Es war ein grauer, stürmischer Samstagvormittag. Aber mir tat alles weh, ich hatte schlechte Laune und jede Menge nachzulernen, und da kam mir das Scheißwetter irgendwie gerade recht.
Ich humpelte über den Innenhof, so schnell ich konnte. Meine Hüfte war wundgescheuert und mein Hintern blau geschlagen von dem blöden Stockkampf-Training, das der blöde Sucher Otto in der Turnhalle abgehalten hatte. Mit halb geschlossenen Augen in den Nebel blinzelnd, zog ich mit einer Hand die Kapuze in die Stirn und presste mit der anderen die Umhängetasche eng an mich, damit dieses verdammte Geschäftsdeutsch-Lehrbuch nicht ständig gegen meine Rippen knallte.
Unbehelligt erreichte ich mein Ziel, den weichen Polstersessel vor dem Kamin der Wissenschaftlichen Bibliothek, und ließ mich mit einem Seufzer der Erleichterung nieder. Ich packte den Zwiebel-Bagel aus, den ich mir vom Buffet im Speisesaal geangelt hatte, und streckte die Beine dem Kamin entgegen. Ein dienstbarer Geist hatte bereits ein Feuer entfacht, was ich sehr begrüßte, da meine Leggings ziemlich durchweicht waren.
Ich liebte diesen Leseplatz am Kamin, obwohl sich Alcántaras Amtsräume nur ein Stockwerk höher befanden und ich allein durch meine Anwesenheit in der Bibliothek das Schicksal herausforderte. Ein wenig fürchtete ich mich davor, ihm über den Weg zu laufen, aber eine Art innerer Zwang drängte mich, seine Nähe zu suchen. Deutsch, Gesellschaftstanz … unzählige Fragen geisterten durch mein Gehirn, wenn ich über diesen bizarren Lehrplan nachdachte – und ich hoffte, dass ich irgendwann den Mut fand, Alcántara diese Fragen zu stellen.
Ich fischte das alberne Buch, das mir Josh mitgebracht hatte, aus der Tasche. Besondere Regeln und Gepflogenheiten im Geschäftsdeutsch. Protokoll und Etikette … graus. Ich hatte noch nie im Leben mit einem Tutor gearbeitet und fand, dass es mein Ego ganz schön runterzog. Ich hatte mir vorgenommen, einen Tag auf das Buch zu verwenden – damit ich den Quatsch hinter mich brachte, wie ich mir einredete, in Wahrheit aber auch, um den beiden ein wenig zu imponieren. Josh und Alcántara.
Der Inhalt war eher schlicht; die Schwierigkeiten lagen im Detail. Alcántara hatte recht – ich beherrschte Althochdeutsch und modernes Deutsch fließend, doch weder das eine noch das andere hätte mir bei diesem Zeug weitergeholfen. Ich konnte im Schlaf deklinieren, aber woher sollte ich wissen, dass deutsche Wirtschaftsbosse nach einer erfolgreichen Konferenz nicht Beifall klatschten, sondern mit den Knöcheln auf den Tisch klopften?
Eines stand jedenfalls fest: Ich hatte nicht den Hauch einer Ahnung, warum ich das alles lernen musste. Fand unsere Mission irgendwo in Deutschland statt? Würden wir uns weit von der Insel entfernen?
Und er hatte erwähnt, dass der Auftrag gefährlich war. Momentan wurde beim Sportunterricht des Sommersemesters großes Gewicht auf Nahkampftechniken gelegt. Ob mir das bei meiner Mission half? Würde ich irgendwann gezwungen sein, eine vornehme Tischgesellschaft aufzumischen?
Der Vampir mit den Antworten erschien aus dem Nichts, als hätte ich ihn herbeizitiert. Eben noch war ich allein im Raum gewesen, und zack, da lehnte er mit verschränkten Armen an der Wand hinter mir und sah so blasiert und gelangweilt drein, als stünde er schon eine halbe Stunde in der Gegend.
Ich empfand eine leise Befriedigung – er hatte mich hier gespürt, und er war gekommen. Doch gleich darauf überwog die Angst. Ich durfte nie vergessen, mit wem ich es zu tun hatte. Vampire aufzuspüren war ein gefährliches … ein tödliches Spiel.
»Acari Drew.« Diese Stimme. Heiser und schwül. Dieses Haar und diese Augen. Glänzend schwarz wie bei einem Panther.
