Es fiel mir schwer, mich auf Alcántaras Worte zu konzentrieren – er sagte irgendetwas über die alten Griechen –, weil sich seine kühlen Finger um meine Hand geschlossen hatten.
Ich kämpfte gegen den Impuls an, eine Faust zu machen. Handverletzungen waren hartnäckig, da der Schorf, der die Wunden verschloss, bei jeder Bewegung aufriss. Und obwohl ich die Handflächen im Wohntrakt gesäubert hatte, waren sie zu meiner großen Verlegenheit schon wieder blutverschmiert.
Er fuhr mit einem Finger den tiefsten Schnitt entlang. Ein unheimliches, zugleich kaltes und warmes Kribbeln wanderte von meiner Wirbelsäule in den Nacken.
Wenn Alcántara meine Angst spürte, so ließ er sich nichts anmerken. Stattdessen redete er einfach weiter, sanft, einschläfernd, mit einem leichten spanischen Akzent. »… und Archimedes war der Größte von allen.«
Der größte Mathematiker, der größte Grieche, oder was? Ich versuchte mich an seinen Worten festzuklammern, um die Situation zu entspannen und dieses beunruhigende Kalt-Heiß-Gefühl auszuschalten, das inzwischen meinen ganzen Körper erfasst hatte. Ich nickte steif. »Ja, das war er. Seiner Zeit weit voraus.«
»Ich hätte ihn so gern kennengelernt.«
Ach du liebe Güte. Alcántara kam mir immer näher. Beugte den Kopf dicht über meine Hand, wie ein Hund, der an mir schnüffeln oder meine Finger ablecken wollte. Du liebe Güte.
Seine Lippen öffneten sich.
Bitte nicht, wimmerte eine Kleinmädchenstimme irgendwo in meinem Innern. Er würde meine Wunden doch nicht ablecken? Ich wollte die Hand wegziehen, aber die kühlen Finger des Vampirs spannten sich ganz leicht an.
»Kennst du seine Werke?« Sein Atem strömte heiß über die blutenden Risse. Hatte er etwa die Absicht, mich auszusaugen? Mein Magen verkrampfte sich.
Nein, das wird er nicht tun. Nein, das wird er nicht. Nein, das wird er nicht. Ich versuchte meine ganze Willenskraft einzusetzen, um seinen Mund von meiner aufgerissenen Haut fernzuhalten. Mein Herz klopfte laut, und meine Schläfen dröhnten.
Er hatte etwas gefragt – ich musste antworten. Mein Verstand schaltete in einen höheren Gang, denn dieser Mund kam immer näher. Verzweifelt durchforstete ich in meinem Gedächtnisspeicher die Rubrik »Wissenswertes aus der Antike«.
»Klar«, stieß ich lauter als beabsichtigt hervor. »Archimedes … äh. Gebt mir eine Stange … nein, gebt mir einen Hebel, der lang genug, und … und einen Angelpunkt, der stark genug ist, dann kann ich die Welt mit einer Hand bewegen. Das stammt doch von ihm, oder?«
Obwohl Alcántara den Kopf gesenkt hielt, konnte ich erkennen, wie sehr ihm das Zitat gefallen hatte, trotz – oder vielleicht gerade wegen – meines nervösen Gestammels. Er lachte leise, und ich spürte seine Atemstöße auf der Haut. »Ja, das stammt von ihm.«
»Aber er wurde von einem römischen Soldaten getötet.« Ich kratzte alles an Fakten zusammen, was mir noch einfiel. Bei dem Wort getötet zog ich instinktiv die Hand zurück, aber der Vampir ließ sie nicht los.
