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Ich sollte undercover arbeiten. Alcántaras Vertrauen machte mich so stolz, dass ich unbedingt mein Bestes geben wollte, und in dieser Woche bereitete ich mich härter denn je auf meine Aufgabe vor. Er forderte vertieftes Wissen in Tischkultur, und ich glänzte nicht nur im Unterricht, sondern spielte mich bei Dagursson wie eine dieser allwissenden TV-Kochtanten auf. Himmel, ich hätte einen Tisch notfalls einhändig und mit verbundenen Augen decken können … und wenn ich Alcántaras Warnungen über die bösen Vampire richtig deutete, dann konnte mir durchaus etwas ähnlich Abartiges blühen.

Genau sieben Tage vergingen, bis wir dieses Boot bestiegen. Sieben Tage, in denen ich lernte, einen ordentlichen Knicks zu machen, Wein einzuschenken, ohne etwas zu verschütten, und meine Haare zu einem straffen Knoten festzuzurren.

Während der ganzen Zeit war mir Ronan nur ein einziges Mal über den Weg gelaufen. »Annelise«, sagte er, als wir uns auf dem Hof begegneten, »du musst sehr vorsichtig sein.« Seine Stimme klang ernst, aber der Blick, den er mir zuwarf, war leer, bestenfalls eine Spur traurig. Glaubte er, dass ich mich in eine tödliche Gefahr begab, oder passte es ihm nur nicht, dass ich mit Alcántara loszog? Wie auch immer, Ronan war derjenige, der eine Freundin hatte – er hatte keinen Grund, traurig zu sein.

Aber dann kam mir blitzartig ein Gedanke: Wenn ich der Insel für immer den Rücken kehrte – und das hatte ich voll vor –, dann war das hier ein Abschied. Für immer. Ich würde ihn nie wiedersehen.

Ich versank in den grünen Tiefen seiner Augen und spürte, wie mich der Schmerz überwältigte. Das Loslassen war schwerer, als ich gedacht hatte. Ein Strudel von Empfindungen erfasste mich, und ich geriet in Panik, wie ein Mädchen, das von einer starken Unterströmung erfasst wurde und im aufgewühlten Meer ertrank.

Ich kämpfte mit einer betont unbekümmerten Antwort gegen meine Gefühle an. »Ich bin immer vorsichtig«, sagte ich lässig. Und als ich sah, dass er die Stirn runzelte, setzte ich noch eins obendrauf. »Auf meine Weise.«

»Gut – aber vergiss nicht, was ich dir eingeschärft habe.« Seine Stimme klang jetzt ebenfalls cool. »Erzähle niemandem von deinem unerlaubten Ausflug!«

Allein der Gedanke, dass er mir nicht vertraute, löste eine seltsame Mischung aus Bitterkeit und Verlegenheit in mir aus, und mein Anflug von Trauer verwandelte sich in Wut.

Noch schlimmer war meine Begegnung mit Amanda verlaufen. Sie wirkte so geistesabwesend, als ich sie im Speisesaal sah, dass ich mich fragte, weshalb ich mich überhaupt an ihren Tisch setzte. Ich wusste nicht, ob sich die beiden um mich Sorgen machten oder ob sie sich selbst zu schützen versuchten.

So viel zu unserer vermeintlichen Freundschaft.

Ärger und gekränkter Stolz ließen mich daher schärfer antworten, als ich es beabsichtigt hatte. »Du meinst, ich soll niemandem erzählen, dass ich dir zu einem verbotenen Teil der Insel gefolgt bin?«

Er zögerte und nickte dann knapp. »Solange du schweigst, bist du nicht in Gefahr.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Soll das eine Drohung sein?«

»Du lieber Himmel, Mädchen! Natürlich ist das keine Drohung.«

»Nun, ich werde euer blödes Geheimnis nicht ausplaudern. Weder die Sache mit dir und Amanda noch die Geschichte mit dieser Höhle in den Klippen. Ihr könnt euch auf mich verlassen.«

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, bis es in alle Richtungen abstand. »Für jemanden, der sich für so schlau hält, kannst du ganz schön schwer von Begriff sein. Es geht hier weder um die Höhle noch um Amanda. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht – aber wirklich alles –, um dich zu schützen.«

»Ich halte mich nicht nur für schlau. Ich bin schlau.« Ich richtete mich hoch auf, um meine starken Worte zu unterstreichen.

