Kapitel 11

Überall im Innenhof von Signora Baglionis Anwesen stehen von Regen und Sonne ausgebleichte Terrakottatöpfe in allen Formen und Größen, und jeder einzelne davon quillt über vor Kräutern. An den Hauswänden sind Spaliere angebracht, und dort ziehen sich üppige Mondblumen und blühende Erbsenranken empor. Von der Pergola über dem Hof baumeln Trauben herab.

Die Signora wandert durch dieses kleine Paradies und gurrt dabei liebevoll und bewundernd. Sie zwickt hier einen hageren Stängel ab und dort eine vertrocknete Blüte, und jeder Handgriff zeugt von einer Fürsorge und einem Respekt, wie ich sie selten zuvor erlebt habe. Die Topfpflanzen haben mich murmelnd begrüßt. Aber all ihre Aufmerksamkeit – und ihre Zuneigung – gilt der Signora.

»Setzen Sie sich. Ich werde uns etwas zu essen holen.« Sie deutet auf zwei schmiedeeiserne Stühle, die rechts und links von einem kleinen runden Tisch im Schatten der Pergola stehen. »Und bringen Sie bitte nichts zum Blühen, während ich weg bin. Ich möchte es nur ungern verpassen.« Sie verschwindet im Haus. Gleich darauf höre ich das leise Klappern von Geschirr und das dumpfe, rhythmische Klopfen eines Messers auf einem Hackbrett.

Ich setze mich und genieße das leise, freundliche Summen des Gartens. Die Trauben bieten mir ihre süßesten Früchte dar, die ich dankbar annehme. Ich wölbe meine Hände unter das nächstgelegene Büschel. Eine nach der anderen fallen etwa ein halbes Dutzend purpurrote Beeren in meine Handflächen.

»Danke«, sage ich und beiße in eine. Ich höre ein Geräusch und schaue auf. Signora Baglioni steht mit einem Tablett in den Händen im Türrahmen und beobachtet mich.

»Gern geschehen, Signor Weed«, sagt sie trocken. »Es sei denn, Sie haben mit den Trauben gesprochen.«

Kann ich es wagen, ihr die Wahrheit zu sagen? Zumindest scheine ich ihr keine Angst einzujagen. Sie geht zum Tisch und stellt das Tablett ab. Darauf stehen zwei Teller, zwei Gläser, eine Karaffe mit Wein, eine Platte mit Brot und Käse und eine Schale mit Orangen, Feigen und Trauben.

»Bitte verzeihen Sie«, sage ich. »Ich hätte keine Früchte pflücken sollen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.«

»Aber Sie haben sie ja gar nicht gepflückt. Sie sind Ihnen in die offene Hand gefallen. Nicht wahr? Hier, nehmen Sie noch welche.« Sie bietet mir Obst aus der Schale an. Mit einem unbehaglichen Gefühl im Herzen greife ich zu.

Ist das der Grund, warum mich der Garten drängte, mit ihr zu sprechen – weil sie bereits weiß, was ich bin? Ist es möglich, dass diese Frau mit ihrer unverblümten Art, den schlammigen Stiefeln und den fleckigen Hosen mehr über meine Gabe weiß als ich selbst?

Sie scheint mein Unbehagen zu bemerken. »Weed, Sie sagten, Sie seien hergekommen, um zu lernen«, spricht sie sanft, während sie sich mir gegenüber am Tisch niederlässt. »Aber Ihr Spiel mit der Rosenknospe … und dann die Trauben, die ihre Beeren in Ihre Hand fallen lassen … es gibt wohl keinen Zweifel, dass es auch eine Menge gibt, was Sie mir beibringen können.«

Mit den Händen reißt sie das Brot auseinander und legt ein Stück davon auf meinen Teller. »Aber Sie sind gerade erst angekommen und haben eine lange und ermüdende Reise hinter sich, nicht wahr? Ich höre den englischen Akzent in Ihren Worten. Ich möchte Sie nicht all Ihrer Geheimnisse berauben, bevor wir nicht wenigstens etwas gegessen haben.«

»Sie sind sehr freundlich«, sage ich.