»Auch das ist richtig.« Alcántara zog meine Handlinien nach und verteilte auf der gesamten Innenfläche dünne Blutspuren. Seine Miene hellte sich auf, als er sich an die Legende erinnerte. »Angeblich lauteten die letzten Worte, die er an seinen Angreifer richtete: Störe meine Kreise nicht!« Er lachte, und auf meinen Armen bildete sich eine Gänsehaut. »Menschen können so herrlich banal sein.«
Ich versuchte mir vorzustellen, was er sonst noch über uns Menschen dachte. Herrlich banal … aber was für ein Genuss, sie zu zerfleischen! Banal … aber dieser herbe Moschus-Nachgeschmack. Denn ich zweifelte nicht daran, dass es allmählich ernst wurde für mich. Und dass die Strafe, die mich erwartete, hammermäßig ausfallen würde.
Aber noch ließ der Vampir meine Hand nicht los. Stattdessen fuhr sein kühler Finger erneut über meine Hand, mit mehr Druck diesmal, bis sich der Schnitt wieder öffnete und ich vor Schmerz zusammenzuckte. Er hielt den Finger ins Licht des Kaminfeuers. Blassrote Flecken waren darauf zu erkennen.
Ich beobachtete angewidert, wie er ihn langsam in den Mund schob und ableckte. Während der ganzen Prozedur war sein Blick unverwandt auf mich gerichtet.
Scheißescheißescheiße. Das hatte noch gefehlt. Er zog den Finger mit einem leisen Schmatzgeräusch aus dem Mund.
Noch ein Körperteil, das er kosten wollte? Hektisch stellte ich eine Liste all meiner offenen Wunden zusammen. Das brachte nichts. Ich brauchte irgendein Gesprächsthema.
»Und das Buch?«, stieß ich hervor. Selbst in meinen Ohren klang die Frage schrill vor Nervosität.
Ruhig. Ich musste mich höllisch zusammennehmen, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Ich meine, hieß es nicht, dass Blutgier Vampire total ausrasten ließ? Weiß Gott, was geschah, wenn sie auf den Geschmack kamen! Ich jedenfalls fühlte mich ganz bestimmt nicht dazu berufen, es herauszufinden.
Halte das Gespräch in Gang! Ich warf einen Blick auf das Buch. »Ich meine, was ist das für eine Schrift? Ein Original? Und um welchen Text geht es?« Ich gab mir Mühe, Eifer und Wissbegier zu bezeugen, aber wahrscheinlich klang ich nur hektisch und aufgeregt.
»Ach ja. Mein Buch.« Einen Moment lang war er abgelenkt und ließ meine Hand los. Eine Woge der Erleichterung erfasste mich. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. »Das Manuskript kam erst vor wenigen Jahrzehnten ans Licht. Es war eine aufregende Entdeckung in der Welt der Mathematik.« Er lächelte kokett. »Später kam es in einer Auktion zum Aufruf und wurde von einem anonymen Bieter erstanden.«
»Von Ihnen«, sagte ich unverblümt. Wenn ich nicht so in Panik gewesen wäre, hätte ich wohl mehr Ehrerbietung an den Tag gelegt, aber ich konnte nicht mehr klar denken, seit ich wusste, dass »Blut lecken« mehr sein konnte als eine etwas altmodische Floskel. Die Angst verlieh meinen Worten eine gedankenlose Lässigkeit. »Ihr Vampire scheint nicht gerade arm zu sein. Aber ihr hattet ja auch jede Menge Zeit zum Sparen, oder?«
Aber er schien mir meine Ungezwungenheit nicht zu verübeln. Ich schätze mal, dass es jeden alten Knaben ganz schön auflockerte, wenn er das Blut eines jungen Mädchens leckte. Er überlegte einen Augenblick und meinte dann nachdenklich: »Wir verfügen über einen gewissen Wohlstand, ja.«
An diesem Punkt ließ ich die Unterhaltung abreißen. Meine Kindheit hatte sich in einer Reihe von billigen Apartments in den schlichteren Gegenden von Florida abgespielt. Den Sprung zu einer Zweizimmerwohnung hatte ich damals als Luxus pur betrachtet.
