Kapitel 16

11. November

Das Fest zu Ehren des Heiligen Martin

 

Mein Kostüm für den Maskenball kann man nur als ein Stoff gewordenes Wunder bezeichnen. Signora Baglioni hat einen schwarzen Seidenanzug mit einer smaragdgrünen Weste besorgt sowie eine schwarze Samtmaske, die mein Gesicht bedeckt. Die Pflanzen des Orto botanico haben ihre zartesten Ranken und ihre herrlichsten Blumen beigesteuert, aus denen die Signora einen Umhang aus lebendigen Blättern und Blüten gewebt hat.

Mit Hilfe dieser treuen Pflanzen werde ich heute Abend meine beste Vorstellung geben. Wenn nur Jessamine dabei sein und es sehen könnte.

»Bellissimo«, murmelt Signora Baglioni und legt letzte Hand an meinen Umhang. »Ich wünschte, ich könnte die Gesichter dieser verräterischen englischen Aristokraten sehen, wenn du den Saal betrittst.«

»Kommen Sie denn nicht mit?«

Sie legt die Schere beiseite. »Ich muss hierbleiben und den Orto botanico bewachen. Heute Nacht ist das Böse in Padua unterwegs. Wir müssen allerhöchste Vorsicht walten lassen.«

»Keine Angst, Signora. Ich werde dafür sorgen, dass dem König nichts geschieht.«

»Das hoffe ich.« Sie runzelt die Stirn. »Und ich gebe zu, Weed, dass ich beunruhigt bin. Es wird kein Zufall sein, dass der Giftprinz ausgerechnet hierher kommt, um seine Macht zu demonstrieren. Hierher, nach Padua.«

»Ich dachte, die englischen Höflinge wollten Dr. Carburi konsultieren, wegen seiner profitablen Heilmethoden.« Ich will sie zum Lächeln bringen, habe aber keinen Erfolg.

»Das ist der Grund, den sie genannt haben, ja.« Sie klingt nicht überzeugt. »Du hast mir einmal von deiner ersten Begegnung mit Oleander erzählt. Damals warst du ein Kind, ein blinder Passagier an Bord eines Schiffes. Weißt du noch?«

»Nur zu gut. Wir wurden von Piraten angegriffen. Einige von der Mannschaft wurden getötet, der Rest wurde gefangen genommen und gefesselt.« Wenn ich die Augen schließe, kann ich immer noch die salzige Gischt schmecken und die Schreie der sterbenden Männer hören, also versuche ich, mich auf die Signora zu konzentrieren. »Ich habe die Piraten getötet, mit dem Gift, das ich auf Oleanders Befehl in ihr Essen streute.«

»Hast du dich jemals gefragt, warum er dein Leben gerettet hat?«

Ihre Bemerkung macht mich unruhig. »Es hat ihn vermutlich amüsiert, ein unschuldiges, verängstigtes Kind zum Mörder zu machen. Wenn Oleander dieses Mal seinen Willen bekäme, wären wir alle verdammt.«

»Das ist richtig. Aber du warst kein gewöhnliches Kind. Vielleicht hatte er einen besonderen Grund, dich zu verschonen. Vielleicht hat er nur darauf gewartet, deine Talente für einen üblen Zweck zu missbrauchen.« Sie reicht mir die Maske. »Vielleicht hat er Padua mit voller Absicht als Schauplatz für sein böses Spiel gewählt, weil er wusste, dass du hier sein würdest, Weed.«

»Seine Absichten und meine könnten gegensätzlicher nicht sein.« Hilflose Wut erfasst mich. »Ich wünsche mir nichts mehr, als ihn zu vernichten.«

»Aber wenn Oleander nicht gewesen wäre, wärst du jetzt nicht mehr am Leben.« Sie reicht mir die Phiole, die mit einem dickflüssigen dunklen Sud gefüllt ist, verschlossen mit einem Korken. Das Mithridat. Behutsam verstaue ich es in der Westentasche. Die Signora beobachtet mich mit einem besorgten Blick.