Sie schenkt uns beiden Wein ein und schiebt mir mein Glas zu. »Eins gleich vorweg: Sie sind an den richtigen Ort gekommen. Die Universität von Padua verfügt über die gelehrtesten Köpfe ganz Europas. Egal, was Sie lernen möchten, hier gibt es bestimmt einen Professor, der Sie unterrichten kann. Die Kurse haben schon angefangen, aber vielleicht können Sie vorläufig Privatunterricht nehmen und sich dann im nächsten Semester einschreiben.«

»Ich bin nicht der Universität wegen hier«, sage ich. »Sie sind diejenige, von der ich lernen will.«

»Ich? Aber ich bin keine Professorin.« Ihre Stimme ist scharf. »Ich bilde keine Studenten aus.«

»Ihr Name ist doch Baglioni, nicht wahr?«

Sie nickt.

»Dann gibt es keinen Zweifel.«

»Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie mich aufsuchen sollen?«

Vertrau ihr, flüstern mir die Trauben zu. Ich hole tief Atem. All die Male, die man mich Missgeburt und Monster genannt hat, kommen mir in den Sinn. Es ist nicht leicht für mich, einem Menschen zu vertrauen.

»Ich kam nicht, um Sie aufzusuchen«, sage ich langsam. »Ich wollte in den Orto botanico. Ich bin den ganzen Weg von England hierhergekommen, einzig wegen des Gartens.«

Vertrau ihr, du musst ihr vertrauen …

Signora Baglioni schaut mich mit einem offenen Blick an und hört mir aufmerksam zu. Ich hole noch einmal tief Atem und spreche dann weiter. »Aber als ich angekommen war, hat mir der Garten Ihren Namen genannt.«

»Der Garten?«

Ich zögere. »Ja. Der große runde Garten, wo Sie mich auf dem Boden liegend gefunden haben.«

Meine Worte treffen auf Schweigen. Nur das Summen der kleinen Bienen, die sich an den Blüten der Topfpflanzen laben, ist zu hören.

»Interessant«, sagt sie schließlich. Sie spießt ein Stück Käse mit einem Messer auf und legt es auf ihren Teller. »Und wie haben Sie vom Orto botanico erfahren?«

»Ich habe in einem Buch darüber gelesen.«

»In was für einem Buch?«

Die Ringelblumen in den Töpfen neben der Tür nicken und schwanken. Ihre strahlend orangefarbenen Köpfe sehen aus wie kleine Sonnen.

Zeig es ihr zeig es ihr zeig es ihr.

Ich greife in meinen Beutel und ziehe Luxtons Tagebuch heraus.

»In diesem hier.« Ich lege es auf den Tisch. Das dunkle Leder des Einbands scheint das Licht aufzusaugen. »Es wurde von einem englischen Apotheker namens Thomas Luxton geschrieben. In dem Buch stehen unbeschreiblich üble Dinge, aber Luxtons Tochter Jessamine bedeutet mir sehr viel. Sie ist verschwunden und ich fürchte um ihr Leben. Ich kam nach Padua in der Hoffnung, der Garten könnte mir helfen, sie zu finden.«

»Und der Garten sagte Ihnen, Sie sollten … zu mir kommen?« Ihre Stimme klingt ungläubig.

»Ja.«

Sie nimmt das Tagebuch und schlägt es auf. »Madonna«, haucht sie und fängt an zu lesen.

***

Vielleicht liegt es an der Müdigkeit nach der langen Reise, vielleicht auch an der beruhigenden Wirkung des Weins, jedenfalls gelingt es mir nicht, wach zu bleiben. Ich strecke mich auf einer der langen Bänke im Innenhof aus und döse vor mich hin. Das wettergegerbte graue Holz ist warm von der Sonne.