Er hielt den Kopf schräg, als er merkte, in welche Richtung meine Gedanken drifteten. »Kleine Acari, ich gehe davon aus, dass der Begriff Wohlstand in deinem Sprachgebrauch eher selten vorkommt.«
O nein. Musste er wieder persönlich werden? »Allerdings«, entgegnete ich zögernd. »Wir sind nicht gerade im Geld geschwommen.«
»Es ist schon seltsam, welch großen Wert die Menschen auf Reichtum legen. Dabei gibt es weit wichtigere Dinge. Beispielsweise das Glück, bis in alle Ewigkeit zu leben …«
Als er diesmal lächelte, entblößte er zwei dolchscharfe Zähne, die mich daran erinnerten, dass er zwar untot war, ich dagegen bei der geringsten Provokation sehr, sehr tot sein würde.
Der Gedanke ließ mich verstummen.
»Aber wir sprachen über mein Buch.« Sein Tonfall war heiter, als habe er nicht soeben ein Paar gruseliger Fänge entblößt. »Das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt.« Er nahm das Buch auf und hielt es schräg ins Licht. »Sieh dir die Schrift an. Errätst du, was das ist?«
Erraten? Ich konnte das Zeug kaum lesen. Archimedes war ein Erfinder gewesen … Wahrscheinlich las Alcántara da die Bauanleitung für ein antikes Folterinstrument: Langsam die Schrauben festziehen, sobald sich die Daumen der Acari in der richtigen Position befinden. »N-nein.«
»Weißt du, was ein Palimpsest ist?«
Was zum Henker sollte diese Frage? »Ich … ja … Das ist ein Pergament, von dem der ursprüngliche Text abgeschabt wurde, damit man es erneut verwenden konnte. Man überschrieb die alten Sachen ganz einfach.«
Er neigte elegant den Kopf. »Kluges Mädchen. Natürlich wusstest du das.« Er blätterte weiter, und ich rümpfte die Nase, als aus den Seiten ein starker Modergeruch aufstieg. »Das war früher allgemein üblich, da das aus Tierhäuten oder auch Pflanzenfasern hergestellte Pergament zu kostbar war, um vergeudet zu werden.«
Ich nickte höflich, obwohl er mir absolut nichts Neues erzählte, und fragte mich, was er mit seinem kleinen Vortrag bezweckte. Denn dass er noch einen Trumpf im Ärmel hatte, sah ich an seiner selbstzufriedenen Miene und dem Leuchten in seinen Augen.
»Acari Drew, du bist wie dieses Palimpsest. Befreit von allem, was du einmal warst. Verändert, ja?«
Du sagst es. Aber war das schlimm? Da ich immer noch nicht wusste, worauf er abzielte, nickte ich nur vorsichtig.
»Wir erfinden dich neu. Überschreiben sozusagen dein früheres Ich.« Und dann strich er sacht über meine Schulter und den Arm entlang. Es war der Hauch einer Berührung, aber ich empfand ihn wie einen Kanonenschuss.
Ich biss die Zähne zusammen, presste die Knie aneinander und bohrte die Ellenbogen in die Seiten – um nur ja zu verhindern, dass mein Verstand die Herrschaft über den Körper verlor. Denn wenn mich nicht alles täuschte, versuchte Alcántara in diesem Moment, mich unter seine Kontrolle zu bringen.
»Dennoch werden Spuren deiner früheren Persönlichkeit zu erkennen sein. Das ist bei allen guten Wächterinnen der Fall.«
Ich fühlte mich verwirrt, weil ich nicht wusste, ob seine Worte nun als Kompliment oder als Tadel gemeint waren. Aber dann wanderte sein Blick über meinen Körper, bis ich mir total nackt vorkam und mich fragte, ob er mit seinen Ausführungen nicht etwas völlig anderes meinte.
»Dein Körper ist der gleiche geblieben – du bist kräftiger, ja, aber nicht größer als zuvor.« Eine seiner Hände legte sich schwer auf meine Schulter, die andere auf meinen Kopf.