Ich setzte mich aufrecht hin. Meine Hände zitterten von dem Adrenalinstoß, der jedes Mal durch meine Adern jagte, wenn er so unvermittelt auftauchte. Ich faltete sie züchtig und legte sie in den Schoß. »Master Alcántara.«
»Weshalb bist du hergekommen?«
Gute Frage. Da sich seine Räume nur ein Stockwerk höher befanden, wusste auch er, dass ich die Bibliothek nicht rein zufällig aufgesucht hatte. Mir war es darum gegangen, mehr über unsere Mission herauszufinden, aber hatte ich noch andere Fragen? Dass ihn möglicherweise mehr als ein Flirt mit Masha verband, beschäftigte mich sehr, ebenso die Erkenntnis, dass viele Mädchen eine besondere Beziehung zu Vampiren hatten.
Aber warum versuchte ich ihn hier zu treffen, anstatt in der neutralen Umgebung eines Klassenzimmers? Hatte ich die Absicht, unsere Beziehung irgendwie zu festigen? Und wenn ja, wollte ich so eine Beziehung überhaupt, oder hatte ich nur den Wunsch, Masha zu übertrumpfen?
Natürlich hätte ich diese abartigen Gedankengänge nie im Leben laut ausgesprochen, und so probierte ich es mit der Halbwahrheit. Ich deutete auf den Buchrücken. »Ich wollte ungestört lernen und mir die Protokollregeln des deutschen Wirtschaftslebens einprägen, wie Sie es gewünscht hatten.«
»Aber so ganz in meiner Nähe.« Er schien nicht gewillt, das Thema aufzugeben, behielt jedoch seine gelangweilte, gleichgültige und fast ein wenig verstimmte Miene bei, als er durch den Raum glitt und sich in den Sessel mir gegenüber lümmelte. Obwohl Alcántara vor langer Zeit als Hofmathematiker des spanischen Herrschers gedient hatte, wirkte er auf mich wie ein heißer Indie-Rocker. »Hattest du die Absicht, mich zu treffen?«
Ich ließ diese Frage offen. »Das hier ist mein absoluter Lieblingsplatz auf dem Campus.«
»Du wusstest sicher, dass du mir hier begegnen würdest.« Er streckte die Beine aus, und seine schwarzen Stiefel kamen mir gefährlich nahe.
Er machte auf Verführer, und was hatte ich anderes erwartet? Ich war ein dummes, dummes Kind, das mit dem Feuer spielte.
Ich lachte nervös. »Das ist ziemlich direkt.«
»Darf ich das nicht sein?« Ein neckendes Lächeln huschte über seine Züge. »Gibt es ein Thema, das ich in deiner Gegenwart eher meiden sollte?«
Ich wand mich vor Verlegenheit, und der Typ hatte seine helle Freude daran. »Nein, direkt ist schon in Ordnung …« In dem verzweifelten Bemühen, das Thema zu wechseln, begann ich in meinem Buch zu blättern, und plötzlich kam mir der Geistesblitz. Ich deutete auf eine Passage und erklärte mit Nachdruck: »Zumindest steht das hier. Die Deutschen schätzen Direktheit. Bis hin zur Schonungslosigkeit.«
Schallendes Gelächter beendete seine Pose der Langeweile. »Du hast deine Hausaufgaben gemacht.«
»Wie immer.« Gegen meinen Willen freute ich mich über das Lob. Aber – Scheiße – hieß das in der Tat, dass ich seine Nähe gesucht hatte? Dass mir etwas an seiner Anerkennung lag?
»Du bist wirklich so schlagfertig und vielseitig, wie wir gehofft hatten.« Er studierte meine Züge, und das machte mich nervös. Wonach suchte er? »Was hast du sonst noch herausgefunden, meine kleine Acari?«
Dass ich beim Flirten mit einem Vampir immer den Kürzeren zog?
Das konnte ich natürlich nicht bringen, und so ratterte ich ein paar Dinge herunter, die mir in meiner Lektüre aufgefallen waren. »Deutsche Geschäftsleute legen großen Wert auf Strukturen. Hierarchien, Titel und die formellen Anreden, die sich daraus ableiten, sind ihnen wichtig. Ach ja, und Pünktlichkeit – die vor allen Dingen.«
Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht – es war das gleiche Lächeln, das meinen Herzschlag stets in den Panikbereich katapultierte. »Das klingt wie eine Beschreibung von uns Vampiren.«
Ich schwieg, um das richtig einzuordnen. Ich hegte den Verdacht, dass der Moment, in dem ich unbeabsichtigt einen Vampir beleidigte, mein letzter sein könnte. »Ja, Sie haben recht. Das alles erinnert ein wenig an das Leben hier auf der Insel. Sie hat die besten Aspekte einer uralten Kultur bewahrt.« Ich klopfte mir für diese geschliffene Ansage insgeheim auf die Schulter.
Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und beugte sich weit vor. »Ähnlich wie die Vampire halten sich die deutschen Geschäftsleute an ein strenges Regelwerk. Ist das nicht so?«
Ein verdammt strenges Regelwerk. Auch wenn ich das nicht ganz so krass ausdrückte. »Ja. In einer typischen Zusammenkunft sind viele Konventionen zu beachten.«
»Zum Beispiel?«
»Ach, diese Einzelheiten langweilen Sie sicher.«
»Mal sehen.«
Ich ratterte sie herunter wie aus der Pistole geschossen. Das Thema fiel mir leichter als die Antwort auf die Frage, weshalb ich die Wissenschaftliche Bibliothek zu meinem Lieblingsplatz erkoren hatte. »Der Herr betritt einen Raum vor der Dame.« Ich konnte mir denken, dass die Vampire von dieser Regel begeistert waren. »Die formelle Begrüßung besteht aus einem kurzen, festen Händedruck. Man setzt sich erst, wenn man zum Platznehmen aufgefordert wird. Streit, Übertreibungen und Emotionen sind unbedingt zu vermeiden.«
Er hob eine Hand, um meinen Redefluss zu stoppen. »Das reicht.«
»Weshalb muss ich das alles eigentlich wissen? Findet unsere Mission in Deutschland statt?«
Sein Lachen klang ein wenig gönnerhaft. »Nein, querida. Unsere Mission findet nicht in Deutschland statt. Du erfährst rechtzeitig alles, was du wissen musst. Für den Augenblick bin ich mit deiner Vorbereitung sehr zufrieden. Vampir-Anwärter Joshua hat seine Sache gut gemacht.«
Genau genommen hatte ich meine Sache gut gemacht – Joshs einziger Beitrag war dieses Buch gewesen. Aber Ehre, wem Ehre gebührte, und so sagte ich: »Ja, er hat mir ein ausgezeichnetes Buch besorgt.«
»Wie ich hörte, war das nicht alles, was er für dich getan hat.«
Ich versteifte mich. Natürlich hatte er von dem jüngsten Überfall der Eingeweihten gehört. Aber wie verpackte ich die Geschichte am besten, um kein Missfallen zu erregen? Ich überlegte lange, bevor ich meine Antwort formulierte. »Ich befand mich in einer kompromittierenden Lage, und Vampir-Anwärter Joshua erwies sich als Gentleman.«
Alcántara sah nicht gerade begeistert drein, und ich spürte, wie Angst in mir aufstieg.
Ich brannte darauf, zu erfahren, ob Josh jetzt in Schwierigkeiten steckte, weil es Vampir-Anwärtern verboten war, sich den Guidons zu widersetzen. Josh und ich waren zwar nicht die engsten Freunde, aber ich wollte auf keinen Fall, dass er bestraft wurde. Immerhin hatte er mich gegen Masha und ihre Clique verteidigt. Ich trug die Verantwortung, falls ihm etwas zustieß.
Ich musste das Thema wechseln und Alcántara von Josh ablenken. Das einzige Mittel, das mir dazu einfiel, war das moralische Pendant eines Wimpernklimperns. Obwohl weibliche Raffinesse normalerweise nicht mein Ding war, beschloss ich, den Versuch zu wagen.
Und okay, vielleicht hätte es bei gründlichem Nachdenken auch andere Mittel gegeben, aber etwas tief in meinem Innern wollte diesen Weg gehen. Vielleicht lag es an der Entdeckung, dass sich die meisten Mädels hier heimlich mit Vampiren vergnügten. Dazu kam die Geschichte mit Ronan und Amanda, die in mir die Frage nach meiner Anziehungskraft auf Männer – und gewaltige Zweifel an eben dieser – geweckt hatte. Wie dem auch sein mochte, ich fand es an der Zeit, mein Schicksal herauszufordern.
Wie gingen Mädchen in einem solchen Fall vor? Ich versuchte Alcántaras lässige Pose nachzuahmen und schlug die Beine möglichst sexy übereinander. Aber das Feuer in seinem Blick hielt sich in Grenzen.
Na dann. Weiter zu Stufe zwei. Laszives Lächeln anknipsen.
Ich gab mir größte Mühe, aber Alcántara blieb eine Granitstatue – ausdruckslos, emotionslos, aber sehr attraktiv. Dabei wusste ich, dass ich ihm eine Steilvorlage gegeben hatte. Irgendeine Reaktion musste er doch zeigen. Oder war dieses ganze Gerede von Vampiren, die Affären mit Mädchen hatten, nichts als Quatsch?