Hin und wieder öffne ich die Augen einen Spalt und schaue nach der Signora, die unermüdlich liest. Sie arbeitet sich langsam und methodisch voran. Manchmal höre ich sie etwas murmeln, aber sie nimmt alles, was sie liest, gelassen hin und lässt sich nicht abschrecken. Von Zeit zu Zeit nickt sie, als ob ihr etwas bekannt wäre.

Vielleicht darf ich mich jetzt tatsächlich ausruhen, denke ich und überlasse mich dem Schlaf. Endlich bin ich nicht mehr allein.

»Weed. Wachen Sie auf.«

Sanft aber bestimmt rüttelt mich die Signora wach. Ich schlage die Augen auf. Sie hat sich einen Stuhl zu der Bank gezogen, auf der ich liege. Die Sonne steht schon tief. Das Tagebuch liegt auf ihrem Schoß, aufgeschlagen auf der letzten Seite.

»Ich habe es gelesen, jedes einzelne Wort.« Ihr Gesicht ist grimmig. »Ich kann nicht behaupten, dass ich schon jemals von diesem Luxton gehört habe. Aber es scheint so, als ob es höchste Zeit war, dass ich von ihm erfahre. Dieser schreckliche Garten, den er angelegt hat – un incubo! Ein Albtraum! Nichts Gutes kann daraus entstehen. Wo ist er jetzt?«

Ich setze mich auf und strecke mich. »Tot. Bevor ich England verließ, war ich bei ihm. In seinem Haus lag noch ein Mann, vergiftet. Ich habe Luxton nicht gesehen, aber mir wurde gesagt – von den Pflanzen in dem tödlichen Garten –, dass auch er vergiftet wurde.« Ich schweige kurz, denn es widerstrebt mir, Jessamine des Mordes zu bezichtigen. »Und seine Tochter war verschwunden.«

»Jessamine? Ich habe über sie in diesem Buch gelesen. Er hat ihr entsetzliche Dinge angetan. Er wusste, dass Sie beide verliebt waren.«

»Wir sind verliebt«, korrigiere ich sie, aber die Bitterkeit in meiner Stimme lässt sich nicht leugnen.

Signora Baglioni bedenkt mich mit einem fragenden Blick. »Wenn Sie an ihm Rache geübt hätten, könnte ich es Ihnen nicht verübeln. Es ist besser, Sie sagen mir die Wahrheit, Weed.«

»Ich habe ihn nicht getötet«, sage ich und halte ihrem Blick stand. »Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Signora Baglioni, die Pflanzen in Ihrem Garten sind weise. Wenn sie behaupten, Sie könnten mir helfen, Jessamine zu finden, dann hege ich keinen Zweifel daran. Wissen Sie, wo sie ist?«

»Die arme Jessamine«, murmelt sie. »Wenn ich diejenige bin, die Ihnen helfen kann, dann ist sie wahrhaftig in Gefahr.«

Sie sieht aus, als ob sie noch mehr sagen wollte. Stattdessen klappt sie das Tagebuch entschieden zu. »Nun kenne ich Ihre Geheimnisse. Jetzt muss ich Ihnen wohl meine verraten. Möchten Sie sie hören? Ich warne Sie, dieses Wissen bringt eine große Verantwortung mit sich.«

Ich nicke.