Ich spürte den absurden – und erschreckenden – Drang, meinen Tränen freien Lauf zu lassen.
»Du bist wie diese alten Pergament-Handschriften immer noch als Original erkennbar. Zwar trägst du dein Haar jetzt kürzer – eine bedauerliche Folge dieses Wettbewerbs.« Er klang enttäuscht, als er mir sanft den Kopf tätschelte. Ich fühlte mich von dieser Geste nicht getröstet, sondern eher wie ein Schoßtier, dessen Stammbaum er überprüfte. »Aber glücklicherweise hat es seinen Glanz und das helle Blond behalten.«
Sein Zeigefinger glitt eine Strähne entlang, erreichte das weiche Fleisch über meiner linken Brust und tippte leicht darauf. Ich hielt den Atem an. Meine Welt bestand nur noch aus seiner Berührung und den Alarmglocken, die in meinem Kopf schrillten.
»Dein Herz ist in seinem Wesen unverändert … Ich höre es sprechen, wenn du mit deinesgleichen unterwegs bist. Und doch schlägt es gleichmäßiger, seit du auf Eyja næturinnar lebst. Du hast getötet und bist daran gewachsen.« Der Finger wanderte unmerklich tiefer und streifte meine Brust.
Als sei er im Begriff, mich richtig zu berühren.
»Dein Vater schaffte es nicht, das Herz aus dir herauszuprügeln. Ebenso wenig gelang es den Mädchen hier.« Er zog die Hand zurück, und während seine Augen schmal blieben, umspielte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel. »Wie es scheint, hatte nicht einmal ein Vampir Erfolg.«
Seine Worte durchdrangen meine Erstarrung. Ich holte tief Luft und atmete wieder.
»Aber nicht nur dein Herz ist unverändert geblieben«, setzte er seine Litanei fort, als sei er nicht eben im Begriff gewesen, mich zu begrapschen. »Das Gleiche gilt für Stirn, Augen, Nase, Mund …« Er kam näher und musterte mit einem missbilligenden Tsk meine Unterlippe. »Wie ich sehe, sind wir mit der Wundbehandlung noch nicht fertig.«
»Nein?« Meine Stimme kippte fast vor Nervosität.
Er hob die Hand, als wollte er den Riss berühren, doch dann stockte er und fragte: »Darf ich?«
Wie würde er reagieren, wenn ich Nein sagte?
»Ja.« Ich räusperte mich, um das Schwanken meiner Stimme zu überdecken.
Er zog mit seinem kalten Daumen den Rand meiner Unterlippe nach. »Locker lassen.«
In meiner Panik riss ich den Mund auf wie beim Zahnarzt.
Er lachte leise, und wieder lief mir ein Schauer über den Rücken. »Nicht so weit, querida. Es reicht, wenn du die Lippen ein wenig öffnest.«
Ich kam seiner Anweisung nach. Und irgendwie hatte ich ein extrem mulmiges Gefühl, als ich so mit leicht geöffneten Lippen vor ihm saß. Ich sehnte mich nach meinem ersten Kuss, aber es sollte der richtige Ort und Zeitpunkt sein. Und der richtige Mann. Nicht Alcántara.
»Der Riss geht nicht tief«, stellte er fest. »Er verheilt bestimmt schnell.« Seine Stimme klang leise und ein wenig rau. »Glaub mir, ich habe Erfahrung mit Hautverletzungen.« Er entblößte vorsichtig seine Fänge.
Ich war wie gelähmt, aber diesmal betrachtete ich sie genau. Sie waren lang und spitz – viel spitzer als etwa die Zähne von Wölfen oder gar Haien. Ich dachte an Yasuos armselige Fänge und überlegte, wie lange es wohl dauern mochte, bis sie zu solchen Prachtexemplaren herangewachsen waren. Bei Alcántara hatten sie sich über viele Generationen hinweg entwickelt.
