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Ronan war zurück?

Kein Grund zur Aufregung, sagte ich mir. Er war nicht allzu lange fort gewesen. Und er bedeutete mir nichts, so wie ich ihm nichts bedeutete. Gut, er hatte mir im letzten Semester zur Seite gestanden, und wir hatten uns ein wenig angefreundet, aber ich ging mal davon aus, dass er in mir so etwas wie eine Spezialaufgabe sah. Wahrscheinlich kriegten Sucher Pluspunkte, je länger ihre Schützlinge überlebten.

Außerdem hatte er sich verdammt rar gemacht, nachdem ich den Semesterwettbewerb gewonnen hatte, ganz im Gegensatz zu Master Alcántara, der mir seitdem immer mehr Aufmerksamkeit schenkte. Vielleicht hatte Ronan seine Spezialaufgabe erfüllt und überließ meine Betreuung nun den Vampiren – so furchteinflößend sich das anhörte.

Das Wiedersehen mit ihm konnte eigentlich keine große Sache sein.

Weshalb schnürte es mir dann die Brust zusammen, als ich die Stufen zum Eingang des Speisesaals erklomm? Garantiert nicht seinetwegen, redete ich mir ein. Eher weil jetzt mittags alle Welt zum Essen strömte. Sucher, Acari, Vampir-Anwärter und Wächter – obwohl es von Letzteren nur sehr wenige gab. All die verfeindeten, eifersüchtigen Cliquen … und je mehr ich mich bemühte, nur ja nicht aufzufallen, desto stärker rückte ich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Genau. Das war der einzige Grund für meinen Stress. Nicht Ronan.

Einen Moment lang schloss ich die Augen und bereitete mich auf das Getümmel vor. Ich dachte an die älteren Mädchen, denen ich im Speisesaal ebenfalls begegnen würde – die sogenannten Eingeweihten, die schon einen Teil ihrer Unterweisung absolviert hatten. Zu ihnen gehörten die in der Regel freundlichen Stockwerk-Aufseherinnen wie Amanda, die mich schon oft gegen die Gehässigkeiten der anderen Mädels in Schutz genommen hatte, aber auch die Elitetruppe der Guidons, die uns Acari mit brutaler Härte behandelten.

Ich blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Dieser Saal macht mich immer ganz fertig.«

Yasuo stieß die schwere Eichentür auf und schob mich über die Schwelle. »Ach was. Du bist nervös, weil es Zeit für den nächsten Drink wird.«

Ich legte eine Hand auf den Bauch. »So ausgedörrt bin ich auch wieder nicht.«

»Quatsch, Blondie. Ich meine das Blut. Dein Körper hat sich an das Blut gewöhnt. Er weiß, wann du die nächste Dosis brauchst.«

Ich schauderte bei dem Gedanken, obwohl ich wusste, dass er recht hatte. Unwillkürlich fuhr ich mit der Zunge über den Riss in meiner Lippe und merkte, dass ich bei dem metallischen Geschmack tatsächlich so etwas wie Durst empfand.

Erst als ich merkte, dass Yasuo sich versteifte, legte ich eine Hand auf den Mund. Hey, bloß nicht wieder diesen Zirkus! »Tut mir leid, Alter.«

Aber diesmal lachte er nur und nickte seinen Kumpels zu, die sich an einem der langen Tische versammelt hatten. Die Jungs sahen aus wie eine Horde Superstars aus dem Disney Channel – zu alt, um als Teenies durchzugehen, und zu jung, um schon mit Männern mitzuhalten.

Ich entdeckte Yasuos Freund Josh und mied bewusst den Blickkontakt zu ihm. Josh hatte letztes Semester versucht, mit mir zu flirten, und da es nicht viele Jungs gab, die mit mir flirteten, hatte ich ihm sofort misstraut. Später war er dann oft mit meiner Erzfeindin zusammen gewesen. Ich hatte seit Lilous Verschwinden nicht mehr mit ihm geredet und wollte dieses Gespräch auch noch hinausschieben, solange es ging.