»Gut.« Ihre Stimme ist leise und eindringlich. »Offiziell bin ich angestellt, um mich um den Orto botanico zu kümmern. Er wurde vor Jahrhunderten von gelehrten Männern angelegt, aus edlen und uneigennützigen Gründen. Es sollte ein Ort sein, wo Menschen Heilpflanzen züchten und studieren konnten, um ihre jeweilige Wirkung zu ergründen.«

Sie lehnt sich zurück. Das Licht, das durch die Pergola fällt, malt Muster aus Sonnenflecken und Schatten auf ihr Gesicht. »Inoffiziell, aber von größerer Bedeutung, ist meine Aufgabe als Wächterin einer besonderen Sammlung von Büchern und Artefakten, die der Universität gehören. Einige sind sehr alt, und alle sind sie extrem selten. Nur wenige Menschen wissen von ihrer Existenz. Dieser Thomas Luxton scheint etwas davon erfahren zu haben; er gibt einige Hinweise darauf in seinem Tagebuch. Mich würde sehr interessieren, wie er zu seinem Wissen gekommen ist.«

Ihr Gesicht liegt jetzt im Schatten, und sie setzt den Hut ab, der sie vor der Sonne geschützt hat. »Mein Großvater war Professor hier an der Universität und ein berühmter Botaniker. Der Orto botanico unterstand seiner Verantwortung, genauso wie die Sammlung, von der ich sprach. Er war es, der schließlich die Gefahr erkannte, die davon ausgeht, und die Bücher aus der Universitätsbibliothek entfernte, um sie an einem geheimen Ort aufzubewahren.« Ihre Augen zucken zum Haus und ich nicke verstehend.

»Nachdem mein Großvater gestorben war, übernahm es mein Vater, die Sammlung zu hüten und zu erweitern. Ich folgte in seinen Fußstapfen und habe erst kürzlich einige wertvolle Folianten erworben. Allerdings vermutlich nicht so wertvoll wie dieses Buch hier.« Sie legt die Hand auf Luxtons Tagebuch. »Es gibt vieles, was wir lernen können. Und vieles, wovor wir Angst haben müssen, fürchte ich.« Sie steht auf und bedeutet mir, ihr zu folgen. »Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie bitte das Buch mit; es sollte nicht unbeaufsichtigt bleiben.«

»Sie können es haben, wenn es für Sie von Wert ist.« Ich stehe auf, doch es ist mir unmöglich, ihr zu folgen. »Warum glauben Sie, dass Jessamine in großer Gefahr ist? In was für einer Gefahr?«

Sanft nimmt sie meinen Arm. »Das ist es, was ich Ihnen zeigen möchte. Schwören Sie, dass Sie Ihr Wissen zum Guten einsetzen werden, Weed. Schwören Sie es bei Ihrem Leben und bei allem, was Ihnen heilig ist. Wenn ich herausfinde, dass es Ihnen nicht ernst ist damit, dann verfüge ich über Mittel und Wege, um zu verhindern, dass Sie irgendwelchen Schaden anrichten, glauben Sie mir. Und ich werde nicht zögern, genau das zu tun.«

»Ich schwöre es«, sage ich aus vollem Herzen. »Thomas Luxton war mein Feind. Sein Werk verhöhnt die Vielfalt der Natur. Ich will nichts weiter als Jessamine finden und sie in Sicherheit bringen. Ich fürchte, dass sie etwas Bösem in die Hände gefallen ist – etwas, das noch schlimmer ist als ihr Vater es war.«

Plötzlich klagen und jammern die Pflanzen in den Töpfen ringsum. Sie wollen nicht, dass ich Oleanders Namen ausspreche.

»Darüber möchte ich gerne mehr erfahren«, erklärt Signora Baglioni und geht mir voraus zum Haus. Sie nickt den Ringelblumen neben dem Eingang zu. »Als Schutz«, sagt sie. »In Italien sagt man, dass Ringelblumen den bösen Blick abwenden. Halten Sie das für närrisch?«

»Nein.«

»Es ist jedenfalls nicht wissenschaftlich fundiert.« Sie zuckt mit den Schultern. »Aber es kann wohl auch nicht schaden. Und wir können allen Schutz gebrauchen, den wir kriegen können.«

***

Das Haus selbst ist klein und hell. Es riecht nach frischen Kräutern. Die Signora führt mich durch eine kleine Tür hinunter in den Keller. Die Decke hängt so niedrig, dass ich auf der Treppe den Kopf einziehen muss. Erst als ich die letzte Stufe hinter mir lasse, kann ich wieder aufrecht stehen. Der Keller ist nicht feucht und modrig, wie üblich, sondern sauber und trocken. Es riecht ganz schwach, aber nicht unangenehm, nach vergorenen Trauben.

