Es gab da draußen böse Vampire? Die noch bösere Sachen machten, als ahnungslose junge Mädchen zu entführen und sie dann zu zwingen, sich gegenseitig abzuschlachten? Was zum –?
Mir war noch schwindlig von der Bombe, die er soeben gezündet hatte, und so achtete ich nicht weiter auf Trinity und ihre Clique, die an mir vorbei zur Turnhalle strebten.
Alcántara hatte die Gruppe allerdings bemerkt, und er rief: »Guidon Trinity!«
Trinity warf mir einen bösen Blick zu, als sie das lauschige Tête-à-Tête zwischen mir und Alcántara beobachtete, und ich konnte mir denken, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Masha einen ausführlichen Bericht erhielt. Aber sie war die Ehrerbietung in Person, als sie noch einmal die Eingangsstufen nach unten gejoggt kam. »Ja, Master Alcántara?«
»Räumen Sie das Zeug da auf!« Er deutete herablassend auf die Zielscheibe, die ich am Baum befestigt hatte. »Ich habe im Moment wichtigere Aufgaben für Acari Drew.«
Meine Angst vor Trinitys Rachsucht war so groß, dass ich mir jegliche Schadenfreude verkniff. Am liebsten hätte sie wohl die Zielscheibe auf meinen Rücken geheftet. Jedenfalls knisterten ihre fahlen Augen vor kalter Wut. Nur Alcántaras Anwesenheit bewirkte, dass ich mich einigermaßen sicher fühlte. Wobei ich nicht genau sagen konnte, ob seine Gunst eine Lebensversicherung darstellte … oder mein Todesurteil.
»Begleite mich ein Stück.« Er reichte mir in einer sehr altväterlichen Höflichkeitsgeste den Arm.
Ich hatte soeben eine weitere Sprosse auf der Hierarchie-Leiter erklommen, und ich spürte, wie mich die Blicke der anderen Mädchen durchbohrten. Aber dann verdrängte ich den Gedanken. Ich stand über ihnen – das hatte er selbst gesagt.
Von Etikettekursen mal abgesehen, genoss ich es, dass er mich wie eine Erwachsene behandelte – und mir so verblüffende Dinge anvertraute. Andere Vampire? Böse Vampire? Noch böser als dieser Haufen? Bei dem Gedanken überlief mich ein Frösteln.
Hieß das etwa, dass es auf der Welt einen größeren Konflikt zwischen guten und bösen Vampiren gab? Plötzlich sah ich unsere Mission vor einem völlig neuen Hintergrund.
Gut gegen Böse … Das klang nach Gerechtigkeitsliga und Superheldentum. Ich spürte ein leises Bedauern, dass ich auf dieses Leben verzichten musste, weil ich ja fest zur Flucht entschlossen war.
Doch dann fiel mir der Draug wieder ein. Ich freute mich auf die Mission, aber noch mehr freute ich mich darauf, dieser Insel für immer den Rücken zu kehren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich jemand – oder etwas – zum Lunch verspeiste.
Ich senkte die Stimme, damit mich die Guidons nicht hören konnten: »Wo sind die anderen Vampire? Wer sind sie?«
»Nicht hier«, entgegnete er ebenso leise. »Was ich dir zu sagen habe, ist nicht für neugierige Ohren bestimmt.«
Wir gingen bis ans andere Ende des Innenhofs, zu einer Bank in der Nähe der alten Kapelle. Das Schweigen war längst nicht so ungezwungen wie früher zwischen Ronan und mir. Von Alcántara ging eine starke Energie aus, eine besondere Chemie, die eine Spannung erzeugte und die Stille unbehaglich machte.
Wir ließen uns auf der Bank nieder, und mir fiel auf, wie dicht er an mich heranrückte. Das hatte ganz bestimmt etwas zu bedeuten, denn bei den Vampiren blieb nichts dem Zufall überlassen, nicht einmal die Wahl eines Sitzplatzes.