»Spiel du mit den Jungs«, sagte ich zu Yas. Ich hatte inzwischen meine Betreuerin Amanda erspäht, die mir sicher Auskunft geben konnte, was genau ich tun musste, um die Verletzung zu »versorgen«.

»Wird gemacht.« Er verabschiedete sich mit einem breiten Grinsen. »Bis später, Blondie.«

Ich fing Amandas Blick auf, und sie deutete auf den leeren Stuhl neben sich. Ich nickte, deutete jedoch auf das Salatbüffet und formte die Lippen zu einem »Essen fassen«. Frischkost war auf der Insel selten, und wenn man nicht gerade ein Rüben-Fan war, musste man sich etwas von dem begehrten Grünzeug auf seinen Teller schaufeln, bevor nichts mehr übrig war.

Ich drängte mich zu ihrem Tisch durch, das Tablett beladen mit einer großen Portion Salat, der verdächtig nach Unkraut aussah, einer Schüssel Karottensuppe, einem knusprigen Brotranken und dem unerlässlichen Glas Blut. Es war eisgekühlt und hatte die Konsistenz von Hustensirup, aber es war nun mal Blut, und deshalb wunderte ich mich immer wieder, wie leicht es flutschte – mehr noch, wie sehr mein Körper inzwischen danach verlangte.

»Acari Drew.« Amanda blinzelte mir kurz zu, und meine Anspannung löste sich ein wenig. Meine Betreuerin war eine Schwarze von klassischer Schönheit, mit einem offenen, herzförmigen Gesicht und schulterlangen Dreadlocks. Und obwohl sie lässig am Tisch saß und lächelte, war sie respektgebietend. Ich hatte bisher nicht den Mut aufgebracht, sie nach ihrer Vergangenheit zu befragen, aber sie kam mir weit klüger und reifer vor, als es ihre zwanzig Jahre vermuten ließen.

Jedenfalls bewunderte ich sie grenzenlos.

»Mahlzeit, Schätzchen«, begrüßte sie mich mit ihrem starken Cockney-Einschlag. Sie warf einen Blick auf mein Tablett und runzelte die Stirn. »Sei vorsichtig mit dem Salat, aye? Der ist am Umkippen.«

»Danke.« Ich ließ mich auf den Stuhl neben sie fallen, froh darüber, dass noch niemand sonst am Tisch saß. Das war wohl auch der Grund, weshalb sie mich so gleichberechtigt behandelte – in Gegenwart der anderen Eingeweihten hätte sie das wohl nicht gewagt. Aber seit Ronan sie gebeten hatte, ein wenig auf mich aufzupassen, war sie immer besonders nett zu mir.

Wie zur Bestätigung meiner Theorie versteifte sich Amanda, als eine andere Eingeweihte auf unseren Tisch zukam. Sie setzte eine strenge Miene auf, und die beiden nickten sich kühl zu.

Das Mädchen ging weiter, und obwohl Amandas Anspannung sichtlich nachließ, sprach sie jetzt so leise, dass nur ich sie verstehen konnte. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern ich mal von hier abhauen und versacken würde!«

Ich sah sie verwirrt an, und sie verdrehte die Augen. »Bist du so begriffsstutzig, Drew, oder tust du nur so?« Sie zog ihr Tablett näher heran und pulte ein bräunliches Blatt aus ihrem Salat. »Im Klartext – ich sehne mich nach einem Pub, wo ich mir ein Pint Dunkles und eine große Tüte Kartoffelchips reinziehen könnte!«

»Ach soo!« Ich nickte. »Mein Traum wäre ein richtig knackiger Salat, nicht dieses Scheißzeug hier, vielleicht mit Fetawürfeln und schwarzen Oliven. Und danach einen Vanille-Shake von Mickey D.« Jetzt warf sie mir einen verständnislosen Blick zu. »McDonald’s«, klärte ich sie auf.

