacht starkes Fieber bekommen und kann kaum schlucken, so geschwollen ist ihr Hals. Sie meinte, ihr Mann sei schon auf der Suche nach einem Arzt, aber sie werden keinen finden, der am Sonntag kommt, so viel ist sicher.« Die Frau schnalzt mit der Zunge. »Ich habe das Mädchen kurz gesehen. Sie ist wirklich sehr krank. Ihre Wangen sind so rot wie die einer Hure.«
»Das tut mir leid zu hören.« Meine Stimme ist mitfühlend, aber innerlich koche ich vor Zorn. Warum Maryam? Warum ausgerechnet jetzt, wo ich die Gruppe verlassen will? Wenn irgendjemand sonst krank geworden wäre, hätte ich dem Leiden mit einem Herzen aus Eis den Rücken gekehrt.
Ich könnte Maryam mühelos helfen. Aber wenn ich mich als Heilkundige zu erkennen gäbe, würde ich mich selbst in Gefahr begeben. Wie lange würde es wohl dauern, bis jemand eine Bemerkung fallenlässt, dass die Tochter des ermordeten Apothekers auch die Fähigkeit zum Heilen besaß – und zum Töten?
Ich sitze da und starre in meinen kalten Tee, während in meinem Inneren eine Schlacht tobt. Je länger ich bleibe, desto größer wird die Bedrohung für mich. Aber sie ist ein Kind, ein unschuldiges Kind. Anders als die meisten Erwachsenen – ich ganz besonders – verdient sie es nicht, auch nur einen Augenblick lang zu leiden.
Geschwollener Hals, hohe Temperatur, rote Wangen – das Fieber, das Maryam gepackt hat, ist nicht zu unterschätzen. Aber es ist auch leicht zu behandeln, wenn man die richtigen Kräuter bei der Hand hat und das Wissen, wie sie anzuwenden sind.
»Welches Zimmer bewohnen sie?«, frage ich die beiden Frauen beiläufig.
»Dritter Stock, das letzte Zimmer auf dem Gang.« Die Frau wirft mir einen strengen, warnenden Blick zu. »Aber kommen Sie bloß nicht auf die Idee, das Mädchen zu besuchen, wenn Sie nicht riskieren wollen, sich anzustecken.«
»Du lieber Himmel! Ein ansteckendes Fieber in unserer Reisegesellschaft! Das ist das Letzte, was wir gebrauchen können!«, fügt ihre Begleiterin hinzu. »Halten Sie sich am besten von der Familie fern, um unser aller willen.«
»Deshalb habe ich gefragt, wo sie wohnen.« Ich gieße einen Schuss Milch in meinen Tee und betrachte die weißen Wirbel, die sich beim Umrühren mit dem braunen Gebräu vermischen. Es sieht aus wie ein winziger Strudel, der mich in die Tiefe ziehen will. »Ich würde ihnen gerne aus dem Weg gehen. Ich habe seit jeher eine starke Furcht vor Krankheiten.«
Ich gebe vor, in aller Ruhe meinen Tee zu trinken, bis die Frauen die Gaststube verlassen. Als die Luft rein ist und niemand in der Nähe auf mich achtet, gehe ich in den dritten Stock und husche zur Tür, hinter der die Familie des Teppichhändlers wohnt. Im letzten Moment zögere ich. Vielleicht ist das Mädchen doch nicht so krank, wie die Frau behauptet hat, denke ich. Vielleicht ist nichts weiter vonnöten als ein paar ermunternde Worte.
Warum besuchst du sie dann überhaupt? Der böse Prinz pflanzt mir Zweifel in den Kopf.
Wenn es eine Möglichkeit gibt, ihr zu helfen, ohne mich selbst bloßzustellen, dann werde ich es tun.
Und was ist, wenn das nicht genug ist?
Meine Hand hängt über dem Türgriff. Soll ich es wagen zu klopfen? Kann ich es wagen, einfach so wegzugehen?