Er musterte mich von oben bis unten, und ich sah förmlich, wie sich die Rädchen in seinem Gehirn drehten. »Trinkst du mehr als die vorgeschriebene Menge Blut?« Unsere Blicke trafen sich, und als er die Wahrheit in meinen Augen las, ließ er müde die Schultern sinken. »Du musst vorsichtig sein. Zu viel von dem Zeug ist gefährlich.«

»Es macht mich stärker.«

»Es macht dich launischer. Unberechenbar.«

»Ich habe nur eine winzige Portion mehr als sonst genommen. Um die Heilung der Rippe zu beschleunigen … weil ich doch niemandem reinen Wein einschenken konnte.«

Er schüttelte frustriert den Kopf. »Ich habe sie gewarnt. Sie hätten dir diesen Auftrag niemals geben dürfen.«

Schon wieder das alte Lied, dachte ich wütend. »Weil ich zu jung bin?«

»Weil du noch mitten in der Ausbildung steckst. Die meisten Mädchen erleben ihre erste Mission als Teil der Wächterinnen-Abschlussprüfung. Du dagegen bist erst seit einem Semester hier, und nur weil du sprachgewandt bist, schicken sie dich an einen gefährlichen Ort, von dem du wahrscheinlich nicht lebend zurückkehrst.«

»Wow!« Ich trat empört einen Schritt zurück. »Danke für das Vertrauensvotum!«

Seine Worte rüttelten mich auf. War es denkbar, dass ich bei dieser Mission umkam? Ich redete mir ein, dass Ronan der Einzige war, der nicht an meine Fähigkeiten glaubte.

Aber ich kannte einen, der genau das tat. Alcántara. Wenn ich mit dem Vampir zusammen war, erschien mir nichts zu schwer. Ich fühlte mich wie eine junge Pflanze, die endlich dem Licht entgegenwuchs.

Es beunruhigte mich, dass Ronan die Sache mit den höheren Blutmengen erraten hatte. Aber wie konnte die kleine Extradosis von Nachteil sein, wenn ich mich stärker denn je fühlte? Ich hatte bei meinem Fitnesstraining die Latte deutlich höher gelegt und schaffte inzwischen sogar diese blöden Klimmzüge. Mit dem zusätzlichen Blut fühlte ich mich lebendiger und schwungvoller, mehr im Einklang mit meinem Körper und der Welt ringsum. Ich nahm neue Gerüche und Laute auf, spürte die Nähe der Himmelskörper …

Und mit diesen geschärften Sinnen spürte ich auch, dass sich Emma und Yasuo näherten. Seit meiner kleinen Unterredung mit Emma hatten sich die Dinge zwischen den beiden rapide entwickelt, und mittlerweile waren sie praktisch unzertrennlich.

Ich drehte mich um, und da waren sie. Sie gingen so dicht nebeneinander, dass sich ihre Arme berührten. Obwohl nicht direkt verboten, wäre das öffentliche Zurschaustellen von Gefühlen doch ziemlich dumm gewesen. Wir befanden uns auf der Insel der Nacht und nicht auf irgendeiner Großstadt-Promenade, und im Moment war ich dankbar dafür. Das Letzte, was ich mir jetzt wünschte, war der Anblick eines eng umschlungenen Liebespaars.

Aber was bedeutete sein Status als Vampir-Anwärter langfristig für ihre Beziehung? Eines Tages würde uns Yasuo Aufträge erteilen. Wie würde sich das auf ihr Verhältnis auswirken? Ich dachte an einige der anderen Jungs … Kevin, Rob, Josh. Würden sie eines Tages das Recht haben, uns herumzukommandieren?

Allein die Vorstellung fand ich ätzend. Und überhaupt, wo war Josh? Mir fiel jetzt erst auf, dass ich ihn die ganze Woche nicht gesehen hatte. »Wo ist der dritte Blödian?«

Das war witzig gemeint, aber Emma sah mich an, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst.

Scheiße. Hatte Ronan etwa recht? War ich launisch? Ich hatte mich in meine Vorbereitungen gestürzt und versucht, Alcántara zu beeindrucken, aber hatte ich dabei meine wahren Freunde vernachlässigt? Zu spät merkte ich, dass meine Frage alles andere als nett geklungen hatte. Ich sah Ronan an, doch der stand da wie eine Sphinx. Unergründlich.

Meine Begrüßung hatte Yas gewarnt. »Du meinst Josh? Der ist im Unterricht.«

Ronan schob den Riemen seiner Tasche höher auf die Schulter. »Genau da muss ich auch hin.« Er warf mir einen vielsagenden Blick zu. »Denk an meine Worte, Annelise! Sei vorsichtig!«

Ich nickte, weil ich nicht recht wusste, was ich erwidern sollte. Ich war wütend gewesen, aber jetzt überwog die Unsicherheit. War ich zu unerfahren? War es leichtsinnig, zu viel Blut zu trinken? War ich in Gefahr? Obwohl ich die Antworten nicht kannte, tippte ich auf Ja. Ronan meinte es vielleicht ehrlich und machte sich echte Sorgen um mich.