Sie schnitt eine Grimasse. »Salat und ein Milchshake? Verfehlt das nicht völlig den Zweck?«

Ich strich ein wenig Butter auf mein Brot. »Mädchen brauchen bekanntermaßen viel Calcium.«

»Dieser Schnell-Fraß ist doch total ungesund!« Sie schüttelte ihre Dreadlocks. »Und schmeckt zum Abgewöhnen!«

Ich zuckte mit den Achseln und biss lächelnd in das noch ofenwarme Brot. Eines musste man dem Küchenpersonal lassen: Vom Backen verstanden sie mehr als von einem Salatbuffet. Ich hielt eine Hand vor den Mund, um keine Brösel in der Gegend zu verteilen, und entgegnete: »Finde ich nicht. Ich stehe auf Burger und Co.«

Sie sah mich streng an. »Mit vollem Mund spricht man nicht, Schätzchen. Lass dich nicht von den Vamps erwischen! Die setzen dich zwei Monate lang neben Master Dagursson, damit du Manieren lernst.«

Ich schluckte und warf ihr einen missmutigen Blick zu. »Könnte denen mal jemand flüstern, dass wir im einundzwanzigsten Jahrhundert leben? Außerdem bin ich schon zur Höchststrafe verdonnert. Den ganzen Sommer hindurch Anstandslehre! Muss ich für meine erste Mission wirklich wissen, wie man Walzer tanzt, einen schönen Knicks macht oder das Tafelbesteck richtig anordnet und benutzt?«

»Stell diese Dinge nicht in Frage!«, entgegnete sie scharf, und ich fragte mich unwillkürlich, ob ihre knappe Antwort so düster gemeint war, wie sie klang.

Jedenfalls hatte ich den Wink verstanden und wechselte rasch das Thema.

»Hey, um noch mal auf die Höchststrafe zurückzukommen – wann kriege ich eigentlich meine nächste Zimmergenossin?«

Sie schüttelte den Kopf und stieß ein frustriertes Stöhnen aus.

»Nerve ich dich irgendwie?«, fragte ich betont lässig und rührte in meiner Suppe, damit sie schneller abkühlte.

Sie verschränkte die Arme. »Was mache ich bloß mit dir?«

Ich fing ihren Blick auf und merkte, dass sie eher belustigt als wütend war. Erleichtert lächelte ich sie an, doch das hatte zur Folge, dass die Unterlippe sofort wieder aufriss. Ich fuhr mit der Zunge darüber und schmeckte Blut. »Autsch!«

Da ich die Erfahrung gemacht hatte, dass das Vampirblut den Heilungsprozess beschleunigte, griff ich hastig nach meinem Glas. Eigentlich wollte ich nur einen Schluck trinken, aber dann kippte ich den ganzen Inhalt in einem Zug herunter.

»So ist es gut«, sagte Amanda. »Das wird dir Kraft geben … denn eigentlich bist du fast noch zu jung für eine solche Mission.«

Der Geschmack von eisgekühltem Blut überlagerte den Geschmack des Bluts auf meiner Lippe wie Metall auf Metall, und die Lust, die mich plötzlich erfasste, jagte mir einen Schauer über den Rücken. Das Ganze war so unheimlich. Angenommen, mir gelang die Flucht von der Insel – würde mir dann das Vampirblut fehlen? Musste ich gar mit Entzugserscheinungen rechnen? Ich bemühte mich, diesen Gedanken zu verdrängen.

Ich stellte das Glas mit gespielter Siegesmiene ab. »Also, zurück zu meiner neuen Zimmergenossin –«

Das Glück, ein Einzelzimmer zu bewohnen, war mir sicher nicht mehr lange beschieden. Und ich wünschte mir sogar Gesellschaft, auch wenn sich das seltsam anhörte. Der Raum kam mir so leer vor, und ich geriet geradezu in Panik, wenn ich Lilous abgezogenes Bett in der Ecke stehen sah. Der steife graue Matratzendrillich und das grauweiße Inlett des gereinigten, zusammengefalteten Bettzeugs erinnerten mich ständig daran, dass ich ein Mädchen getötet hatte.