»Alles, was ich dir jetzt enthülle, und alles, was du während unserer Mission zu Gesicht bekommen wirst, muss unter uns bleiben.« Er sah mir tief in die Augen, als könnte er mich allein durch seinen Blick zu einem Versprechen zwingen. »Ich bin sicher, dass du mich nicht enttäuschen wirst.«
»Bestimmt nicht«, sagte ich ernst und dachte, dass Ronan und Amanda mir nicht so viel Vertrauen entgegengebracht hatten wie Alcántara. »Ich kann Geheimnisse für mich behalten.«
»Das ist gut, querida. Denn wir müssen in aller Verschwiegenheit von hier aufbrechen.«
Ich erschauerte. Würde ich mich in einen weiten Reiseumhang hüllen oder zumindest einen mysteriösen Aktenkoffer tragen? »Wann?«, fragte ich atemlos.
»In einer Woche. Ein Boot wird uns abholen.«
Ich bekam eine Gänsehaut. Das war es – unser großes Abenteuer rückte näher. Unser Kampf gegen das Böse. Ich würde mich bewähren, würde das in mich gesetzte Vertrauen rechtfertigen.
Und danach würde ich die Flucht ergreifen. Die süße Freiheit winkte. Ich war überzeugt, dass man mich überall mit offenen Armen aufnehmen würde. Beim CIA oder als Promi-Bodyguard …
Aber dann fiel mir wieder die Sache mit dem Kellnern ein. »Sie haben angedeutet, dass ich bei Tisch bedienen muss.«
»Als Serviermädchen getarnt, mijita. Diese Vampire, in deren Kreis wir dich einschleusen – ihre Anführer nennen sich die Synode der Sieben –, sind eine Macht des Bösen. Sie haben einen der Unseren gefangen genommen und halten ihn irgendwo auf ihrer Insel fest. Durch Nahrungsentzug und Folter versuchen sie ihm allerlei nützliche Informationen über uns zu entlocken.«
»Wer ist er?«, wisperte ich atemlos.
»Ein Vampir namens Carden McCloud. Er lebte im Schottland des achtzehnten Jahrhunderts.«
Ich unterdrückte ein Keuchen. Ich sollte ihnen helfen, einen uralten Vampir aufzuspüren. Ich. Annelise Drew.
Der Name kam mir irgendwie bekannt vor, und dann erinnerte ich mich, dass Ronan einen Vampir namens McCloud erwähnt hatte, der angeblich von dieser Insel stammte. Ich speicherte diesen Fakt, während vor meinem geistigen Auge eine Sean-Connery-Version mit Kilt und Fängen auftauchte.
Eines allerdings ging mir gegen den Strich. »Wenn der Mann Schotte ist, warum musste ich dann mein Deutsch aufpolieren?«
»Die Synode der Sieben berät sich in der Sprache des alten Klosters, in der sie residiert.«
Ich fand mal wieder Gelegenheit für einen Nerd-Auftritt. »Im Mittelalter siedelten sich christliche Missionare auf einer Reihe von kleinen Inseln in der Nordsee an. Diese Mönche verständigten sich in Althochdeutsch – auch ihre Bücher, Gebete und Dokumente waren in dieser Sprache verfasst.«
»Ganz recht.«
Obwohl ich im Allgemeinen gern recht hatte, beschlich mich ein schräges Gefühl. »Dann … sind sie Priester?«
»Nein«, widersprach er entschieden. »Sie sind Vampire. Aber sie haben nichts mit uns Vampiren auf Eyja næturinnar gemein. Sie sind Monster, die alles verkörpern, was wir verachten. Daran besteht für mich nicht der geringste Zweifel.«
Ich rieb die Hände aneinander, weil meine Fingerspitzen taub geworden waren. Ich dachte an die Monster, die ich bereits kannte, an meine malträtierten Rippen, an die gleichgültige Exekution von Mimi, an die kranken Kampfspiele, die halbwüchsige Mädels in Gladiatoren verwandelten. Es gab schlimmere Vampire als die Gruppe auf dieser Insel?