»Früher war das ein Weinkeller.« Die Signora hält die Kerze hoch, um uns den Weg zu leuchten. »Hier stand die Kelter und entlang dieser Wand waren die Eichenfässer aufgereiht, in die der Wein abgefüllt wurde. Als beschlossen wurde, die Sammlung hierherzubringen, ließ mein Großvater den Keller vergrößern und abdichten. Es wurde eine Belüftung eingebaut, damit frische Luft zirkulieren kann. Darüber hinaus wurden Lampen angebracht, und eine Menge verschließbarer Türen.« Sie stößt ein kurzes Lachen aus. »Dies ist ein sicherer Ort, um Wertsachen unterzubringen, kein Zweifel. So sicher wie die Schatzkammer von König Midas.«

Mit einem großen Schlüsselbund in den Händen führt sie mich durch ein unterirdisches Labyrinth, schließt eine Tür nach der anderen auf und verschließt sie hinter uns wieder. »Wir sind fast da«, sagt sie leise, obwohl uns hier unten niemand belauschen kann. Sie steckt den Schlüssel in ein glänzendes Schloss, und schließlich öffnete sich die letzte der schweren Eichentüren. Signora Baglioni entzündet alle Lampen in dem Raum, bis das fensterlose unterirdische Gewölbe taghell erleuchtet ist.

Der Raum ist größer, als die Ausmaße des Hauses es vermuten lassen. An den Wänden entlang stehen Bücherregale und Vitrinen mit Gegenständen, die mir fremd sind – kleine, dickbauchige Figuren, getrocknete Blätter und Nüsse, detaillierte Zeichnungen von Pflanzen und Gegenstände, mit denen ich überhaupt nichts anfangen kann.

Signora Baglioni deutet auf die Regale. »Einige dieser Bücher sind wissenschaftliche Werke, ganz ähnlich wie das von Mr. Luxton, allerdings ohne mörderische Absichten. Diese Sammlung wurde aus der ganzen Welt hier zusammengetragen. Einige Artefakte sind Tausende von Jahren alt.«

»Thomas Luxton hat sein Leben lang nach diesen Büchern gesucht«, sage ich und betrachte die uralten, brüchigen Lederrücken.

»Seinem Tagebuch ist zu entnehmen, dass er sich alle Mühe gab und jegliche Skrupel über Bord warf, um sein Wissen zu mehren – auch ohne Bücher. Prinzipiell habe ich natürlich nichts gegen Experimente an Menschen – solange diese Menschen bereits tot sind«, erklärt sie. »Haben Sie von dem Anatomiesaal der Universität gehört? Dort werden Sezierungen vorgenommen. Von der medizinischen Abteilung. Sie verwenden Bären, Affen, Hunde und natürlich auch menschliche Leichen, wenn das Wetter kühl genug ist. Manchmal machen sich die Studenten einen Scherz daraus, am Abend vor einer Sezierung die Leiche zu entführen, sie herauszuputzen und mit ihr in einer Gondel spazieren zu fahren.«

Missbilligend und gleichzeitig leicht belustigt schüttelt sie den Kopf. »Wie ich bereits sagte: Das Wissen, das hier versammelt ist, umfasst etliche Jahrhunderte und sämtliche Kontinente. Aber alle Bücher und alle Gegenstände hier haben eins gemeinsam: Die Erkenntnis, dass ohne Pflanzen kein Leben auf der Erde möglich wäre. Pflanzen sind Nahrung, für uns und für unsere Tiere. Ohne sie würden wir verhungern. Pflanzen besitzen auch die Macht zu heilen und zu töten. Aber sie sind mehr als nur nützliche Mittel zum Zweck. Sie sind selbst von Leben erfüllt. In vielen Kulturen glaubt man, dass Pflanzen eine Seele haben. Einige werden sogar als Götter verehrt. Heutzutage und hierzulande, in der Welt und der Zeit, in der wir leben, ist vieles davon in Vergessenheit geraten. Aber nicht alles.«

