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»Endlich.« Ein Wadenkrampf hatte mich gepackt, und ich schüttelte den Unterschenkel aus, während ich mich abmühte, Emma einzuholen. Meine Prellungen und Blutergüsse waren fast verheilt, aber gelegentlich hatte ich noch Probleme mit den Muskeln.

»Endlich was?« Emma blieb stehen und wartete auf mich, als sie sah, dass ich humpelte.

»Endlich sind wir mal unter uns. Sonst klebt ihr ja wie siamesische Zwillinge aneinander, du und Yas.« Ich rieb mir im Gehen das Hinterteil.

»Was ist los mit dir?«

»Mir tut alles weh«, knurrte ich. »Sucher Otto leistet ganze Arbeit.«

Sie hielt mir die Tür zum Wohntrakt auf und verlangsamte ihre Schritte. Als wir die Treppe zu unseren Zimmern im zweiten Stockwerk hinaufgingen, musterte sie mich aufmerksam und schob mir schließlich die Haare aus dem Gesicht. »Der blaue Fleck sieht aber gar nicht gut aus.«

Ich zuckte zurück. »Leider bist du nicht die Erste, die ihn bemerkt.«

Sie warf mir einen fragenden Blick zu, während sie vor ihrer Zimmertür stehen blieb und in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte.

Ich lehnte mich mit einem Seufzer an die Wand des Korridors. »Alcántara. Allem Anschein nach törnt ihn das viele Blut unter der Haut mächtig an.«

»Igitt.« Sie schnitt eine Grimasse. »Das wollte ich gar nicht so genau wissen.« Sie schob die Tür auf und trat über die Schwelle, wohl in der Annahme, dass ich ihr folgen würde.

Ich blieb draußen stehen. Noch hatten ihr die Eingeweihten keine Abreibung verpasst. Daran musste ich seit meiner näheren Bekanntschaft mit den Saran-Folien ständig denken.

»Komm rein, bevor uns jemand sieht«, sagte sie in ihrem trägen Singsang.

»Lieber nicht.« Ich packte sie am Arm und zerrte sie wieder in den Korridor. »Es ist sicherer, wenn du mit in den Aufenthaltsraum kommst.«

Sie zögerte. »Aber –«

»Aber die Guidons? Wir können uns nicht verstecken, Em. Du kannst dich nicht verstecken. Du bist als Nächste dran, und je eher du die Sache hinter dich bringst, desto besser.« Ich ließ mich auf eine Couch fallen, ein herrlich bequemes, mit burgunderrotem Rippsamt bezogenes Sitzmöbel. »Wir müssen ihnen zeigen, dass wir keine Angst vor ihnen haben.«

»Wir?« Sie bedachte mich mit einem zaghaften Lächeln.

»Natürlich wir.« Ich beschloss, meine Instinkte und Alcántaras Warnungen zu missachten – die Freundschaften, die sich hier angebahnt hatten, bedeuteten mir zu viel. »Wir stecken gemeinsam in dieser Klemme, korrekt?«

»Korrekt.« Sie nickte, und obwohl ihr Gesichtsausdruck Unsicherheit verriet, klang ihre Stimme ruhig und ein wenig phlegmatisch wie immer. Sie nahm neben mir auf der Couch Platz. »Also … Alcántara?«

»Yeah. Der Typ steht auf blaue Flecken.«

Obwohl wir völlig allein waren, schaute sie sich vorsichtig um, bevor sie antwortete. »Aber das ist doch ekelhaft.«

»Wem sagst du das?« Ich beugte mich näher zu ihrem Ohr. »Aber es kommt noch abartiger.«

Sie sah mich ausdruckslos an. »Habe ich mir fast gedacht.« Sie machte eine kleine Pause. »Ja – und?«

Ich wand mich ein wenig, weil ich nicht recht wusste, wie ich ihr mein Verhalten erklären sollte. »Ich hatte Angst, dass er wegen dieser Folien-Sache sauer auf Josh sein könnte. Also wechselte ich das Thema – etwas zu dramatisch, fürchte ich.«