»Buona fortuna, Weed.« Ich bin schon an der Tür, da nimmt sie meinen Arm. »Denk daran, der englische König ist nicht der Einzige, der sich heute Nacht in Gefahr befindet. Oleander wird alles tun, um seine Falle zuschnappen zu lassen. Du musst stark sein. Du musst vielleicht wählen … vielleicht etwas für dich sehr Wichtiges opfern …«

Sie muss nichts mehr sagen. Ich erinnere mich noch an die entsetzliche Lektion, die mich der Giftgarten in Hulne Abbey gelehrt hat, als meine Geliebte im Sterben lag. Wie ich gezwungen wurde, genau das zu tun, was mir am meisten widerstrebte, wie ich begreifen musste, dass meine Vorstellungen von Richtig und Falsch, Gut und Böse wie trocknes Laub unter dem Gewicht meiner Liebe für Jessamine zerbröseln.

Wenn ich vor der Wahl stünde, Jessamine oder den König zu retten – wen würde ich wählen?

Für derartige Fragen bleibt keine Zeit. Ich muss gehen. Aber die Signora klammert sich an meinen Arm.

»Ich musste auch an den Soldaten denken, der König Mithridates umbrachte«, sagt sie leise. »Einen König zu töten, ist ein schweres Verbrechen, selbst wenn es aus Loyalität geschieht. Der Mann musste zweifellos für diese Tat mit dem Leben bezahlen.«

»Er tat, was von ihm verlangt wurde«, sage ich, um sie zu trösten.

»Wie wir alle. Aber trotzdem war es eine tapfere und gute Tat. Ich hätte diesen Mann gern gekannt.« Sie küsst mich zum Abschied auf beide Wangen und wendet sich dann schnell ab. Trotzdem sehe ich die Tränen in ihren Augen.

Ich verstehe. Sie erwartet nicht, mich lebend wiederzusehen.

◆◆◆

In einer langsamen Prozession zieht der König mit seinem Gefolge durch die Straßen von Padua zum Palazzo della Ragione. Wir sind eine wahrhaftige Attraktion – eine Parade englischer Aristokraten mit ihren Mätressen, alle in Masken und Kostümen. Die Kinder starren uns an und deuten auf uns, huschen in die Schatten der Hauseingänge und Tore, wenn wir ihnen zu nah kommen.

Niemand weiß, wer wir sind oder dass der König von England unter uns ist. Uns wurde gesagt, dass wir behaupten sollten, eine Gruppe von wohlhabenden englischen Bürgern auf Studienreise zu sein, wenn man uns fragt, aber ich bezweifle, dass viele Reisende in diesem pompösen Stil unterwegs sind.

Belladonna nennen sie mich, wenn sie meiner ansichtig werden. Schöne Dame, in der Tat. Ich trage ein schulterfreies Korsagenkleid aus schwarzem Tüll, eine Maske mit purpurfarbenen Orchideen und ein Gesteck aus weißen Oleanderblüten in meinem rabenschwarzen Haar. Die Blüten selbst sind giftig, aber es ist eine darunter, die ich mit einer besonders giftigen Dosis versehen habe.

Meine Arme und mein Hals sind nackt, und das hauchzarte Gewand verbirgt kaum meinen Körper, aber mittlerweile ist mir jegliche Scham abhanden gekommen. Ich folgte Oleanders Anweisung, meinen Körper mit einem Aphrodisiakum einzureiben, damit der König mich den ganzen Abend lang an seiner Seite behält. Auf diese Weise kann ich es vermeiden, dass mir heute irgendjemand in die Quere kommt, denn mit der leichtesten Berührung meiner Hand habe ich alle unter Kontrolle. Der kalte Novemberwind macht mir nichts aus, denn das Blut in meinen Adern fließt schnell und heiß.