Pass auf, mein Liebchen, warnt mich die Stimme meines Meisters. Verschlossene Türen sind aus gutem Grund verschlossen. Wenn du sie auch nur einen kleinen Spalt öffnest, könnte es sein, dass du Dämonen freilässt, die besser gefangen bleiben …
Mein Klopfen ist so leise, als ob ich gar nicht gehört werden will. Trotzdem wird die Tür geöffnet.
»Ibrahim! Hast du den Arzt mitgebracht?« Es ist Maryams Mutter. Sie sieht erschöpft und ausgelaugt aus. »Oh, Sie sind es, Miss Rowan.« Sie späht an mir vorbei in den leeren Gang. »Ich dachte, es wäre mein Mann.«
»Nein, tut mir leid.« Ich sehe, dass der Raum, den sich die Familie zu dritt teilt, kaum größer ist als mein eigenes Zimmer. »Ich hörte, dass Maryam krank ist. Ich wollte fragen, wie es ihr geht.«
»Nicht gut.« Die Mutter tritt beiseite. Als mein Blick auf das Mädchen fällt, wird mein Herz schwer. Ihre Wangen sehen aus wie rot bemalt und das Weiße ihrer Augen hat einen gelblichen Schimmer angenommen. Sie wimmert bei jedem Schlucken.
Ich kann meine Hände nicht von dem abhalten, was sie zu tun gewohnt sind. Sie huschen zu ihrer Stirn, um die Temperatur zu fühlen, und zum Hals, auf der Suche nach dem Puls. Ich bücke mich und drücke mein Ohr auf ihre Brust, um ihre Atmung abzuhören. »Hat sie irgendwelche Flüssigkeiten zu sich genommen?«, frage ich die Mutter. »Brühe? Oder Tee?«
»Ich habe es versucht, aber sie schreit vor Schmerzen und lässt alles wieder aus dem Mund fließen. Sind Sie eine Ärztin?« Die Stimme der Mutter ist vor lauter Hoffnung ganz erstickt. »Gibt es Ärztinnen in England?«
»Nein.« Die Lage ist ernst. Der Puls des Mädchens ist flach und schnell. Ihre Lungen ringen nach Luft. Ihre Haut ist trocken und glühend heiß. Bei einem derart starken Fieber können jeden Moment Krämpfe einsetzen.
Nicht traurig sein, meine Liebe. Nicht mehr lange, und ihre Qualen werden vorbei sein. Das sind doch gute Neuigkeiten, nicht wahr?
Aber ich könnte sie heilen.
Das könntest du. Du könntest sie auch töten und ihrem Leiden noch schneller ein Ende bereiten. Warum eigentlich nicht?
Du Teufel! Warum sollte ich das tun?
Heilen – töten … was für einen Unterschied macht das? Wie auch immer du dich entscheidest: Du triffst die Wahl, ob sie lebt oder stirbt. Warum solltest du das bestimmen dürfen? Ich persönlich ziehe es vor, der Natur ihren Lauf zu lassen. Aber das ist ja nur … natürlich, nicht wahr?
Oleanders melodisches Lachen hallt in meinem Schädel wider. Ich schließe die Augen. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben, Maryams und meins. Wenn ich ihr helfe, riskiere ich, entdeckt zu werden, denn der Mord von Hulne Abbey ist in aller Munde. Wenn ich mich als Heilerin zu erkennen gebe, wird es nicht lange dauern, bis jemand Verdacht schöpft. Und wenn ich gefasst werde, werde ich Weed nie wiedersehen. Dann habe ich völlig umsonst zwei Leben und meine Seele geopfert.
Was soll ich tun?
Das Kind ist unschuldig und ich bin eine Doppelmörderin. Und wer gewinnt im Kampf zwischen Gut und Böse?
Das ist eine dumme Frage, mein Liebchen. Du weißt, wer gewinnt.
Diesmal nicht.