Ihre Augen verengten sich ein wenig. »Dramatisch? Inwiefern?«

»Okay, okay. Ich war in Panik.« Ich verteidigte mein Verhalten, noch bevor sie wusste, worum es ging. »Mit dramatisch meine ich – also, ich glaube, dass ich anfing, mit ihm zu flirten.«

»Du glaubst das?«

Ich ließ mich zurücksinken und zupfte an dem flauschigen Rippsamt herum. Ihre stoische Ruhe hatte manchmal etwas Anklagendes. »Na ja, allzu viel Übung habe ich in solchen Dingen nicht.«

»Hat er denn mitgemacht?«

»Ja.« Ich lachte verlegen. »Die Sache wäre um ein Haar aus dem Ruder gelaufen.« Ich wandte den Blick ab, wog meine Worte sorgfältig ab und gestand dann: »Ich glaube, er war im Begriff, mich zu küssen.«

Das scheuchte sie aus ihrer Trägheit auf. »Wolltest du denn, dass er dich küsst?«

»Keine Chance. Das … das denke ich zumindest.« Mein Geschwafel verriet, dass ich selbst nicht genau wusste, was ich wollte. Zum ersten Mal in meinem Leben begehrte mich ein Mann – und dann musste es ausgerechnet ein Untoter sein. Ich war ein echtes Glückskind. »Ich will meinen ersten Kuss nicht von einem Vampir bekommen.«

Sie beleuchtete das Problem eher nüchtern. »Ich frage mich, ob seine Lippen kalt sind.«

»Und seine Zunge … endkrass.« Wir schüttelten uns beide. »Möglich wäre das durchaus.«

Sie nickte ernst. »Vampire sind doch tot, oder?«

»Genau genommen schon.«

Das ließ uns eine Weile verstummen, bis Emma unerwartet losprustete.

Ich starrte sie verwundert an. »Was ist?«

»Ich muss immer an diesen Ball denken«, sagte sie mit einem Feixen, das völlig untypisch für sie war. »Vielleicht bittet er dich ja, mit ihm da hinzugehen.«

»Der Ball.« Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. »Erinnere mich bloß nicht daran. Meinst du, die geben Abendkleider aus? Quasi eine Art Ausgehuniform?«

»Schwarz und bodenlang.«

»Genau. Im Stil von Morticia.« Ich kicherte jetzt ebenfalls. »Und schwarze Umhänge mit superhohen Samtkrägen. Damit könnten wir rumhopsen wie Frankensteins Bräute.«

»Wie ich höre, hast du sogar schon ein paar sehr elegante Schritte gelernt.«

»Du klingst wie –« Ich erstarrte und rammte ihr dann den Ellenbogen in die Rippen. »Das hat dir Yasuo erzählt.« Ich ließ mich tiefer in die Couch sinken und runzelte die Stirn. »Das ist doch das Allerletzte. Wahrscheinlich läuft er in diesem Moment quer durch die Botanik und macht mich mit seinen Berichten von diesem blöden Tanzkurs lächerlich.«

Eine Gruppe Eingeweihter kam lärmend in den Aufenthaltsraum und lenkte unsere Gedanken wieder auf die Probleme der Gegenwart. Emma warf mir einen nervösen Blick zu.

Ich setzte mich kerzengerade auf und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Denk daran – keine Angst zeigen!«, wisperte ich ihr zu. »Wir hängen hier einfach ab. Das steht uns ebenso zu wie ihnen.«

Sie breiteten sich auf der anderen Seite des Raumes aus und taten so, als wären wir nicht da. In ihren engen Overalls, die ihre straffen Muskeln voll zur Geltung brachten, lümmelten sie auf den Couches, Armlehnen und Kanten von Beistelltischen herum. Ihre lautstarke Unterhaltung übertönte unsere Stimmen.