Bereite deinen Morgentee zu, wie ich es dir befohlen habe, drängte mich Oleander beim Erwachen. Der Nektar der Assassinen wird dir den nötigen Mut verleihen.

Ich gehorche ihm stets, und so ist jetzt nicht ein Funken Angst in meinem Herzen. Meine Reaktionen scheinen unnatürlich schnell oder aber der Rest der Welt hat sich verlangsamt. Ich fühle mich, als könnte ich einen Regentropfen aus der Luft pflücken, wenn es mir gefiele.

Ich weiß nicht, wer auf die Idee kam, den Maskenball unter ein Motto aus der Pflanzenwelt zu stellen – man behauptete, der Grund dafür sei die Tatsache, dass der Palazzo mit Blick auf den Obst- und Gemüsemarkt Paduas liegt – aber die Idee passt mir gut. Der König ist als Sonnenblume verkleidet, mit einem grell orangefarbenen Rüschenkragen, der sein Gesicht umrahmt. Die anderen maskierten Gäste sind mit ineinander verwebten Blättern und üppigen Blütenarrangements geschmückt.

»Da«, sagt jemand, als wir um eine Ecke biegen. »Der Palast der Vernunft.« Von außen sieht das Dach aus wie der umgedrehte Rumpf eines riesigen Schiffes. In meinem Geiste sehe ich Menschen ertrinken, von einer sturmumtosten See davongerissen. Ich höre die Schreie, das Flehen um Gnade, die Hilferufe …

Vergebt mir, dass ich euch nicht rette, denke ich, aber auch ich ertrinke, und schon bald werde ich tot sein.

Dann blinzle ich, und die Vision ist verschwunden.

Gemeinsam mit den anderen Damen des Hofs steige ich die Treppe hinauf. Eine nach der anderen flanieren wir hinein in den Salone, in jenen weitläufigen Saal im obersten Stock, wo der Ball stattfinden wird.

Ich habe noch nie einen so riesigen Raum gesehen; die Ausmaße verursachen mir ein Schwindelgefühl. Entsprechend unserem Motto hat man überall Topfpflanzen aufgestellt und Girlanden aus blühenden Blumen angebracht. Es ist ein Garten Eden, losgelöst von der Erde, ein Paradies, das im Himmel schwebt. Alle Eintretenden betrachten mit offenen Mündern die Sterne, die an die gewölbte Decke gemalt sind, und die Fresken entlang den Wänden, auf denen die zwölf Sternzeichen zu sehen sind.

Auch ich halte inne, um sie zu bewundern – bis ich zum Skorpion komme.

»Couragio, meine Liebe. Ich werde nicht zulassen, dass du scheiterst.«

Ich keuche auf. Oleanders Stimme ist mir zwar so vertraut wie meine eigenen Gedanken, doch diese Worte erklangen nicht innerhalb meines Geistes, sondern hinter mir. Ich drehe mich um. Vor mir steht der Prinz. Sein silbernes Haar schimmert im Fackellicht, aber das Smaragdgrün seiner Augen zerrt an meinem Herzen. Nein, nicht an Weed denken, ermahne ich mich. Dafür ist es viel zu spät …

»Meine Macht nimmt täglich zu. Das habe ich dir zu verdanken, mein Herz. Du hast Großes geleistet; davon hätte ich kaum zu träumen gewagt.« Seine lederartigen, blattförmigen Schwingen sehen aus wie ein extravagantes Kostüm – und ich weiß nicht genau, ob er eine Erscheinung oder Wirklichkeit ist. »Ich kann nicht lange bleiben, aber diese Nacht wollte ich um alles in der Welt nicht verpassen. Du siehst aufgewühlt aus, meine Liebe – bist du überrascht, mich zu sehen?«

Ich kann kaum atmen. »Ja.«

Gut, flüstert er und verschwindet mit einem Aufschimmern der Luft vor meinen Augen. Denn ich liebe Überraschungen. Wie du schon bald sehen wirst.