Wahrscheinlich verletzte er sich selbst ständig mit den Dingern. Meine Gedanken schlugen einen gefährlichen Weg ein: Wie mochte es sein, wenn ein Mädchen einen Vampir küsste?
Was hatte ich bloß dauernd mit dem Küssen? Alcántara saß dicht neben mir und überschüttete mich mit Schmeicheleien. Meine Augen richteten sich erneut auf seinen Mund. Er hatte volle Lippen und zwei winzige Kerben an der Unterlippe, die sehr sexy wirkten. Ich schaute auf und begegnete seinem Blick. Er lächelte. Verdammt. Hatte er mir diese Ideen eingeflüstert? War ich doch nicht immun gegen Gedankenkontrolle? Aber ich dachte doch nicht ernsthaft daran, Alcántara zu küssen! Oder?
»Die Haut weist zwei kleine Löcher auf«, sagte er. »Aber das heilt immer zu.«
Zum Beweis seiner Worte biss er sich leicht auf die Unterlippe, und sofort zeigte sich ein winziger Blutstropfen. Er leckte ihn mit der Zungenspitze ab und bedachte mich mit einem trägen Lächeln, das etwas leicht Obszönes an sich hatte.
Nein. Das mit dem Küssen konnte ich heute vergessen.
»Willst du meinen Beistand, Acari?«
»Beistand?« Das Sprechen fiel mir schwer.
Sein Blick war jetzt unverwandt auf meinen Mund gerichtet.
Ich spürte meinen Körper intensiver denn je. Meine Haut glühte. Die verletzte Unterlippe war ein wenig geschwollen. Sie hatte zu bluten aufgehört, aber der Riss fühlte sich rau und wund an. Was genau meinte Alcántara mit Beistand? Ich musste unbedingt verhindern, dass er mir zu nahe kam.
Ich sah ihn in meiner Panik wohl reichlich bescheuert an, denn unvermittelt lachte er laut los. »Mein kleines Unschuldslamm, ich hatte nicht die Absicht, dich zu erschrecken. Ich wollte dir nur einen Rat geben: Wenn du bei deiner nächsten Mahlzeit Blut trinkst, reibe es in die Schnitte und Risse. Sie werden dann sehr rasch heilen. Fahre mit der Zunge die Wunde entlang. So –« Er leckte sich die Unterlippe auf eine Weise, die mich mehr als peinlich berührte.
Ein boshaftes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Vielleicht komme ich ja in den Speisesaal und passe auf, dass du alles richtig machst.«
»Nein danke, das schaffe ich schon.«
»Dann wäre dieser Punkt erledigt.« Zu meiner großen Erleichterung rückte Alcántara ein Stück von mir ab und nahm die elegante und zugleich lässige Haltung ein, die Vampire in Vollendung zu beherrschen schienen. »Was noch aussteht, ist deine Strafe.«
»Meine … oh.« Das hier war noch nicht meine Strafe gewesen? Ich spürte, wie das Blut aus meinen Wangen wich.
Er lachte. »Wie blass du plötzlich bist! Du denkst, dass dich jetzt eine Strafaufgabe erwartet? Oder eine Züchtigung?« Er durchbohrte mich mit Laserblicken. Hatte er etwas anderes als blanke Furcht erwartet?
Strafaufgaben und Prügel. Das passte. »Nun ja. Vermutlich soll mir wieder mal die Weisheit eingehämmert werden.« Ich setzte eine gelangweilte Miene auf, hatte aber nicht den Eindruck, dass er sich davon täuschen ließ.
Er lehnte sich entspannt zurück und lächelte. »Ich fürchte, unser guter Rektor erwartet etwas in dieser Art. Claude ist in mancher Hinsicht sehr altmodisch, obwohl er sich bemüht, fortschrittlich zu denken. So hält er meine Gewohnheiten für rückständig und mittelalterlich.«
»Aber Sie sind doch mittelalterlich.« Ich biss mir auf die Lippe, worauf der Riss sofort wieder zu brennen begann. Meine Worte waren unbedacht, und ich hoffte nur, dass er sich nicht gekränkt fühlte.