Emma sah mich flehend an. »Können wir nicht auf unsere Zimmer gehen und dort weiterreden? Was ist, wenn Masha auftaucht?«

»Mit Masha werde ich locker fertig.« Das klang ein wenig angeberisch, aber ich wusste, dass ich recht hatte. »Hör zu, Em. Wir dürfen jetzt nicht klein beigeben. Diese Mädels wittern Angst. Wenn wir vor ihnen die Flucht ergreifen, löst das nur so was wie einen Jagdinstinkt bei ihnen aus.«

Ich spürte, dass mich jemand anstarrte, und drehte mich um. Trinity war am Ende des Korridors aufgetaucht. Sie verschränkte die Arme, als sie uns bemerkte, und kräuselte verächtlich die Lippen, ehe sie sich zu ihren Freundinnen gesellte.

Ihr Blick ließ uns keine Sekunde lang los. Sie nahm in einem der Sessel Platz, die Beine überkreuzt, die Hände um die Lehnen gekrallt. Dann zog sie langsam eine lange, dünne Stahlklinge aus dem Stiefel, die wie eine Kreuzung aus Feile und Dolch aussah. Den Kopf ein wenig schräg gelegt, stach sie mit dem Ding mechanisch auf die Armlehne ein, immer und immer wieder. Sie ließ es wie eine Spielerei aussehen, aber wir erkannten die an uns gerichtete Drohung.

Ich spürte die Panik, die in Emma aufstieg. Um ihre Anspannung ein wenig zu lockern, zischte ich ihr aus dem Mundwinkel zu: »Gefallen ihr die Möbel nicht?«

Emma begann ihre Sachen zusammenzupacken. »Im Ernst – lass uns einfach von hier verschwinden!«

Ich hatte eine Hand beruhigend auf ihren Arm gelegt. »Wenn wir jetzt gehen, legen sie uns das als Schwäche aus. Wir müssen bleiben. Komm, zieh dein Messer!«

»Mein was?«

»Dein Messer. Du weißt schon, dieses imposante Jagdmesser, das du immer mit dir rumschleppst.« Es war riesig, mit brutal gezackter Klinge, und das letzte Mal hatte sie es gezogen, um mich aus der tödlichen Umklammerung eines Draug zu retten. Ich lächelte ihr zu. »Mit dem Ding hast du schon schlimmere Gegner erledigt.«

Eine steile Falte bildete sich auf ihrer Stirn, aber dann nickte sie kurz und kam meiner Aufforderung nach.

»Jetzt mach irgendwas damit.«

»Was denn?«

»Irgendwas eben«, wiederholte ich.

Sie starrte die abgewetzten Polster der Couch an, als könnten die ihr die Antwort liefern. »Zum Beispiel?«

»Keine Ahnung. Wie wäre es mit Fingernägel säubern?«

Das Stimmengewirr im Raum war etwas leiser geworden. Ich merkte, dass einige der Eingeweihten zu uns herüberschauten.

Emma bewegte lautlos die Lippen. Fingernägel säubern?

Meine Freundin vertraute mir – das musste ich ihr lassen. Und das gefiel mir an ihr. Ich nickte ihr aufmunternd zu, und sie begann tatsächlich ihre Nägel zu säubern. Ich weiß nicht, wie sie das schaffte, ohne sich zu schneiden. Es war wirklich eine hässliche Klinge, mit der man eher ein Wildschwein häuten als eine Maniküre improvisieren konnte.

Trinitys Stimme drang laut und deutlich durch den Aufenthaltsraum. Man konnte hören, dass sie wütend war. »Hast du vergessen, wo du dich befindest?«

Ich sah sie mit Unschuldsmiene an. »Seit wann ist Nägelsäubern verboten?«

Eine der Eingeweihten wollte sich erheben, aber Trinity stoppte sie mit einem kurzen Blick. Dann sah sie wieder mich an und rammte ihre Waffe tief in die Sessellehne. »Nimm dich in Acht, Acari! Du kannst damit rechnen, dass wir in Kürze vollenden werden, was wir begonnen haben.«

In den Händen der übrigen Guidons erschienen jetzt ebenfalls Waffen – vor allem Messer, aber daneben auch ein paar abartige Dinge. Ein nadeldünnes Stilett etwa. Ein Schlagring. Ein Mädchen holte eine Art Blasrohr aus dem Ärmel; ich nahm mir vor, in Zukunft einen weiten Bogen um sie zu machen.