Sie wartet und schaut mich an, um mir Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Ich spüre, dass sie sich wünscht, ich würde etwas zu ihrer Geschichte beitragen, würde zugeben, was sie bereits ahnt. Aber ich sage nichts, denn ich habe das unbändige Verlangen, eine Erklärung für meine Existenz aus ihrem Mund zu hören.

Die Signora spricht weiter, wobei sie mich von Regal zu Regal, von Vitrine zu Vitrine führt.

»Die Eingeborenen der Inseln im Indischen Ozean glauben, dass der erste Mensch – den wir Adam nennen – aus einem Bambusstamm entsprungen ist, wie diesem hier. Sehen Sie sich diese Zeichnung an, Weed: Das ist Asvattha, der Weltenbaum. Die Upanishaden, die alten Schriften Indiens, nennen ihn das Fundament unserer Welt. In vielen anderen Kulturen gibt es ähnliche Geschichten über einen Weltenbaum. Hier, schauen Sie sich das an.«

Sie geht mir voraus zur nächsten Vitrine und deutet auf einen Lederbeutel mit einem langen Riemen, der mit dünnen Schnüren aus Tierhaut zusammengenäht und mit gemalten Mustern und aufgestickten Muscheln und Federn verziert ist.

»Was ist das?«

»Eine meiner jüngsten Errungenschaften. Man nennt es Medizinbeutel. Er stammt von den Ureinwohnern Nordamerikas. Ein faszinierendes Volk, das in der Verwendung von Heilpflanzen überaus bewandert ist. Sie halten die Natur ebenfalls für etwas Göttliches. Das geht sogar so weit, dass sie die Vorstellung, ein Mensch könnte Land besitzen, weit von sich weisen. Stellen Sie sich vor, wie viele Kriege sich durch eine solche Einstellung hätten verhindern lassen!«

Verwirrt frage ich: »Und das ist der Grund, warum diese Information geheimgehalten werden muss?«

»Es ist Ketzerei, Weed«, erklärt sie. »Wir leben in seltsamen Zeiten. Das Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, und die Leute haben Angst. Welche unbekannte Zukunft liegt vor uns? Überall ist die Welt im Wandel. Der Geist der Revolution verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Eure amerikanischen Kolonien haben sich bereits von ihrem Mutterland gelöst. Jetzt ist Frankreich ihrem Beispiel gefolgt und hat die Monarchie abgeschüttelt. Manche sagen, dass England als Nächstes dran ist.«

Ich schließe die Augen, aber ich kann die Erinnerung an den Prediger nicht auslöschen, den ich an der Kreuzung umgebracht habe – meine Hände, die sich um seinen Hals schlossen, während er um sein Leben bettelte – Bereuen Sie, denn das Ende ist nah …

Die Stimme der Signora reißt mich aus der Vergangenheit in die Gegenwart. »Die Idee, dass wir Menschen nicht die rechtmäßigen Herrscher über diese Erde sind, sondern nur eine Art von denkenden und fühlenden Kreaturen – eine unter vielen, von denen alle beseelt sind! – verändert die ganze Sichtweise auf das Menschsein im Allgemeinen. In Ihrem Land gibt es einen Chemiker, einen gewissen Dr. Priestley. Ich verfolge sein Werk aufmerksam. Seine Experimente legen die Vermutung nah, dass die Pflanzen sogar die Luft produzieren, die wir atmen.« Sie wirft die Arme in die Luft. »Pflanzen erschaffen die Luft! Begreifen Sie, was das bedeutet? Unsere Nahrung, unsere Luft, unser aller Leben hängt von den Pflanzen ab. Wie können sie dann nicht von göttlicher Herkunft sein, nicht von göttlicher Intelligenz? Wie können wir ihnen ihren rechtmäßigen Status verweigern, wenn sie doch – auf eine grundlegende Art und Weise – nicht weniger wert sind als Sie oder ich?«

