Kapitel 12
Jessamine Luxton.
Jessamine Luxton.
Der Name ist mir irgendwie vertraut.
Manchmal glaube ich, dass es früher einmal mein Name war. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich hübsche, einfache Szenen vor mir: ein Mädchen und ein Junge zusammen im Gras einer Schafweide, die sich tief in die Augen sehen und die Hände ineinander verschlungen haben. Zwei Kinder, die mit der Liebe spielen.
Der Name des Mädchens ist Jessamine. Der Junge – er hat einen merkwürdigen Namen! Er huscht am Rande meiner Erinnerung entlang wie eine Libelle an einer Uferböschung, ganz nah an der Oberfläche, und doch sie niemals berührend. Aber es ist ein merkwürdiger Name, da bin ich mir ziemlich sicher.
Oder vielleicht ist die liebliche Szene auf der Wiese nur eine Phantasterei und die Geschichte des Mädchens namens Jessamine und des hübschen Jünglings, den sie aus den Tiefen ihres unschuldigen Herzens liebt, ist bloß ein Traum, den ich irgendwann einmal hatte – ein Traum, aus dem ich schon vor langer Zeit erwacht bin und den ich nun beinahe völlig vergessen habe.
Denn das geschieht mit Träumen. Wenn man aufwacht, verblasst die Illusion der Nacht und die harte, kalte Wirklichkeit des Tages fällt auf einen nieder, so schwer, dass jeder Atemzug wehtut.
Und wie sehr es schmerzt, manchmal! Ein Stechen, das mein Herz entzweireißt … Doch ob Traum oder Erinnerung, das spielt keine Rolle. Jessamine gibt es nicht mehr.
Und was ist mit Rowan, der Näherin, die niemals lächelte? In meinen Gedanken liegt sie als Leiche, aufgedunsen und bleich, am Grund des Tyne. Ihr nackter Körper ist in Seegras gewickelt. Ihr Haar schaukelt auf der Strömung hin und her. Ihre Augen starren blicklos in das trübe Licht. Ihr junges Fleisch ist blau und kalt, eine willkommene Mahlzeit für die Krebse und Fische.
Oder nicht? War ich nicht Rowan, eine Zeit lang jedenfalls? Kann sie tot sein, wenn ich lebe? In letzter Zeit ist mein Geist oft benebelt, ein Durcheinander aus Gedanken, die in endlosen Spiralen wandern, sich umeinander drehen und immer weiter hinabsinken. Mit jedem Tag wird die Vergangenheit ein Stück tiefer begraben. Aber ich kann mich immer noch an Ryes warmen Atem an meinem Ohr erinnern und an die Berührung seiner rauen Hände auf meiner Haut.
Heutzutage empfinde ich kaum noch Mitleid oder ein anderes weiches oder zärtliches Gefühl. Aber Rye dauert mich. Er wird nie wieder einer Frau vertrauen, das weiß ich. Er wird den Rest seines Lebens so verbringen, wie es ihm bestimmt war: als ein Gesetzloser und ein Profitjäger, einsam und allein, bis auf die naiven Mädchen, die er umwirbt, ins Bett zieht und danach davonjagt. Jede neue Eroberung wird ein weiterer sinnloser Racheakt an mir sein, bis er mich irgendwann vergessen hat. Genauso, wie ich mich selbst schon beinahe vergessen habe.
Ich heiße jetzt Belladonna. Der Name passt zu mir. Nun, zumindest passt er zu dem Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickt. Meine Haut ist so bleich wie eine Schneewehe, denn ich ertrage das Sonnenlicht nicht und habe überdies kaum noch Appetit. Dank der neuerlichen Anwendung von Indigo und Henna schimmert mein Haar in einem glänzenden Rabenschwarz. In dichten Flechten fällt es wie die Wellen eines mitternächtlichen Ozeans um meine scharfkantigen, blutleeren Wangen.