Ich wusste nicht, woher meine Courage – oder meine Dummheit – kam. Ich wusste nur, dass ich mich bereits mehrfach – und beinahe mit Erfolg – gegen die Guidons zur Wehr gesetzt hatte. Vampire schienen glühende Verfechter der Lehre vom Überleben der Tüchtigsten zu sein.

»Leere Versprechen.« Ich brachte meine Hand näher an die Wurfsterne heran, die ich im Stiefelschaft befestigt hatte.

Trinity gefiel meine Unverfrorenheit gar nicht. Ich sah, wie sich ihre Porzellanwangen röteten, aber ihre Stimme blieb kalt und ruhig. »Vielleicht ziehen wir dich das nächste Mal splitternackt aus – falls dein Anblick im BH die Jungs nicht für immer abgeschreckt hat.«

Die anderen Mädchen kicherten.

»Du bleibst im Ernst auf dieser albernen Schiene?« Ich straffte die Schultern und setzte mich sehr gerade hin. So flach wie ein Brett war ich nun auch wieder nicht. »Zumindest gehöre ich nicht zu diesen armseligen reichen Connecticut-Zicken mit dem Hirn eines Troglodyten und der Bosheit einer Xanthippe.« Ich sah Emma an. »Wenn John Cheever Horrorgeschichten geschrieben hätte, kämst du garantiert darin vor.«

»Hey, was soll das?« Trinity war aufgesprungen. »Diesen verfickten Scheiß versteht doch kein Mensch.«

Ich biss mir auf die Lippe, um nicht loszulachen. Ich hatte gewusst, dass Trinity nicht die Allerhellste war, aber jetzt lieferte sie selbst den Beweis, wie dämlich sie sein konnte.

Jemand ließ sich auf die Armlehne der Couch plumpsen. »Keine Gossensprache, Schätzchen.«

Trinity funkelte mich an, ohne Amanda zu beachten. »Ist doch voll egal«, fauchte sie.

Unsere Aufseherin ließ den Blick durch den Aufenthaltsraum schweifen und registrierte das ansehnliche Waffenarsenal. Die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen sagte mir, dass sie gecheckt hatte, was hier vorging. »Packt eure Spielsachen weg!«

Emma gehorchte, doch die älteren Mädchen sahen Amanda herausfordernd an.

Amanda versteifte sich. »Ich sagte Waffen runter!«

Eine nach der anderen verstaute, wenn auch zögernd, das scharf geschliffene Beiwerk.

»Geht doch.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit den Guidons zu. Ihre Haltung wirkte lässig, ihr Tonfall eher hart. »Ich soll den Abschluss-Semestern Bescheid geben. Nach Auskunft von Priti findet der Sportunterricht heute nicht in der Halle, sondern drüben in der Bucht statt. Irgendwas mit Kampftechniken bei mittlerer Entfernung vom Gegner. In der Brandung.«

Murrend zerstreute sich die Clique. Ich war froh, dass ich saß. Andernfalls hätten mich einige der Herzchen beim Hinausgehen garantiert angerempelt.

Amanda blieb und musterte mich mit einer Mischung aus Strenge und Anerkennung. »Acari Drew, du musst lernen, dich ein wenig zurückzunehmen.«

Ich nickte, auch wenn ich innerlich nicht mit ihr übereinstimmte. Inzwischen war ich nämlich fast sicher, dass all die Schikanen und Drohgebärden, ja selbst das Flirten, zu einem größeren Test gehörten.

Denn es gab nur eine Gruppe auf dieser Insel, die völlige Unterwerfung verlangen konnte. Und das waren nicht wir Mädchen.