Ich dachte, es würde mir ein Trost sein, sie all diese Dinge aussprechen zu hören, die ich mein Leben lang als unaussprechlich in meinem Herzen gehütet habe. Stattdessen bekomme ich es mit der Angst zu tun. Warum fürchten sich die Pflanzen dermaßen vor Oleander, dass sie nicht einmal über ihn reden oder seinen Namen aussprechen wollen?

»Was ist mit Jessamine?«, frage ich.

»Die Sammlung lehrt uns jedoch auch, dass die Natur kein Engel ist«, sagt Signora Baglioni ruhig. »Neben all dem Guten gibt es eine dunkle Seite. Selbst die Natur birgt Teufel in sich: Vulkane, die Asche in die Luft spucken und das Licht auslöschen; Fluten, die alles Leben hinwegspülen und die Welt zwingen, von vorne anzufangen. Die Shinto-Priester in Japan würden sagen: »Die sanfte Brise, die uns im Sommer Kühle zufächelt, ist ebenso der Wirbelsturm, der alles zerstört.«

»Die Pflanze, die heilt, kann auch töten.« Ich schließe meine Augen und fühle den kalten Schatten des dunklen Prinzen über mich hinwegziehen. »Alles ist im Gleichgewicht.«

Sie nimmt ihren Schlüsselring und schließt eine der Vitrinen auf. »Ja. Es gibt ein Gleichgewicht, aber dieses Gleichgewicht ist empfindlich und kann zerstört werden. Darf ich Mr Luxtons Tagebuch für diese Sammlung haben?« Ich reiche es ihr und bin froh, das üble Ding endlich loszuwerden. Signora Baglioni legt es in die Vitrine. »Ich werde es morgen katalogisieren. Für heute reicht mir die Gewissheit, es hinter verschlossenen Türen zu haben, wo niemand es finden kann.«

Sie steckt den Schlüsselbund ein und wendet sich mir zu. »Als ich in meinem schönen Garten saß und dieses Schreckensbuch las, während Sie schliefen, dachte ich: Hier in Padua ist die Luft mild und die Bienen summen vor Zufriedenheit, aber in einem windgepeitschten Winkel Englands hat ein Mann mit einem abgrundtief bösen Herzen einen fürchterlichen Garten erschaffen, in dem das Gleichgewicht der Natur gestört ist und die Wirbelstürme über die sanften Winde hat triumphieren lassen, die Flutwellen über das sanfte Schaukeln des Meeres. Stimmt das, Weed? Ist dies das Übel, von dem Sie vorhin gesprochen haben?«

Ich nicke. »Der Giftgarten hat Gestalt angenommen. Er hat sich einen Führer erwählt. Er hält sich für einen Prinzen.«

»Hat dieser Prinz einen Namen?«

»Sein Name ist Oleander. Er nennt sich Giftprinz.«

Sie packt mich an den Schultern und schaut mich eindringlich an, und ich fühle mich mit einem Mal wie ein kleiner Junge. »Und wer bist du, Weed? Welche Rolle spielst du in der ganzen Sache?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»O doch, du weißt es!« Ihre Nägel bohren sich schmerzhaft in mein Fleisch. »Was sagen die Pflanzen, wer du bist?«

Plötzlich überkommt mich das Verlangen, diesem unterirdischen Verlies zu entfliehen, mich durch die Erde nach oben ans Licht zu graben. Aber die Signora hält mich fest. »Die Pflanzen im Wald von Northumberland nennen mich den hörenden Menschen.«