»Ich kann Maryam helfen, aber Sie müssen mir ganz genau zuhören«, sage ich zu der Mutter. »Ich gehe jetzt, aber ich komme bald mit Medizin zurück, die sie gesundmachen wird. Während ich fort bin, müssen Sie hinunter in die Küche gehen und einen Kessel mit kochendem Wasser und ein kleines Glas Gin holen. Wenn jemand Sie fragt, wozu Sie das brauchen, dann sagen Sie, Sie würden sich einen Punsch machen, damit Sie etwas Schlaf bekommen. Verraten Sie niemandem, dass Sie mit mir gesprochen haben oder dass ich hier war.«
Sie nickt, wirft Maryam aber einen besorgten Blick zu. Wir beide betrachten das kranke Mädchen. Ihre Augenlider flattern und zucken und ihre Glieder sind schwer und reglos. »Sie können sie getrost ein paar Minuten allein lassen«, sage ich sanft. »Im Augenblick weiß sie gar nicht, dass wir hier sind.«
Nachdem ich sie davon überzeugt habe, dass Maryam in unserer Abwesenheit nichts geschehen wird, haste ich die Treppe hinunter zu meiner Kammer im zweiten Stock. Ich verriegele die Tür hinter mir und hole aus meinem Bündel die tief unten versteckten kostbaren Kräuter.
Mit geübten Handgriffen bereite ich aus den Zutaten, die mir zur Verfügung stehen, eine Medizin zu. Ich habe nicht die exakt richtigen Kräuter bei mir, aber was ich habe, wird genügen: Weidenrinde und Wanzenkrautwurzel, um den Schmerz zu lindern und das Fieber zu senken. Wilder Indigo und Baummoos, um ihrem jungen Körper die Kraft zu geben, gegen die Entzündung in ihrem Hals anzukämpfen.
In einem kleinen Mörser mahle ich die Kräuter zu einem feinen Pulver. Dadurch werden ihre Inhaltsstoffe besser freigesetzt, weil ich keine Zeit habe, eine Tinktur anzusetzen. Dann schütte ich das Pulver in ein sauberes Taschentuch und binde es fest zusammen. Das Tuch stecke ich in meine Schürzentasche.
Das ist ein schlechter Plan. Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden, meine Liebe. Ganz und gar nicht.
Ich weiß.
Mittlerweile sind etliche Gäste erwacht und aufgestanden. Ohne Eile steige ich die Treppe hinauf, halte den Kopf gesenkt und wickele mich in Gelassenheit, wie in einen Umhang. Meine Füße bewegen sich in einem langsamen, bedächtigen Rhythmus.
Ich warte, bis niemand im Flur ist, und laufe dann leise zu dem Zimmer, in dem Maryam liegt. Ihre Mutter hat meine Anweisungen befolgt. Rasch bereite ich den Trank zu, indem ich das Kräuterpulver mit dem Gin und dem kochenden Wasser vermische. Ich rühre und rühre und bete, dass die Kräuter ihre Wirkung entfalten mögen, obwohl sie nicht so verarbeitet wurden, wie es sich gehört.
Mit Hilfe ihrer Mutter schiebe ich Kissen in Maryams Rücken, um ihren Oberkörper aufzurichten. Das Mädchen ist benommen und ihr Kopf will immer wieder zur Seite kippen, aber der Schmerz in ihrem Hals bewirkt, dass sie sich ruckartig wieder aufrichtet. Sie wimmert leise im Delirium.
Die Mutter hält den Kopf des Mädchens, während ich ihr die ersten Tropfen der Medizin einflöße. Das Kind verzieht das Gesicht und würgt, aber gemeinsam halten wir sie fest, so dass die Flüssigkeit gar nicht anders kann als durch ihren Hals nach unten zu laufen.
