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Ich musste mich konzentrieren. Ganz bestimmt spielten mir die verdammten Nerven einen Streich, denn das konnte nie und nimmer Lilou gewesen sein. Lilou von Straubing. Meine Erzfeindin. Das Mädchen, das ich besiegt – und aller Voraussicht nach getötet hatte.

Es kam mir so vor, als sei die Welt in Schieflage geraten. Alles erschien plötzlich unwirklich und in der Schwebe, mit heller lodernden Fackeln und dunkleren Korridoren als zuvor. Ich drehte mich noch einmal um. Mein Herz klopfte zum Zerspringen.

Aber die Lilou-Doppelgängerin entfernte sich rasch. Wie ein Schatten folgte sie einem schlanken, hoch aufgeschossenen, geheimnisvoll verhüllten Vampir. Dann verschwanden beide um eine Ecke.

Bildete ich mir nur ein, dass sie nach unserer Begegnung ihre Schritte beschleunigt hatte? Dass sie erschrocken gewirkt hatte? Spielte mir mein Verstand einen Streich, oder hatte sie mir einen letzten verstohlenen Blick zugeworfen? Ich würde sie überall erkennen – ihr rotbraunes Haar und das Schnippen ihres Feuerzeugs geisterten immer noch durch meine Albträume.

Aber Lilou konnte es nicht sein. Zum einen war ich sicher, dass ich sie getötet hatte; zum anderen erschien mir dieses Mädchen aus den Küchengewölben viel zu unterwürfig für die Von-und-zu-Schnepfe. Entweder war meine Phantasie von all dem Stress überreizt, oder es lag ein böser Vampirzauber in der Luft, der meine größten Befürchtungen Wirklichkeit werden ließ. Denn dass Lilou noch lebte, war unvorstellbar. Unmöglich.

Undenkbar.

Wie auch immer, ich war erschüttert. Ich hätte jetzt auf gar keinen Fall nach oben gehen und einigermaßen gefasst den Cognac servieren können.

Nach oben. Der Gedanke durchzuckte mich wie ein Blitz und holte mich in die Gegenwart zurück.

McCloud sollte beseitigt werden … und zwar bald. Das sollte jetzt meine einzige Sorge sein. Ich musste McCloud finden und meinen Auftrag erfüllen, bevor mich die nächste Halluzination aus der Bahn warf.

Ronan sollte sehen, dass er unrecht hatte. Ich würde die Mission nicht nur überleben, sondern auch erfolgreich zu Ende führen. Ich würde McCloud aufspüren und seinen Aufenthaltsort Alcántara mitteilen, der mir jetzt all den Trost eines alten, vertrauenswürdigen Freundes zu bieten schien. Und danach würde ich für immer verschwinden, und Ronan würde den Tag bereuen, an dem er meine Fähigkeiten angezweifelt hatte.

Eine der Aufseherinnen wuselte vorbei. Ich schlug die Augen nieder, beschleunigte meine Schritte und tat sehr geschäftig. Dabei fiel mein Blick auf meine Schürze. Sie war weiß, im Gegensatz zu den schwarzen Schürzen der Frauen, die in Küche, Keller und Wohngemächern das Kommando führten. Das brachte mich auf eine Idee.

Ich huschte in die Küche und von dort in die kleine Spülkammer, wo sich das schmutzige Geschirr stapelte. »Ingrid braucht dich«, erklärte ich der Spülmagd in Althochdeutsch, aufs Geratewohl einen Namen benutzend, den ich im Vorbeigehen gehört hatte.

Offenbar hatte ich eine gute Wahl getroffen, denn das Mädchen lief hastig nach draußen. Ich räumte rasch die Gläser vom Tablett und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen. Ein Korb in der Ecke enthielt einen Berg schmutziger Tücher – und obenauf lag eine zerknüllte schwarze Schürze.

Ich riss mir die saubere weiße Schürze herunter, stopfte sie zusammen mit dem weißen Häubchen unter die Schmutzwäsche und zog den mit Hühnerbrühe verkleckerten schwarzen Ersatz an. Dann strich ich meinen Knoten glatt, stellte sieben Cognac-Schwenker auf mein Tablett und trat entschlossen in den Gang hinaus.

Eben noch war ich ein unterwürfiges, Englisch sprechendes Serviermädchen gewesen. Aber jetzt, in meiner schwarzen Schürze, war ich eine herrische Küchenmamsell, die das niedere Dienstvolk umherscheuchte.