Plötzlich überwältigten mich die Gefühle. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Aber Ronan sah nicht mehr in meine Richtung, sosehr ich seinen Blick auch suchte.

Leb wohl.

Er ging, bevor ich die Worte aussprechen konnte. Zurück blieb etwas, das tiefer als Angst und brennender als Ärger war. Diese Empfindungen kamen mir mit einem Mal dumm vor – eine alberne, kindische Energieverschwendung. War es Bedauern, das ich spürte? Weil es gut sein konnte, dass ich ihn nie wiedersah?

Ich hatte mich in die Mission verrannt, anstatt Alcántara mehr denn je zu misstrauen – schließlich schickte er mich mit einem Auftrag los, der mir vielleicht den Tod brachte. Meine Eitelkeit und die schmeichelnden Worte des Vampirs hatten mein Ego aufgebläht, aber ich war nicht unbezwingbar. Vielleicht fuhr Alcántara auf mich ab, aber das Feuer konnte jederzeit wieder erlöschen. Und dann war mein Leben nicht mehr viel wert.

Ich hatte kein uneingeschränktes Vertrauen zu einem Vampir oder einem System, in dem nur Männer die Spitze der Machtpyramide bildeten. Gewiss, er begünstigte mich, wo es nur ging, aber das war nicht unbedingt von Vorteil. Und das galt grundsätzlich für Situationen, die mir mit hoher Wahrscheinlichkeit den Tod brachten.

Das Ausmaß der ganzen Geschichte überwältigte mich. Dazu kam das bohrende Gefühl, dass ich die Sache mit Ronan total vermasselt hatte. Ich hatte seine Fürsorge als etwas Selbstverständliches betrachtet. Seine Ratschläge waren ein Geschenk gewesen, das ich abgewiesen hatte wie ein trotziges Kind. Und nun war es zu spät. Es gab keine Zweitversuche auf Eyja næturinna. Die Insel kannte keine Nachsicht.

Ich wandte mich Emma und Yas zu. »Tut mir leid, Leute. Ich glaube, ich bin einfach nervös.« Meine Stimme klang unsicher, was meine Worte noch unterstrich.

Emma taute sofort auf und lächelte verständnisvoll. »Das ist doch logisch. Wann soll es denn losgehen?«

Ich zuckte mit den Achseln. »In ein paar Tagen.«

»Hast du schon erfahren, wohin die Reise geht?«, erkundigte sich Yasuo.

Alcántaras Worte spukten durch meinen Kopf. Alles, was ich dir jetzt enthülle, muss unter uns bleiben. »Ich – ich kenne den Plan nicht.«

Sie wechselten einen Blick, und Yasuo sagte: »Sie lügt.«

Emma kniff die Augen zusammen und fragte mit einem neckenden Unterton: »Lügst du, Blondie?«

»Seit wann nennst du mich Blondie?« Ich runzelte streng die Stirn und deutete mit dem Daumen auf Yasuo. »Es reicht schon, wenn er das sagt. Mein Gott, Leute, ich verbringe ein paar Wochen im Training –«

»Im Untergrund«, warf Yas ein.

Ich rempelte ihn mit der Schulter an. »Im Training. Kaum taucht man mal für ein paar Tage unter, und schon verdirbst du mir mein Mädchen vom Land.«

Und zack, blödelten wir wie gewohnt herum, und alles war wieder gut zwischen uns.

Aber danach tauchte ich tatsächlich unter. Ich kam nicht damit zurecht, ihnen dauernd in die Arme zu laufen und mich mit ihnen zu unterhalten, als sei nichts weiter, obwohl ich wusste, dass es ein Abschied für immer sein konnte. Ebenso wenig schaffte ich es, ständig Ausreden zu erfinden, wenn sie mir Fragen stellten, die ich nicht beantworten konnte.

Beispielsweise, was die Beziehung zu Alcántara für mich bedeutete. Was bedeutete es für uns alle, dass es da draußen böse Vampire gab, die Treffen veranstalteten und Verschwörungen planten?

Wenn ich überleben wollte, musste ich mich konzentrieren. Also vertiefte ich mich in die Vorbereitung und trainierte hart, und eines Morgens wachte ich auf, und es war so weit.

Ich ging zum Frühstück in den Speisesaal, und zur Mittagszeit befand ich mich auf einem Boot.