Dicke Tränen fallen aus den Augen der Mutter, aber sie sagt kein Wort. »Es ist bitter, wegen des Gins«, erkläre ich. »Aber es wird ihr helfen, das verspreche ich Ihnen.«
»Wann?«
»Schon bald. In ein paar Stunden werden Sie eine Besserung bemerken. Geben Sie ihr alle fünfzehn Minuten einen Löffel davon, bis sie alles zu sich genommen hat.«
Sie schaut mich an, ängstlich, aber entschlossen. Diese Frau würde alles tun, um ihr Kind zu retten. Ich hoffe nur, dass die Medizin nicht zu spät kommt.
»Sie sind eine Heilerin«, sagt sie. »Warum haben Sie das nicht gesagt?«
Ich schüttele den Kopf. »Verraten Sie niemandem, was ich getan habe.«
»Warum nicht? In meinem Volk werden Heilerinnen sehr verehrt. Ist es hier nicht genauso?«
»Nein, nicht immer.« Ich lege Maryams Kopf sanft ab, damit sie sich bis zur nächsten Dosis ausruhen kann. Ihre Mutter nimmt meinen Platz ein und murmelt die Gebete und Beschwörungen, die hoffentlich mit Hilfe meiner Medizin ihre Tochter ins Leben zurückrufen werden.
Still verlasse ich das Zimmer. Ich gehe zum Ende des Flurs und wende mich der Treppe zu.
»Miss Rowan?« Agnes steht auf dem Treppenabsatz, hinter ihr ein halbes Dutzend Frauen und Männer. Die beiden, mit denen ich beim Frühstück gesprochen habe, haben sich rechts und links von ihr aufgestellt. Auf ihren Gesichtern liegt eine grimmige Befriedigung. Agnes scheint besonders erregt. Ihre Arme hängen steif vor ihrem Leib, die Finger um einen dunklen Gegenstand gekrümmt. Ich schaue genau hin.
Es ist mein Beutel. Er enthält alles, was ich aus Hulne Abbey mitgenommen habe. Einschließlich der gefährlichen Kräuter.
»Wir haben Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich von der Kammer des Teppichhändlers fernhalten«, sagt eine der Frauen, mit denen ich heute Morgen gesprochen habe. »Sieht so aus, als hätten Sie nicht auf uns gehört.«
»Ich werde gehen, wohin es mir beliebt. Das geht Sie nichts an. Was tun Sie mit diesem Beutel?« Am liebsten hätte ich Gift und Galle gespuckt. Es treibt mich schier in den Wahnsinn, meine tödlichen Waffen in den Händen meiner Feindin zu sehen, die nicht einmal ahnt, was sie für einen Fang gemacht hat!
»Wir haben das hier in Ihrem Zimmer gefunden«, sagt Agnes selbstzufrieden. »Sie haben die Tür offen gelassen, als Sie sich so eilig davongemacht haben. Sie haben wohl nicht gemerkt, dass wir Sie beobachtet haben, nicht wahr? Wir hielten es für das Beste, die Gelegenheit wahrzunehmen und uns ein wenig umzuschauen. Wir wissen nämlich genau, was Sie sind.«
»Ich bin ein Gast hier, genau wie Sie. Und Sie sind eine Diebin.«
»Ich muss zugeben, dass wir keins der üblichen Zeichen fanden. Kein Pentagramm. Keine Fledermausflügel. Keinen Besen. Aber wir haben das hier gefunden.« Sie wedelt mit dem Beutel.
»Der gehört mir.« Ich will danach greifen, werde aber von beiden Seiten am Arm gepackt.
»Ach, tatsächlich?« Über die Schulter hinweg sagt sie: »Habt ihr das gehört? Sie gibt zu, dass der Beutel ihr gehört, mitsamt seinem teuflischen Inhalt. Zutaten für Tränke und Gifte! Scheint so, als hätten wir eine Hexe in unserer Mitte!«
Ich leiste keinen Widerstand; ich bin keine Närrin. Ich weiß genau, dass jeder Versuch zu fliehen wie ein Schuldbekenntnis aussehen wird und mir einen Strick um den Hals beschert, noch ehe die Sonne untergeht.