◆◆◆

Signora Baglioni hat alles bestens arrangiert: Der Saal ist voller Pflanzen, meine Verbündeten. Und von der erhöhten Bühne aus kann ich alle sehen, die anwesend sind.

Für mich sind die Verräter leicht auszumachen. Sie sind als Giftpflanzen verkleidet – Fingerhut, Rhododendron, Narzisse, Eisenhut – und wenn sie an den eingetopften Bäumen vorbeigehen, die den Eingang zum Salone flankieren, zittern die Blätter vor Schreck.

Es wird viel getrunken und getanzt. Doch jetzt hat man die Stühle so aufgestellt, dass sie in Richtung der Bühne weisen. Der Sonnenblumenkönig wählt einen Sitz in einer hinteren Reihe. Er taumelt vor übermäßigem Champagner-Genuss. In jedem Arm hat er eine üppige Schönheit.

»Beginnen Sie mit Ihrer erstaunlichen Vorstellung, Signor Erbaccia«, ruft er laut. »Denn mein Essen wartet auf mich, und auch der Wein. Und danach – mein Bett!«

»Wie Eure Majestät befehlen«, sage ich mit einer Verbeugung. Mit wirbelndem Umhang vollbringe ich ein Wunder nach dem nächsten. Ich lasse Ranken wachsen und sich in der Luft zu Formen und Mustern biegen. Büschel von Schleierkraut und Lavendel erblühen auf mein Kommando hin.

Die Menge stößt bewundernde Rufe aus und applaudiert bei jeder neuen Attraktion. Sie halten es für einen Trick, aber einen guten. Sie haben ja keine Ahnung von dem Mirakel, das sich vor ihren Augen vollzieht.

Wie früher bei den Gauklern kommt die Nummer mit der Rose ganz zum Schluss. Ich zeige etwa ein Dutzend fest geschlossene Knospen an einem frisch geschnittenen Zweig und präsentiere sie einem Zuschauer, der in der Nähe der Bühne sitzt, einem kahlköpfigen Mann, der in ein Kostüm aus Kiefernzapfen gewandet ist.

Er betrachtet jede einzelne Knospe durch sein Monokel. »Sie sind echt, vollkommen echt«, verkündet er der Menge.

Ich stelle den Rosenzweig in eine Vase. Dann verneige ich mich tief und spreche meine Bitte aus. Langsam, eine nach der anderen, öffnen sich die Blüten der Rose.

Der Applaus ist lang und herzlich. Ich nehme die voll erblühte Rose aus der Vase und lege sie in meinen Arm. Aus Gewohnheit – oder ist auch Hoffnung im Spiel? – blicke ich mich suchend in der Menge um, ob ich ein Mädchen entdecke, das Jessamine ähnlich sieht.

Wie so oft zuvor fällt mein Auge auf ein hübsches, von blonden Locken umrahmtes Gesicht nach dem andern. Von jedem gleitet mein Blick enttäuscht ab.

Bis …

Da …

Da ist sie.

Jessamine. Eisblaue Augen starren mich aus einer purpurroten Maske an.

Ihr Haar ist so schwarz wie der Mantel eines Totengräbers. Ihre zarten, leicht geröteten Wangen stechen scharf in ihrem Gesicht hervor, das so bleich ist wie Marmor. Die blutroten Lippen ihres Mundes sind starr vor Schock.

Ohne die Maske hätte ich sie vermutlich nicht erkannt. Aber sie umrahmt ihre Augen, so dass ich sie losgelöst von dem Rest ihres Körpers sehe. Es sind Jessamines Augen. Ich würde sie überall wiedererkennen.

Und diese Augen starren mich an. Ein Starren voller Entsetzen.