Nicht nur ein Mädchen. Ich hatte mehrere Acari getötet, um selbst zu überleben.

»Da musst du schon warten, Schätzchen, bis die nächste Ernte eintrifft«, meinte Amanda.

»Gute Wortwahl.« Ich nickte weise, denn ich fand, dass die Vampire in uns nichts anderes sahen als Wegwerfmaterial, das man jederzeit verbrauchen und ersetzen konnte. »Die nächste Ernte …«

Sie sah mich verwirrt an. »Wenn du meinst.«

Ich erspähte meine Freundin Emma. »Hier kommt gerade eine schöne Portion Körnerfutter.« Ihr feuchtes rotbraunes Haar war glatt nach hinten gekämmt. Verletzte Lippe oder nicht, plötzlich war ich froh, dass ich den Vormittag mit Walzerschritten verbracht hatte, anstatt von den Wellen an den Strand gespült zu werden. »Sieht so aus, als hätte Sucher Otto sie in die Brandung gescheucht.«

Aber dann wanderte mein Blick zu der Gestalt, die nach ihr den Speisesaal betreten hatte. Ronan. Emma stellte sich zum Essenfassen an, und er kam geradewegs auf uns zu. Ich straffte die Schultern und spürte, dass mir das Brot plötzlich schwer im Magen lag. Ronan hatte uns das ganze letzte Semester in Sport unterrichtet – verdammt, er hatte mir sogar das Schwimmen beigebracht. Warum also schämte ich mich plötzlich für meine sandige Sportkluft?

»Amanda«, begrüßte er meine Betreuerin. »Annelise.«

Die Zunge klebte mir am Gaumen. Er war der einzige Mensch auf dieser Insel, der es wagte, mich mit meinem Vornamen anzusprechen, und der Klang brachte mich noch jedes Mal aus dem Konzept.

Er wandte den Blick nicht von mir ab, aber seine Augen wirkten so ausdruckslos, dass ich nichts darin lesen konnte. Dann entdeckte er meine aufgerissene Unterlippe. »Was –«

Ich unterbrach ihn mit einem hastigen »Hallo«. Was ich jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, waren Fragen nach dem Wie, Wer und Warum. Deshalb wich ich den forschenden grünen Augen aus und verdrängte den Eindruck, dass eine Spur von Trauer über seine Züge gehuscht war. Von Trauer wollte ich im Moment auch nichts wissen.

Er nickte, als könnte er meinen Gedanken folgen, und verdammt noch mal, wahrscheinlich konnte er das auch.

Amanda schob ihr Tablett weg, damit er an der Stirnseite des Tisches Platz nehmen konnte. »Wo warst du denn die ganze Zeit?« Sie musterte die kleine Schlange, die noch an der Essensausgabe wartete. »Vielleicht solltest du dich zuerst am Buffet anstellen. Viel ist nicht mehr da.«

Aber Ronan hatte offensichtlich wenig Hunger. Er setzte sich und legte die Fingerspitzen aneinander, als überlegte er etwas. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er mich an. Dann zog er einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und schob ihn zu Amanda.

Sie wurde blass, soweit man das von Gesichtszügen sagen konnte, die den Schimmer eines dunklen, glatt polierten Steins hatten. Dann ließ sie ihren Blick rasch durch den Speisesaal schweifen, als wollte sie sich vergewissern, dass niemand in unsere Richtung schaute. »Danke, du bist ein Schatz«, sagte sie mit merkwürdig gepresster Stimme.

Ich schaute von Amanda zu Ronan und wieder zu Amanda, und mein Magen verkrampfte sich.

Oho. Nur oho.

Wie es schien, hatten Amanda und Ronan eine kleine heimliche Affäre laufen.