»Und du kannst sie tatsächlich hören, nicht wahr?« Ihre Stimme ist voller Ehrfurcht. »Du hörst sie alle: die Bäume, die Blumen – und auch die Heilkräuter?«

»Genauso wie die Giftpflanzen.«

Sie lässt meine Schultern los. »Wie phantastisch! Es ist ein Wunder, ganz gewiss!«

»Mir kommt es eher wie ein Fluch vor.«

»Nein, nein! Hör auf die Alten.« Mit einer weiten Armbewegung umfasst sie den ganzen Raum. »In all diesen Ländern wurde ein Mensch, der die Welten miteinander verbinden konnte, tief verehrt. Er war ein Schamane, ein Heiliger. Begreif doch: Menschen können ohne Tiere überleben und Tiere ohne Menschen, aber die Erde selbst und alles Leben auf ihr würde elend zugrunde gehen, wenn es die Pflanzen nicht mehr gäbe. Sie sind unsere wahren Herren, obwohl wir das nicht eingestehen wollen. Du bist ein Sendbote, Weed. Vielleicht so eine Art Friedensstifter.«

»Aber was ist meine Aufgabe?«

»Das müssen wir beide, du und ich, gemeinsam herausfinden. Dieser Oleander ist eine echte Gefahr. Wie der Golem der Hebräer, so ist auch er ein Ungeheuer, das sich aus dem Schmutz erhebt und vergisst, dass er nur aus Schmutz gemacht ist.«

»Oleander ist wahrhaftig ein Ungeheuer«, sage ich hitzig. »Ich würde ihn umbringen, wenn ich wüsste, wie ich das anstellen sollte.«

Sie streckt den Arm aus und zieht ein Buch aus dem Regal. »Mein Großvater hat über solche Wesen geschrieben – Oleander ist nicht der erste böse Geist, der auf diese Weise die Welt betritt, und er wird auch nicht der letzte sein. Hier, hör zu.« Sie blättert die vergilbten Seiten um und liest:

»Es gibt eine Kraft des Wachsens und eine Kraft des Vergehens, miteinander verbunden in ewigem Tanz. Die Kraft des Wachsens nennt man Eros; sie ist die Liebe. Und die Kraft des Vergehens ist jene, die von den Griechen Thanatos genannt wird, der Tod, der Heiler, der die Lebenden von ihren Qualen erlöst.

Und was wäre, wenn der Prinz des Vergehens auf die Erde niederkommen und versuchen würde, sie sich zu unterwerfen? Er würde versagen, denn allein ist er machtlos. Genauso wie der Stempel einer Blüte die Staubgefäße braucht, braucht er einen Kameraden, ein Gegenstück. Er muss eine heilende Kraft seiner verderbenden hinzufügen, eine Kraft des Lichts seiner Dunkelheit, eine Kraft des Wachstums zu seiner Fäulnis. Dann ist seine Macht vollkommen. Dann wird die Erde erbeben, die Berge in Feuer und Asche zerbersten, und mächtige Fluten werden selbst die stärksten Archen hinwegschwemmen, und der Winter wird kommen und nie wieder vergehen.«

»Jessamine!« Meine Fäuste sind geballt. Ich möchte etwas zerschlagen, etwas vernichten, aber mein Feind ist nicht hier. »Sie ist eine Heilerin. Sie ist Licht und Wachstum. Deshalb hat er sie geraubt.«

Signora Baglionis Gesicht ist grimmig. »Das fürchte ich auch. Jessamine mag der Schlüssel zu seiner Macht sein. Du musst sie finden, Weed – nicht nur um deinet- und um ihretwillen, sondern um unser aller willen.« Ein kummervoller Ausdruck legt sich auf ihr Antlitz. »Ich hoffe und bete, dass es noch nicht zu spät ist.«