Also schön. Stufe drei. Ich musste die schweren Geschütze auffahren. Mein Haar. Ein schimmerndes Blond, auf das fast alle Männer ansprangen. Ich wickelte lässig eine Strähne um den Zeigefinger. So machten das doch die Mädels, wenn sie einen Typen anschmachteten, oder? Sie spielten mit ihrem Haar.
Aber erst als ich die Hand hob, um es aus dem Gesicht zu streichen, begannen Alcántaras Augen zu funkeln. Im nächsten Moment kniete er vor mir. Und das hatte nichts mit meiner blonden Mähne zu tun, sondern mit dem großen blauen Fleck, den mein Haar bis jetzt verdeckt hatte.
Er sah sich meinen Wangenknochen sehr genau an. »Was ist da passiert?«, presste er schließlich im Flüsterton hervor.
»Stockkampf-Training.« Ich rutschte tiefer in den Sessel, peinlich berührt und mehr als verlegen. »Sucher Otto täuschte links an und attackierte dann rechts.«
Er beugte sich vor, um den Abstand, den ich zwischen uns gelegt hatte, zu verkürzen. Dann fuhr er mit einem Finger sanft meinen Wangenknochen nach. »All das Blut – so dicht unter der Haut.«
Natürlich. Natürlich machten ihn nicht mein sexy Lächeln und nicht mein Blondhaar an. Was ihn aufgeilte, war mein Blut.
»Das ist keine große Sache«, beschwichtigte ich. Meine Stimme klang ruhig, obwohl ich am liebsten die Flucht ergriffen hätte. Nun, zumindest hatte ich ihn von Josh abgelenkt.
Er atmete tief ein. »Schwarz, blau, grün, purpur, gelb … jede Farbe. Nur kein Rot. Und doch so nah an der Oberfläche, all die geborstenen Gefäße, all das Blut.«
Ich schmiegte mich in die Polster, total fertig. »Passiert immer wieder mal.«
»So tapfer, meine kleine Acari. Wusstest du, dass man solche Verletzungen früher mit Blutegeln behandelte? Die Tierchen saugten sich an der Haut fest und nahmen das überschüssige Blut auf.« Seine Blicke wanderten von dem blauen Fleck zu meinen Lippen. »Heute haben wir andere Methoden.«
Alarmglocken schrillten in meinem Kopf. Flieh, flieh, flieh. Aber ich konnte jetzt nicht davonlaufen. Das hatte nichts mit Josh oder mir zu tun. Was mich wie mit Klebstoff in meinem Sessel festhielt, war das Schreckgespenst Masha. Ich brauchte Alcántara auf meiner Seite, wenn ich verhindern wollte, dass Masha mich im Schlaf überfiel und umbrachte.
Er zeichnete mit der Fingerspitze die Konturen meiner Wange nach. Dann hob er mein Kinn an und schaute mir tief in die Augen. »Mi acarita, ich frage mich, ob du auch in anderen Dingen so tapfer bist.«
Ich wusste, dass er vom Küssen sprach. Und ich hatte geglaubt, ich könnte tapfer sein, wenn es dazu käme. Aber jetzt erkannte ich, dass meine Antwort ein entschiedenes Nein war. Zumindest in seinem Fall.
Das hier war ganz allein meine Schuld. Ich hatte mit dem Feuer gespielt, ich hatte das Schicksal herausgefordert – sämtliche Klischees trafen auf mich zu.
Wie schnell er vom Blut auf Küsse gekommen war. Innerlich wich ich zurück. Aber ich setzte eine Maske der Gelassenheit auf. Ich hielt völlig still, wich seinem Blick nicht aus.
Etwas geschah – die Welt ringsum veränderte sich. Meine Haut fühlte sich eiskalt an. Meine Ohren rauschten, und im Raum wurde es dunkel, als sei ich einer Ohnmacht nahe. Und dann stürzte ich in seine Augen. Sie waren schwarz und abgrundtief, wie glänzende Obsidiansplitter.
Ich zitterte, kämpfte gegen den Sog an. Ich wollte ihn nicht küssen. Aber warum bewegte ich mich auf ihn zu?
Es war ein Fehler gewesen, so weit zu gehen. Das hatte ich nicht gewollt. Ich blinzelte, ballte die Hände zu Fäusten, bis sie sich wieder warm anfühlten. Ich rollte die Zehen ein, bis ich einen Krampf in den Füßen spürte.
Die Welt schnappte zurück und wurde wieder hell. Ich atmete tief durch.
Alcántaras leises Lachen erreichte mich wie aus weiter Ferne. »Touché. Wenigstens für den Augenblick, querida.«
Mein erster Kuss sollte nicht von einem Vampir kommen. Auf gar keinen Fall.
Ich hatte eine Schlacht gewonnen. Aber konnte ich auch den Krieg für mich entscheiden?