Auch meine Augen sind fast schwarz. Meine Pupillen starren vergrößert aus einem dünnen Ring aus Eisblau. Sie sind dunkel und rund und glänzend, wie die tödlichen Beeren, die ich einst hegte und pflegte wie eine Mutter ihr Kind.
Belladonna. Ein wahrhaft tödlicher Nachtschatten.
Denk daran, Jessamine, du ziehst eine Horde von Mördern groß …
Eine Erinnerung? Oder ein Traum? Ein Mann hat das irgendwann einmal zu mir gesagt, vor sehr langer Zeit. Ein strenger, harter Mann. Er hat mich oft gescholten. Ich hatte Angst vor ihm, so viel weiß ich noch.
War er mein Vater?
Bei dem Gedanken wird mein Geist leer. Ich weiß nur noch eins: Ich ließ Rye in der Dunkelheit des frühen Morgens zurück, während mich Oleander zur Eile drängte.
Lauf, Liebchen, lauf, sprach er zu mir in jener spöttischen Stimme, die fortwährend mein Gehirn heimsucht. Lauf, auch wenn du nicht weißt, wohin.
Ich habe gerade genug Geld für die Mahlzeit eines Tages. Warum habe ich nicht mehr genommen?
Du hättest auf mich hören sollen, als ich dir sagte, du solltest das Mädchen sterben lassen. Jetzt musst du fliehen, bis du vor Hunger und Durst nicht mehr weiterkannst, bis deine Füße bluten, bis der Schnee kommt.
Ich werde irgendwo eine Zuflucht finden. Irgendjemand hat gewiss Mitleid mit mir …
Eine Zeit lang, vielleicht. Aber es macht keinen Unterschied. Wohin du auch gehst, es wird überall so sein wie bei diesem Haufen unwissender Hexenjäger. Du wirst gehasst und gefürchtet werden, gejagt, gedemütigt, vertrieben.
Was soll ich tun?
Mir von nun an gehorchen, mein Herz. Gehorche mir ohne Widerspruch. Ich werde dir sagen, was du tun musst.
Ohne Oleander hätte ich nicht überlebt. Er hat mich von einer Stadt in die nächste geführt. Wenn mir das Geld ausging, zeigte er mir Mittel und Wege, wie ich mir neues beschaffen konnte, um mir das Nötigste zu besorgen – Kleidung, Essen, Unterkunft, die Möglichkeit weiterzukommen.
Oleander lehrte mich, dass es immer jemanden gibt, dem das Wissen um die Verwendung von Gift von Nutzen ist. Der eine will einen Rivalen loswerden, die andere einen brutalen Gatten, oder aber es gilt, das langsame Dahinsiechen einer Tante oder eines Onkels zu beenden, um an eine Erbschaft zu kommen. Die Leute bezahlen gut für mein Wissen – und für Diskretion.
Ich hatte keine Ahnung, wie leicht es ist, Geld zu verdienen. Aber wenn man keine Hoffnung und keine Skrupel mehr hat, wird vieles möglich.
Ja, wenn man sich erst einmal jegliches Mitgefühl aus dem Herzen gerissen hat – als ob das Mitgefühl bloß ein Unkraut wäre, ein stacheliges, unerwünschtes Gewächs, das man an der Wurzel packen und auf den Müll werfen könnte! –, ist man ganz unerwartet in der Lage, unerhörte und fürchterliche Dinge zu tun.
Und es ist eine Tatsache, dass Gerechtigkeit in dieser Welt schwer zu erlangen ist. Es gibt Tage, an denen ich mich immer noch wie eine Heilerin fühle, wenn ich vollstrecke, wozu das Gesetz nicht fähig ist. Daher bin ich wohl nicht unglücklich, nein. Nachdem ich viel von England gesehen hatte, kam ich schließlich nach London. Hier habe ich viele Menschen kennengelernt, die mich ihrerseits mit den vielfältigsten Vergnügungen vertraut machten.