Ich begriff immer noch nicht, welche Rolle mir in diesem Stück zugedacht war. Ich meine, ganz bestimmt beherrschte Alcántara ein Dutzend alter Sprachen. Warum also eine Siebzehnjährige mitnehmen, die eben erst die Highschool abgeschlossen hatte? Gewiss, ich erhielt hier ein hartes Training. Hatte man mir das Kämpfen und das Töten beigebracht, um mich auf diesen Einsatz vorzubereiten? Ich fragte ernst: »Werde ich jemanden töten müssen?«
Meine Frage schien ihn zu belustigen. »Nein, querida. Selbst wenn du den Versuch wagen solltest – du könntest keinen von ihnen töten. Umgekehrt kämst du nicht mit dem Leben davon, falls sie deine Absichten durchschauten. Unser Ziel besteht darin, Carden McCloud zu retten. Seinem Wohl gilt unsere ganze Sorge.«
»Warum ist dieser Carden so wichtig?«
»Sie waren ein wilder Haufen, diese alten schottischen Krieger, aber Master McCloud ist einer von uns, und wir halten zusammen.«
»Also müssen wir herausfinden, wo sie ihn festgesetzt haben?«
»Du musst das herausfinden. Ich kann es nicht riskieren, einen meiner Leute einzuschmuggeln, ehe wir wissen, ob er noch lebt und wo sie ihn gefangen halten.«
Meine erste Reaktion war: Aber ein Mädchen einzuschmuggeln, das kannst du riskieren? Dann erst registrierte ich den Anfang seiner Botschaft, und mein Unmut schwand. Ich straffte die Schultern, durchdrungen von neuer Energie. »Ich soll herausfinden, wo sie ihn gefangen halten? Ich ganz allein?«
Ich entdeckte einen völlig neuen Aspekt des Lebens auf dieser Insel, von dem ich bisher nichts geahnt hatte. Es war weit mehr als eine Highschool der Hölle, wo Cheerleader Killer und der Rest weggetretene Soziopathen waren. Ich trainierte für eine Streitmacht des Guten. Bald würde ich von hier verschwinden und mein Wissen und Können in der richtigen Welt anwenden – vielleicht als Geheimagentin oder in Genf bei Interpol … was immer das für eine Truppe war.
Seine Augen glitzerten, als er meine Erregung sah. »Ja, querida, du ganz allein wirst seinen derzeitigen Aufenthalt erkunden. Doch dann bekommst du Helfer …«
»Wir werden ihn retten?«
Er nickte. »Gemeinsam werden wir mit ihm in die Freiheit segeln, du und ich. Bist du bereit?«
All das Wir und Uns und Zusammen schuf ein Gefühl der Nähe zu Alcántara. Und so waren meine Haltung und mein Tonfall trotz des ernsten Gesprächsthemas völlig ungezwungen. »Ich war von Geburt an bereit«, sagte ich lächelnd und summte die Melodie von I was born ready vor mich hin.
Er lachte laut und ausgelassen. Vermutlich hatte er den Song noch nie gehört.
Unwillkürlich stimmte ich in sein Gelächter ein, doch dann dachte ich erschrocken: O mein Gott, das ist doch Wahnsinn! Du bist im Begriff, dich an einen Vampir zu binden!
Ich hegte schon länger den Verdacht, dass Alcántara mir geholfen hatte, den Semesterwettbewerb zu gewinnen – und nun kannte ich auch den Grund. Ich war eindeutig die beste Wahl für diese Mission. Ich meine, welche Acari außer mir konnte das Wort Althochdeutsch auch nur buchstabieren? Aber wenn ich in Betracht zog, wie er mich ansah und wie er mit mir scherzte, kam mir noch eine zweite Möglichkeit in den Sinn. Vielleicht hatte er mir schlicht und einfach auch geholfen, weil er mich mochte.
Der Gedanke ermutigte mich, die nächste Frage zu stellen: »Und was hat mein Kellnern mit all dem zu tun?«
»Die Synode der Sieben hat ein Gipfeltreffen einberufen und dazu Vampire aus der ganzen Welt eingeladen.«
»Aus der ganzen Welt?«, unterbrach ich ihn verblüfft.