Aber Alcántara lachte entzückt. »In der Tat«, sagte er und nickte vor sich hin. »Ich bin das fleischgewordene Mittelalter.« Doch gleich darauf wurde er wieder ernst. »Nenne es, wie du magst, aber meine Philosophie lautet, dass hohe Kampfmoral eine Belohnung verdient. Brava Acari! Um ein Haar hättest du Guidon Masha besiegt. Ich versichere dir, dass sie diejenige sein wird, die eine strenge Strafe zu erwarten hat.«
Ich war perplex. Und dann erleichtert.
»Dann … habe ich richtig gehandelt? Und Masha … ich meine, Guidon Masha bekommt Probleme?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Gilt diese Sichtweise auch für Emma?« Ich hatte so sehr befürchtet, meine Freundin zu verlieren, dass ich bei der guten Nachricht sofort an sie dachte. Aber ich bereute die Frage, noch ehe ich sie richtig ausgesprochen hatte.
Seine Züge verhärteten sich. »Meine Geduld ist nicht endlos. Ich habe dir schon einmal erklärt, dass es keine Freundschaften auf dieser Insel gibt. Du bist deine einzige Freundin. Und Acari Emma muss lernen, ihre Kämpfe selbst auszutragen.«
Die Zurechtweisung ließ mich verstummen. Ich wollte keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf andere Acari lenken – und schon gar nicht auf Emma. Eine noch schärfere Beobachtung war das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
Ich senkte das Kinn und entdeckte, dass es mir gar nicht so schwerfiel, unterwürfig zu sprechen, wenn ich zu Tode verängstigt war. »Jawohl, Master Alcántara.«
Meine Antwort schien ihn zu besänftigen, denn er schlug locker ein Bein über das andere. »Allerdings habe ich etwas für dich, das einer Strafe sehr nahekommt. Zumindest könntest du es so empfinden.«
Ich versteifte mich. Also doch. Es wäre auch zu schön gewesen.
»Du erhältst Nachhilfe. In Deutsch.«
Aber ich beherrschte die deutsche Sprache fließend. Ich hatte den Faust und Kafkas Gesamtwerk in Deutsch gelesen. »Sie meinen, ich soll Nachhilfe in Deutsch geben.« Das war eine Feststellung, keine Frage.
»Nein«, entgegnete er betont geduldig und auf Deutsch. »Wir haben eine wichtige Aufgabe vor uns, und da, wo wir uns hinbegeben, nützt dir dein gegenwärtiges Wissen wenig.«
Das brachte mich erneut zum Schweigen. Er bezog sich auf unsere Mission, für die wir die Insel verlassen mussten. Ich brannte darauf, mehr darüber zu erfahren.
»Du musst dich mit der modernen Wirtschaftssprache ebenso vertraut machen wie mit den Regeln der gepflegten Konversation. Wann man Du verwendet und wann Sie. Wie man sich verabschiedet. Wie man bei Streitgesprächen vermittelt. Das sind die Dinge, die dich vor den Gefahren unserer Mission schützen werden.«
»Ich verstehe.« Und ich glaubte tatsächlich, dass ich verstand. Ich meine, er hatte Gefahren erwähnt, und das fand ich aufregend.
Aber bei genauerem Nachdenken packte mich das blanke Entsetzen und drehte mir den Magen um. Denn ich kannte auf dieser Insel nur einen Menschen, der perfekt Deutsch sprach: Sucher Otto. »Wer wird mich unterrichten?«, fragte ich und formulierte insgeheim bereits eine höfliche Ablehnung.
Nur dass er Sucher Otto mit keiner Silbe erwähnte. Es kam weit schlimmer.
»Einer der Vampir-Anwärter wird dich unterstützen. Dieser Australier. Joshua.«