Zweifellos werden sie mich irgendeiner sinnlosen, lebensgefährlichen Prüfung unterziehen. Die Hinrichtung von Hexen ist zwar durch das Gesetz verboten, aber wenn man verdächtigt wird, eine Hexe zu sein oder mit dem Teufel im Bund zu stehen, dann wird man schneller gehängt als man Amen sagen kann. Die Menschen glauben an Hexen, egal, was das Gesetz sagt.
Und auch in diesem Fall werden mir die Gesetzeshüter nicht zur Hilfe kommen. Meine Peiniger umringen mich, packen mich und zerren mich fort. Ein Mann drückt meinen Arm so fest, dass er taub wird.
»Sie müssen mich nicht so fest halten«, sage ich. »Es sei denn, Sie haben Angst, dass ich davonfliegen könnte.«
»Ha, ha.« Er schnaubt, blickt aber mit einem Mal weniger forsch drein und lockert seinen Griff nicht im mindesten. Dann, als ob er mich beruhigen wollte, sagt er: »Der Fluss ist nicht weit. Es wird nicht mehr lange dauern.«
Ein kleiner Trost. Wenigstens weiß ich jetzt, dass sie mich in den Fluss werfen wollen.
Als die böswillige Meute am Ufer des Tyne ankommt, hat sie sich vervierfacht. Das war zu erwarten. Ein eifernder Mob mit einer jungen Frau, die zum Fluss gezerrt wird – da ist keine Erklärung nötig. Unser bloßer Anblick macht die Nennung des Wortes überflüssig: Hexe. Das ist eine Attraktion, die niemand versäumen will.
Sie führen mich so nah ans Ufer, bis ich den Fluss unter mir sehen kann. Das Wasser ist stahlgrau und fließt schnell. Wo es auf die gnadenlosen Felsen trifft, sprüht feine Gischt auf, die wie Nadeln aus Eis in mein Gesicht sticht.
Agnes, die selbsternannte Anklägerin, tritt vor und spricht mich an. »Steh nicht da und wirf uns böse Blicke zu, Mädchen. Dein Schicksal liegt in deinen eigenen Händen, nicht in unseren. Wenn dein Herz rein ist, werden es alle bezeugen. Und wenn nicht, dann solltest du jetzt deine Sünden bereuen und dich bereit machen, vor deinen Schöpfer zu treten. Am Grund des Flusses.« Sie blickt auf das Wasser. Ein hungriger Ausdruck liegt in ihren Augen. »Wie steht es? Willst du springen oder wäre es dir lieber, wenn wir dich hineinwerfen?«
Erwartet sie, dass ich ihr antworte? Ich könnte sie alle mit dem Inhalt des Beutels töten, den Agnes so selbstgerecht hin und her schwenkt. Vielleicht bekomme ich eines Tages die Gelegenheit dazu.
»Mir wäre es am liebsten, wenn ihr alle in der Hölle brennen würdet«, entgegne ich gelassen.
»Also werft sie rein«, befiehlt Agnes, und wieder werde ich gepackt. Die raue Stimme eines Mannes erhebt sich über das Knurren der Menge.
»So könnt ihr das Weib doch nicht hineinwerfen!«
Es ist Rye. Er ist außer Atem, weil er so schnell gerannt ist. Er hat erfahren, was geschehen ist, und ist uns nachgelaufen. Nun kommt er geradewegs auf mich zu. Die anderen Männer weichen zurück. Sein Gesicht ist leer.
»Das ist einer von denen, die sie verhext hat«, höre ich Agnes ihren Anhängern zuflüstern. »Wir wollen sehen, ob der Bann jetzt gebrochen ist.«
Hilf mir, will ich ihn anflehen, aber ich bringe keinen Laut hervor. Er streckt die Hand aus, als wolle er mein Gesicht berühren, wie gestern Nacht in meinem Zimmer. Eine halbe Ewigkeit scheint das schon her zu sein! Wird er mich vor dem gedankenlosen Pöbel beschützen? Aber wie könnte er das? Wenn er mich verteidigt, werden sie das als Beweis ansehen, dass ich ihn verzaubert habe. Dann bin ich doppelt schuldig.