Die Finger des Königs spielen mit der nackten Haut auf ihrem Hals. Ich selbst habe diese Stelle schon geküsst, jene Höhlung unterhalb der Kehle.

Ihr roter Mund formt ein Wort: Weed …

◆◆◆

Weed … lieber Gott … es ist Weed.

Eben verbeugt er sich und lässt seinen Blick durch den Saal schweifen. Einen Augenblick lang scheint er auf meinem Gesicht zu verharren. Aber er gibt mir kein Zeichen des Wiedererkennens; sein Ausdruck verändert sich nicht. Galant reicht er die Rose einer jungen Frau in der Nähe der Bühne, die vor Entzücken aufjuchzt. Dann verbeugt er sich und geht ab.

Ich weiß, dass nur er es gewesen sein kann; wie hätte ich ihn auch nicht erkennen sollen? In dem Augenblick, in dem er die Bühne betrat, hat mich jede Bewegung seines eleganten Körpers in Bann gezogen, seine zerzausten dunklen Locken, die blitzenden smaragdgrünen Augen.

Nur die Haltung ist neu. Früher war er nicht an menschliche Gesellschaft gewöhnt und hatte für jedermann nur Argwohn übrig. Jetzt hat er offensichtlich seinen Platz in der Welt gefunden. Seine Grazie und seine ruhige Selbstsicherheit würden jeder Frau den Atem stocken lassen.

Er kann mich nicht erkannt haben – ich bete, dass es so ist. Nicht nur, dass ich kostümiert und maskiert bin – alles an mir ist anders, innerlich wie äußerlich. Dass Weed mich so sieht, mit knallrot bemalten Lippen und einem hautengen, durchsichtigen Kleid, eingerieben mit einem Gift, das den König dazu bringt, mich unentwegt zu betatschen wie ein betrunkener Matrose – das ist beinah mehr als ich ertragen kann. Ich kann nur hoffen, dass er nicht bemerkt hat, wer hinter der Maskerade steckt.

Kann ich fliehen? Doch in diesem Moment ertönt die Glocke zum Diner. Die Gäste nehmen ihre Plätze an der langen Bankett-Tafel ein und stehen geduldig neben ihren Stühlen, bis der König geruht zu erscheinen

Der König – mein König, den ich umbringen muss. Wie kann ich eine solche Schandtat vor den Augen von Weed begehen? Sein Anblick erweckt Gefühle in mir, die ich schon lange tot und begraben glaubte. Liebe. Hoffnung. Das Wissen um Gut und Böse. All diese Dinge kämpfen sich ihren Weg durch den Drogenmantel, den ich seit Monaten wie eine zweite Haut um mich gelegt habe, bis zu meinem Bewusstsein.

Weed – ich könnte seinen Namen laut hinaufschreien, nicht nur zu den gemalten Sternen auf der Decke des Saals, sondern zu den wirklichen Sternen im Himmel darüber. Ich würde seinen Namen in einen Freudengesang verwandeln – aber wer würde ihn singen? Jessamine oder Belladonna? Eine Mörderin, eine Assassine? Eine verdammte Seele, die im ewigen Höllenfeuer schmoren wird? Oder ein gefallenes, geschändetes Mädchen, für das es vielleicht noch einen Schimmer Hoffnung gibt?

An allen Ausgängen stehen die Mitglieder der Skorpione Wache. Alle anderen Männer hier im Saal könnte ich umgarnen, um zu fliehen, aber diese nicht. Sie kennen meine berauschenden Tricks, und sie lassen mich nicht aus den Augen. Wenn ich versuche zu fliehen, werden sie mich in Ketten legen.

Es gibt keinen Ausweg.

Die Glocke erklingt ein zweites Mal. Ich schaue mich noch einmal um. Weed kann ich nicht entdecken. Wenn er mich nicht erkannt und die Gesellschaft verlassen hat, dann ist dies die größte – und letzte – Gnade, die mir zuteil wurde. Jetzt muss ich mich meinem Schicksal stellen.