Ich hielt die erstbeste junge Magd auf, die mir über den Weg lief, und drückte ihr das Tablett in die Hände. »Geh nach oben und bediene!«, befahl ich in einem schroffen, aber makellosen Deutsch. »Sag ihnen, das andere Schankmädchen sei indisponiert.« Ihre erschrockenen Augen verrieten mir, dass sie genau wusste, wer da oben war. »Sie haben nach Cognac verlangt. Gib acht, dass du nichts verschüttest!«

Sie rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Hände zitterten so stark, dass die Gläser auf dem Tablett leise klirrten.

»Schnell!«, fuhr ich sie an. Ein wenig genoss ich das Theater, das ich ihr vorspielte.

Meine Gedanken überschlugen sich, als ich weiterstürmte. Wie sollte ich die Verliese finden?

Ich kam an einer anderen Frau in einer schwarzen Schürze vorbei. Sie wirkte gesetzt wie die meisten Bediensteten in verantwortungsvoller Stellung, und ich befürchtete, dass ich zu jung für meine Rolle aussah. Und tatsächlich verlangsamte sie ihre Schritte.

Ehe sie etwas sagen konnte, stieß ich hervor: »Nicht jetzt. Es gibt Probleme mit dem Gefangenen.« Wieder benutzte ich Althochdeutsch.

Die Strenge wich aus ihren Zügen. Offensichtlich akzeptierte sie mich als ebenbürtig. Und sie spürte meine Eile, denn sie wies mit dem Kinn den Korridor entlang, zu einer dunklen Lücke im Mauerwerk. Vermutlich wieder ein Treppenschacht – und diesmal führte er wohl in die Tiefe.

»Karl hat die Schlüssel«, sagte sie, ebenfalls in Deutsch.

Ich nickte ihr diensteifrig zu. Karl würde mein Steakmesser zu spüren bekommen.

Diese Wendeltreppe war dunkler. Feuchter Moder und faulige Dämpfe stiegen mir entgegen. Ich blieb kurz stehen, schürzte zum zweiten Mal an diesem Tag mein Kleid und holte das Messer hervor. Mit gerafften Röcken tastete ich mich von Stufe zu Stufe.

Karl war vermutlich der Wachtposten, und ich betete, dass mich ein Vampir-Anwärter oder, noch besser, ein ganz normaler Diener erwartete. Der Gedanke, es mit einem ausgewachsenen Vampir aufnehmen zu müssen, erfüllte mich mit Sorge.

Zellen säumten den Kellergang, die meisten leer, einige jedoch nicht. Ihre Insassen wirkten reglos, dem Tod nahe. Ich bewegte mich so leicht und leise wie möglich an den Gittern vorbei und wiederholte dazu mein Mantra: Ich bin Wasser, das fließt. Ich bin Wächterin. Ich hielt auf das Gemurmel am Ende des Korridors zu. Eine einsame Fackel knisterte in ihrer Wandhalterung.

Die Ratten hörten mich lange vor dem Wachtposten und kündigten meine Ankunft mit einem aufgeregten Fiepen und Trippeln an.

»Wasss issst –?«, zischte eine Stimme in hartem Deutsch durch das Dunkel.

Ich ging schneller. Am Ende des Korridors tauchte ein verschwommenes Gesicht hinter Gitterstäben auf, aber mir blieb keine Zeit zum Nachdenken. Der Wachtposten hatte sich umgedreht und mich entdeckt. Er kam auf mich zu.

Scheiße. Natürlich war es ein erwachsener Vampir.

Keine Zeit zum Nachdenken. Ich bohrte die Zehen in den Sandboden und blieb unvermittelt stehen. Dann balancierte ich das Messer in meiner Rechten, bis ich seinen Schwerpunkt knapp unterhalb der Mitte gefunden hatte. Ich stellte mir das pochende Herz des Vampirs vor – wenn das Herz eines Vampirs überhaupt pochte – und schleuderte die Klinge locker aus dem Handgelenk.

Das Adrenalin, das gespenstische Gesicht am Ende des Korridors, der Vampir, der auf mich losgestürmt kam – das alles bündelte meine Energie. Es gab nur noch mich und das Ziel, einen hellen, scharf umrissenen Fleck, der das Herz des Vampirs darstellte. Wie Eisen, das von einem Magneten angezogen wurde, überbrückte das Messer den Abstand, schlug in seine linke Brustseite und blieb stecken.

Er wankte und brach zusammen. Meine Konzentration erlosch, und einen Moment lang stand ich verwirrt da, brutal zurück in die Wirklichkeit gestoßen. Meine rechte Seite schmerzte wie verrückt … Ich konnte nicht durchatmen … Vielleicht gab es noch mehr Wachtposten … Das Messer war meine einzige Waffe.

Und … der Gefangene am Ende des Korridors starrte mich unverwandt an.