Er nimmt mich am Kinn. Seine Geste ist beinahe zart. Langsam hebt er meinen Kopf und entblößt meine Kehle. Dann packt er den Kragen meines Mieders und reißt es entzwei, vom Ausschnitt bis zur Taille.
Ich schreie auf. Ich bin nackt bis zur Hüfte. Die Menge johlt vor Vergnügen.
Ich wirbele herum, um meine Nacktheit vor den Augen der anderen zu verbergen und mir die Stofffetzen vor den Körper zu halten. Rye hebt mich hoch und wirft mich über seine Schulter. Alles geschieht so schnell, dass es mir den Atem verschlägt. Ich will schreien, aber seine harte Schulter gräbt sich in meinen Magen, und ich bekomme keine Luft mehr.
Er trägt mich zehn Schritte flussaufwärts. Meine Haut schrammt gegen den rauen Stoff seines Hemdes. »Sei still und lass mich dir helfen«, zischt er im Gehen. »Im Wasser würde dich dieses Kleid genauso schnell nach unten ziehen, als hättest du einen Mühlstein um den Hals gebunden.« Am Rand der Böschung setzt er mich grob auf dem Boden ab.
»Steh auf, Hexe!«, brüllt er, so dass alle ihn hören können. Er reißt mich auf die Füße und dreht mein Antlitz meinen Anklägern zu. Ich will mich mit den Armen bedecken, mit den Haaren. Dann, mit einem rauen Schrei, packt Rye den Bund meines Rockes und reißt ihn mir vom Leib. Wieder schreie ich auf. Er tritt hinter mich und packt mich um die Taille. Er spricht so schnell und so leise, dass nur ich ihn hören kann.
»Ich werfe dich an einer Stelle in den Fluss, wo keine Felsen sind. Wenn ich dich hochhebe, holst du tief Atem und hältst ihn in deinen Lungen. Ich hoffe, du kannst schwimmen, Mädchen, sonst …« Seine letzten Worte werden vom Johlen und Pfeifen des Mobs übertönt.
Dann packt er mich mit seinen harten, rauen Händen, die sich auf meinem zitternden Fleisch heiß anfühlen, hebt mich – nackt und hilflos wie ein neugeborenes Fohlen – in die Höhe und schleudert mich in das kalte, brausende Wasser.
Auch ohne das Gewicht meines Kleides versinke ich wie ein Stein.
Unter der Wasseroberfläche ist die Welt schattig und gedämpft. Das Wasser ist trüb und eiskalt. Meine Haare wirbeln wie ein Schleier aus Seetang um mein Gesicht, und meine Glieder wirken in dem Dämmerlicht geisterhaft. Wie eine sterbende Meerjungfrau sinke ich nach unten, immer weiter weg von der rettenden Luft. Das schwache Licht der Welt über Wasser erlischt nach einer kurzen Weile.
Eine sich wiegende Wiese aus Seegras bedeckt den Grund des Flusses. Die langen, schlangengleichen grünen Stängel winken mir lockend zu. Die Luft in meinen Lungen will hinaus. Jetzt, da die letzten Sekunden meines Lebens angebrochen sind, eröffnet sich mir die Summe meiner Tage. Wie Bilder auf einer Kugel, die sich vor meinen Augen dreht, erscheint mir mein Leben in diesem einen Augenblick.
Flüchtige Kindheitserinnerungen an meine Mutter. Ihr weicher Körper, das Gefühl, getragen zu werden, der tröstliche Duft nach Milch und Brot und frisch gewaschenem Leinen. Ich als kleines Mädchen mit vor Scham zitternden Lippen; ich versuche, nicht zu weinen, während ich von meinem Vater gescholten werde. Dann wieder ich, älter, ernster, neugierig auf seine geheimnisvolle Arbeit. Ich sehe mich selbst wachsen und reifen, sehe, wie ich den Rhythmus der Pflanzen begreife, während ich vom Leben selbst noch so wenig Ahnung habe.