Zum Beispiel mit dem Laudanum. Die Formel ist ganz einfach. Es wird aus Opium hergestellt, das wiederum aus den Samenkapseln der Mohnblume stammt, und nur mit Alkohol vermischt werden muss. Anfangs zögerte ich, davon zu kosten, aber Oleander befahl es mir, und es dauerte nicht lange, da verstand ich warum. Es verursacht das herrlichste Gefühl im Kopf, das man sich vorstellen kann. Es schärft die Sinne wie ein Pfeil, bis die Welt und ihre Wunder so lebendig sind, dass man sie nicht mit Worten beschreiben kann.
Laudanum verwandelt den reinen, sauberen Duft der Nacht in ein berauschendes Parfüm. Es verdeutlicht die unfassbare Nähe des Himmels. Wenn ich Laudanum nehme, dann ist mir manchmal, als müsste ich mich nur ein bisschen weiter strecken, um mit den Fingerspitzen die Sterne berühren zu können. Gleichzeitig scheint das Mittel andere Sinne völlig zu lähmen. Zum Beispiel das Erinnerungsvermögen. Schuldgefühle, den Sinn für Ehre und Anstand – all das ist wie ausgelöscht.
Ich bin froh darüber, denn ohne Erinnerung, Schuld oder Ehre zu sein, ist in meinem Geschäft nur von Vorteil. Ich nehme Laudanum, um schlafen zu können, wenn der Schlaf nicht kommen will und wenn das Wachbleiben zu … kompliziert wird.
Meistens jedoch nehme ich es, wenn jene geisterhafte Stimme in mir ertönt, die ich einfach nicht loswerden kann. Sie behauptet, eine Sendbotin aus den Ruinen der Vergangenheit zu sein. Sie ruft mich bei diesem vertrauten Namen:
Jessamine!
Sie spricht sogar dieses Wort aus, dieses eine Wort, das ich nicht einmal mehr denken darf: Liebe …
Das ist ja alles sehr interessant, mein Herz. Aber mal ehrlich: Was für einen Sinn hat es, vergangenen Dingen nachzutrauern? Es ist die Zukunft, die zählt. Unsere Zukunft.
Sein Name ist Weed! Jetzt erinnere ich mich wieder. Oh, wie sehr ich ihn liebte! Du hast mir versprochen, mich zu ihm zu bringen, Oleander. Wirst du dein Versprechen halten?
Aber gewiss, Liebchen. Schon sehr bald sogar. Obwohl ich nicht weiß, welchen Empfang er dir bereiten wird. Soweit ich mich erinnere, ist er ein bisschen pingelig, und du hast dich verändert. Du bist nicht mehr das einfache Mädchen vom Lande, das er früher einmal kannte.
Du hast vermutlich recht … Daran habe ich nicht gedacht.
Vielleicht fühlt er sich sogar abgestoßen von dir. Du bist eine Mörderin. Deine Sinne sind vom Opium benebelt. Und du kannst kaum behaupten, ihm treu gewesen zu sein. Das hast du dem verschwitzten Pferdehändler zu verdanken.
Er wird in mir ein Ungeheuer sehen und mich von sich stoßen – bring mich nicht zu ihm, Oleander, ich flehe dich an! Er soll nicht sehen, was aus mir geworden ist …
Du dummes Mädchen. Natürlich werde ich dich zu ihm bringen. Es ist immer nett, einen alten Freund wiederzusehen, und ein Versprechen ist ein Versprechen. Aber erst einmal haben wir Arbeit vor uns. Ich möchte dich einigen Bekannten von mir vorstellen. Es sind ehrgeizige Männer, die ein großes Ziel vor Augen haben, Männer, die deinen wahren Wert zu schätzen wissen. Nicht wie dieser scheinheilige … wie heißt er doch gleich?
Er hat recht.
Oleander hat immer recht. Das weiß ich jetzt.
Merkwürdig, dass ich das nicht früher begriffen habe.