Er hielt den Kopf schräg und sah mich belustigt an. »Überleg doch, meine Kleine! Glaubst du, dass es nur im Nordseeraum Vampire gibt? Wirklich? Wir lieben die dunklen, kalten Gegenden. Die gibt es allerdings auch in Russland, Finnland oder Alaska, und so haben sich unsere Artgenossen dort ebenfalls niedergelassen. Nun aber kommen sie hierher, in ein halb zerfallenes Kloster auf einer abgelegenen Privatinsel, von deren Existenz kaum jemand weiß. Diese Vampire bringen Heerscharen von Dienstboten mit – Butler, Mägde, Köche, Lakaien und so fort.«
Ich nickte. Das überraschte mich ganz und gar nicht. Vampire gehörten der alten Schule an – sie würden wie alle Haushalte der früheren Oberschicht jede Menge Personal haben, in Livree gekleidet und mit tadellosen Manieren ausgestattet. Plötzlich passten alle Teile zusammen und fügten sich zu einem Gesamtbild: meine Rolle, unsere Mission, der Unterricht in Gesellschaftstanz und Tischkultur …
»Und ich werde auf die Insel geschmuggelt und spiele dort die Kellnerin.«
Er winkte ungehalten ab. »Benutze nicht immer diesen vulgären Ausdruck, mijita. Du bist keine Kellnerin. Bedienstete klingt viel hübscher.«
»Die Bezeichnung ist unwichtig. Ich werde jedenfalls verdeckt ermitteln.«
»In der Tat. Bei all dem Kommen und Gehen sind die Kontrollen sicher nicht besonders streng. Ich hoffe, dass wir unbemerkt landen können. Vor Ort habe ich Verbindungsleute, die dich zum Kloster bringen, mit der passenden Kleidung versorgen und dir deinen Platz zuweisen werden.«
Alcántara verließ sich voll auf mich. Und ich würde ihn nicht enttäuschen. Ich wusste, dass ich diesen Auftrag erfüllen konnte. »Welchen Platz?«, fragte ich, begierig, mehr zu erfahren.
»Du musst ein schlichtes Gemüt vortäuschen und eines von vielen hübschen Serviermädchen spielen. Aber in Wahrheit, querida, wirst du der hellste Stern im ganzen Saal sein.« Er strich über mein Haar, und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, gefolgt von einer Hitzewoge. Noch nie zuvor hatte jemand so viel Vertrauen in mich gesetzt – und das beflügelte mich mehr als seine prickelnde Berührung.
Je mehr Zeit wir miteinander verbrachten und je länger wir uns unterhielten, desto mehr schwand mein Argwohn. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, dass wir zusammengehörten, und ich schmiegte den Kopf in seine Hand. Vielleicht war es gar nicht so schlimm, den ersten Kuss von einem Vampir zu erhalten. Vielleicht war es genau das wilde Abenteuer, das einer Geheimagentin den nötigen Kick verschaffte.
Ich dachte an Ronan und die wenigen Augenblicke, in denen wir uns nähergekommen waren. Aber Ronan hatte immer kühle Distanz gewahrt, während Alcántara sich beeindruckt zeigte, mich bewunderte und mit Schmeicheleien überhäufte. Es war ein schönes Gefühl, endlich einmal als Frau wahrgenommen zu werden.
Seine Hand glitt tiefer, streifte meinen Hals. Ich spürte seine kühlen Finger im Nacken. »Du wirst die Suppe servieren und Wein einschenken und dabei genau auf ihre Gespräche achten. Wir brauchen einen Hinweis, der uns zu Carden führt – falls er noch lebt.«
»Das schaffe ich.« Meine Stimme klang laut und zuversichtlich.
»Das war mir sofort klar, als ich deinen Lebenslauf las, querida. Als ich dein Foto sah. Ich wusste, dass du uns bereichern würdest.« Er umschloss meine Finger mit beiden Händen und strich mit dem Daumen in sanften kleinen Kreisen über meine Handinnenfläche. »Verstand und Schönheit, gepaart mit großer Kraft und Bescheidenheit. Du bist perfekt für diese Mission geeignet.«
Dieser heißblütige spanische Vampir hatte alles, was ich an Ronan vermisste. Das Misstrauen, das ich anfangs in seiner Gegenwart empfunden hatte, schwand, und zurück blieb nur meine Faszination.
Seine Worte lösten einen nie gekannten Nervenkitzel aus. Ich war nur knapp eins sechzig, aber ich fühlte mich so groß und sexy wie James Bond und Lara Croft zusammen und dachte an die tollen Geheimaufträge, die sie an atemberaubenden Schauplätzen durchgeführt hatten. »Das klingt alles so aufregend.«
»Mäßige deinen Enthusiasmus, acarita. Falls du an jenem Ort von unseren Feinden enttarnt wirst, droht dir ein grausameres Schicksal, als du es dir vorstellen kannst.«