Dann kommt Weed, und ich taumele in einen Traum von Glück. So kurz und doch so süß scheint er alles auszulöschen, was davor gewesen ist, und er macht mich blind für alles, was danach kommt.
Und dann: Oleander. Das Phantom. Der Albtraum. Und doch erfahre ich durch ihn, wer ich wirklich bin.
Jetzt, im Sterben, fange ich an zu verstehen, wie entsetzlich diese Welt sein kann. Und ich bin ein Teil davon, bin ein Teil des Bösen und des Schmerzes. Ich trage sie in mir wie eine Krankheit …
Ich habe dich gewarnt, meine Liebe. Ich sagte dir doch, du sollst dich nicht mit diesem jammernden, heulenden Kind abgeben. Jetzt schau dich an. Wie eine Lotusblüte kämpfst du dich aus dem Schlamm. Allerdings scheint, bei näherer Betrachtung, der Schlamm den Kampf zu gewinnen.
Wird sie überleben?
Das persische Mädchen? Vielleicht noch fünfzig Jahre. Das war wohl kaum der Mühe wert.
Meine Brust steht kurz vor dem Platzen. Vor meinen Augen tanzen gleißende Sterne.
Ich bin Jessamine Luxton, denke ich. Ich habe gelebt und ich habe geliebt. Und ich habe getötet. Ich habe Rache genommen für das Unrecht, das mir angetan wurde. Warum muss ich noch immer leiden?
Im Leben bin ich Oleanders Sklave. Im Tod werde ich in der Hölle schmoren. Ich weiß schon jetzt, was von beidem schlimmer ist.
Sag Weed, dass es mir leid tut.
Ich öffne den Mund. Die Atemluft rast in einem schnellen Bündel Luftblasen aus meinen Lungen.
Sag ihm, dass ich ihn noch immer liebe.
Nein.
Ich lasse das schlammige Wasser in mich ein, lasse zu, dass es mich ausfüllt und in meine Lungen fließt …
Ich sagte Nein. Ich habe Pläne für dich, wichtige Pläne, und tot nutzt du mir nichts. Jetzt erhebe dich.
Sag ihm von mir Lebewohl.
Sag es ihm selbst, Liebchen. Wenn die Zeit kommt, wird der Tod für dich eine Zuflucht sein. Der Tod – und ich. Aber diese Zeit ist noch nicht gekommen.
Wie tausend grüne Taue schlingt sich das Seegras um meine Handgelenke. Ich öffne den Mund noch weiter, damit das Wasser schneller eindringen kann. Aber das Seegras macht eine kraftvolle, ruckartige Bewegung und lässt mich dann los. Meine schlaffen Arme schlagen plötzlich nach unten und treiben mich an die Oberfläche.
Gegen meinen Willen erhebt sich mein Kopf über das Wasser. Ich keuche und würge. Dann sinke ich wieder nach unten. Aber jetzt wissen meine Lungen, wo die rettende Luft ist. Der Instinkt zu überleben wird in mir wach. Er übernimmt die Kontrolle über meinen Körper und wischt die Verzweiflung beiseite.
Wieder tauche ich auf. Diesmal bleibe ich lange genug oben, damit das Wasser aus meinen Augen fließen und ich die Böschung sehen kann. Das Ufer ist nicht weit entfernt. Keuchend schlage und trete ich um mich wie ein Hund, bis ich schlammigen Grund unter den Füßen spüre. Ich packe eine nasse Baumwurzel, die sich mir wie zur Hilfe entgegenstreckt, und ziehe mich aus der Strömung. Mit Hilfe der Wurzel wuchte ich meinen Körper den Hang hinauf, über die glitschigen, bemoosten Felsen.