Hoffentlich geht es schnell, flehe ich – doch welcher Gott mag wohl die Gebete einer Mörderin erhören? Für den König und für mich.

Die Sonnenblumenschleppe hinter sich herziehend, schreitet der König zu dem vergoldeten Stuhl am Kopfende der Tafel. Er setzt sich, und die anderen Gäste folgen seinem Beispiel.

Ein Priester spricht den Segen, und dann fangen die Höflinge an, den König mit Worten zu umschmeicheln. Schließlich erhebt sich der Mann, den ich als Eisenhut kenne; er scheint ein hochrangiges Mitglied des Hofes zu sein. Er klopft gegen sein Glas und wartet, bis sich Stille über die Gesellschaft gesenkt hat.

»Und jetzt«, spricht er mit falscher Ehrfurcht, »werden wir, wie es Brauch ist, das Fest zu Ehren des Heiligen Martin mit einer Flasche des diesjährigen neuen Weins eröffnen.«

Die Flasche, die herbeigebracht wird, wird mit Jubelrufen begrüßt. Auf dem Etikett steht nichts geschrieben; stattdessen ist das Bild eines Blumenstraußes zu sehen – lange, ledrige Blätter mit trichterförmigen weißen Blüten, genau die gleichen wie in meinem Haar.

»Einige behaupten, der neue Wein sei nie so gut wie der alte«, fährt der Verräter fort. »Aber das ist nicht immer so. Manchmal ist die Abkehr vom Alten etwas Gutes. Veränderung liegt in der Natur der Dinge, wie der Wandel der Jahreszeiten. Man muss sie nicht fürchten.«

»Du sprichst wie ein Revolutionär, Charles!«, ruft jemand. Einige Anwesende lachen unbehaglich.

»Und du wie ein Aristokrat«, erwidert der Angesprochene. »Aber lasst uns heute nicht über Politik reden. Morgen fasten wir, und heute feiern wir!«

»Hört, hört!«

»Öffnet die neuen Flaschen und leert die alten aus!«

Während ich meinen Platz rechts von dem König einnehme, gehe ich so nah wie möglich an den Männern vorbei, die ihn begleiten. Der Nebel des Verlangens wird jeglichen Verdacht von mir ablenken, zumindest für kurze Zeit.

Lange genug.

Der König wendet sich zu mir. In seinen Augen liegt heiße Gier und er bietet mir sein Glas dar: »Schenk ein, Mädchen. Aus deinen Händen wird der Wein umso süßer schmecken.«

Meine Finger streifen die des Königs, als ich ihm das Weinglas aus der Hand nehme. »Eine letzte Blüte für Eure Majestät«, sage ich. Mit einem neckischen Lächeln greife ich mir ins Haar und pflücke die tödliche Blume, die dort wartet.

Plötzlich fällt ein Schauer schneeweißer Lilienblüten aus der Girlande über uns. Die Blüten landen zu Füßen eines jungen Mannes, der in schwarze Seide gekleidet ist und in eine smaragdgrüne Weste, von der gleichen Farbe wie seine Augen.

Es ist Weed. Er hat seinen blühenden Umhang abgelegt und steht keine zehn Schritte von mir entfernt. Seine Augen ruhen nicht auf mir, sondern auf dem Weinglas in meiner Hand.

Weed! Wie konnte ich die Süße des Lebens vergessen? Die Güte? Die Liebe?

Zu spät, Liebchen.

Die tödliche Oleanderblüte liegt in meiner gewölbten Hand.

Es ist viel zu spät, um umzukehren.

Der König betrachtet mich mit hungrigen Augen.

Lächelnd lasse ich die Blüte in den Wein fallen. Langsam schwenke ich das Glas, so dass die Flüssigkeit darin sanft verwirbelt wird.

Und dann trinke ich das Glas aus.