Endlich habe ich die Steigung überwunden und liege auf ebenem Grund. Auf allen vieren krieche ich ein Stück, dann sinke ich in den Schlamm. Mein Leib verkrampft sich und ich würge das Wasser aus meinem Magen und meinen Lungen. Selbst in meinem erbärmlichen Zustand fühle ich die Augen der Zuschauer wie gebannt auf mir liegen. Niemand macht Anstalten, mir zu helfen.
Endlich lassen die Krämpfe nach. Immer noch auf Händen und Knien kauernd, hebe ich mein schlammbespritztes Gesicht zu meinen Folterknechten empor. Ein paar sehen enttäuscht aus, dass ich noch am Leben bin. Einige sind erleichtert. Andere betrachten mich mit aufgerissenen Augen und Mündern. Mein nackter, zerschundener Körper ist mit Schlick und Algen übersät, wie die Galionsfigur eines Schiffswracks.
Aber ich schäme mich nicht. Ich bedecke nicht einmal meine Blöße. Der Trotz verleiht mir Stärke und die Willenskraft, mich auf die Füße zu rappeln. Ich stehe da, schwanke leicht hin und her und lasse das Wasser über meinen nackten Leib zu Boden rinnen.
Rye nähert sich mir als Erster. Noch im Gehen nimmt er seinen Mantel ab. Er streckt ihn mir entgegen.
»Sie ist gesunken. Also keine Hexe, wie es scheint«, verkündet er den Zuschauern missmutig. »Hier, bedecke dich, Mädchen. Es ist nicht nötig, dass du die Männer rasend machst. Das führt nur dazu, dass sie nachher ihre Pferde verprügeln.«
In seinen Augen liegt Pein. Er hat mir das Leben gerettet. Er würde alles für mich tun. Der arme Kerl. Er hat keine Ahnung, wer ich wahrhaftig bin. Wenn er Glück hat, wird er es auch nie herausfinden.
»Danke«, flüstere ich und will den Mantel nehmen.
»Wartet! Geben Sie ihr nicht Ihren Mantel, Rye.« Schon wieder dieses Weib. Agnes. »Was hat sie mit ihrer Haut angestellt?«
Ich schaue an mir herab. Meine Arme sind noch immer braun, aber fleckig, weil die Farbe während meines Kampfs im Wasser abgerieben wurde. Mein Gesicht und mein Hals sehen vermutlich nicht besser aus. Ebenholzschwarze Strähnen kleben an meinem halb braunen, halb weißen Gesicht, aber mein Rumpf und meine Schenkel sind elfenbeinfarben und die leichte Körperbehaarung ist flachsblond.
Oberhalb meiner Ellbogen ist deutlich die Linie zu erkennen, wo die Färbung anfängt. Unterhalb meines Schlüsselbeins ist eine weitere. Ich verschränke meine dunklen Arme vor meinem bleichen Leib. Sie sehen aus, als gehörten sie jemand anderem.
»Vielleicht keine Hexe – aber sie ist nicht die, die sie vorgibt zu sein.« Agnes’ Stimme wird schrill vor Misstrauen. »Wer bist du, Mädchen? Und warum gibst du dir solche Mühe, als jemand anderes durchzugehen?«
Die Menge rückt näher, um meine Tarnung zu betrachten, wie ein Rudel Wölfe, die mich jeden Augenblick in Stücke reißen können. Rye schirmt mich mit seinem Körper ab. Er wendet sich mir zu, nimmt mein Handgelenk und zieht meinen Arm zu sich.
Mich mit einer Hand festhaltend, zieht er den Zeigefinger seiner anderen Hand mit Druck über meinen fleckigen Unterarm. Seine Fingerspitze hinterlässt eine bleiche Spur auf der karamellfarbenen Haut.
»Du hättest mir die Wahrheit sagen sollen, Rowan.« Sein Blick ist hart und seine Stimme resigniert. »Jetzt musst du sie ihnen sagen.«