33

Kaum hatte Kate das Haus verlassen, wurde ihr klar, dass sie auf Craig hätte warten sollen. Der aber befand sich in der juristischen Fachbibliothek und überprüfte Quellenangaben. Er hatte versprochen, in zwei Stunden zurück zu sein, und Kate wollte in der Zwischenzeit einen Spaziergang über Port Meadow machen.

»Es wird allmählich Zeit, Jon einzuweihen«, hatte Craig gesagt. »Auf uns wird die Polizei nicht hören, aber sicher auf Jon. Schließlich hat er früher für ihre Londoner Kollegen gearbeitet. Wenn es wirklich Estelles Schal ist, den wir am Fenster der Akins gesehen haben, dann ist die Sache bitterernst. Wir als Amateure sollten ab sofort die Finger davon lassen und die Angelegenheit in die Hände von Profis legen. Wenn Jon heute Abend nach Hause kommt, machen wir ihm einen Drink, setzen uns gemütlich hin und erzählen ihm von unserem Verdacht.« Natürlich war das ein vernünftiger Vorschlag, dem Kate nur zustimmen konnte. Dennoch wusste sie genau, dass sie sich nicht vom Haus der Akins würde fernhalten können.

Es war drei Uhr. Frances und Ben hatten ihr Mittagessen vermutlich beendet und waren in die Buchhandlung zurückgekehrt. Kate hatte keinen bestimmten Plan. Zunächst würde sie überprüfen, dass auch wirklich niemand bei ihnen zu Hause war, um danach wahrscheinlich noch einmal in den Garten zu gehen. Sie stand vor der Haustür und überlegte, welche Klingel sie zuerst betätigen sollte.

»Wie langweilig Sie doch sind, Kate. Man kann ganz genau vorhersagen, was Sie vorhaben. Wussten Sie das?«

Die Stimme kam von hinten, gleichzeitig drückte etwas Scharfes auf die Stelle unterhalb ihres linken Schulterblattes.

»Ja, Sie haben richtig geraten. Es ist ein scharfes Messer. Hervorragende Qualität. Edelstahl, made in Germany. Die Tür ist übrigens offen. Drücken Sie einfach dagegen, und gehen Sie nach rechts.«

Kate hielt es für vernünftiger zu tun, was man ihr sagte. Sobald sie die Situation genauer erfasst hatte, würde sie entscheiden, ob Widerstand möglich war.

Der Flur erwies sich als klein, quadratisch und dunkel. Rechts und links gingen jeweils dunkelgrün gestrichene Türen ab, die mit den Buchstaben A und B gekennzeichnet waren. Kate fühlte sich an ihre Schulzeit erinnert.

»Drücken Sie die Klinke. Die Tür ist nicht abgeschlossen. Heute Mittag war ich mit anderen Dingen beschäftigt, aber Ben hat Sie und Ihren Freund im Auto bemerkt. Sie hantierten mit einer Karte herum, und Ben fragte sich, was Sie hier zu suchen hätten. Als er sich schließlich in seine Wohnung zurückgezogen hat, habe ich mich im Garten umgesehen und festgestellt, dass das Tor aufgebrochen war. Das war heute Morgen, nicht wahr? Die Aufmerksamkeit unserer Nachbarn lässt wirklich zu wünschen übrig. Und jetzt sind Sie schon wieder hier, um herumzuspionieren. Allerdings war mir klar, dass Sie zurückkommen würden, sobald Sie uns wieder im Laden vermuteten. Wie schon gesagt – Ihr Verhalten ist äußerst vorhersehbar, Kate.«

Kate war durch die rechte Tür in einen weiteren kleinen Flur getreten, der ebenso düster war wie der erste. Ein schmaler Durchgang führte zum hinteren Teil des Hauses, eine mit dunkelgrünem Teppich ausgelegte Treppe verschluckte auch das letzte Licht. Hinter Kate fiel die Tür ins Schloss. Ein Schlüssel wurde gedreht.

»Gehen Sie die Treppe hinauf«, befahl Frances. »Nehmen Sie Jacke und Schuhe gleich mit. Wir wollen doch keine Spuren für Ihren Freund Craig hinterlassen, nicht wahr? Wo ist er überhaupt? Sollte er nicht auf Sie aufpassen? Konnten Sie ihm heute Nachmittag entwischen? Aber vielleicht liegt ihm auch nicht so viel daran wie Ihnen, die Privatsphäre anderer Leute zu verletzen und sich in ihr Leben einzumischen.«

Frances klang alles andere als freundlich, geschweige denn schüchtern. Kate riskierte einen Blick hinter sich. Oh ja, es war Frances, die sie mit dem Messer bedrohte – nicht etwa Ben.

»Immer weiter die Treppe hinauf, Kate. Wir wollen ganz nach oben, wie Sie sich nach heute Morgen vielleicht schon denken können. Übrigens werde ich Ihnen den Schaden an unserem Gartentor natürlich in Rechnung stellen.«

Nun, das klingt immerhin ermutigend, dachte Kate. Die Vorstellung, dass sie nach Hause zurückkehren und eine Rechnung erhalten würde, erschien ihr in diesem Moment überaus tröstlich. Erneut pikste sie das Messer in den Rücken. Aber vielleicht täuschte sie sich auch, und möglicherweise musste ihr Testamentsvollstrecker die Rechnung begleichen. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie immer noch kein Testament aufgesetzt hatte. Sie sollte sich endlich einmal darum kümmern. Falls sie Glück hatte und entwischen konnte.

»Sie reden heute viel weniger als sonst«, stellte Frances fest. »Haben Sie keine Ansichten, mit denen Sie mich langweilen wollen? Sie wissen nicht, was Sie von mir halten sollen, nicht wahr? Sie haben die richtige Schublade für mich noch nicht gefunden.«

Bin ich tatsächlich so durchschaubar?, überlegte Kate unwillkürlich. Offenbar schon!

»Nur noch eine Treppe«, sagte Frances munter. »Sie werden sehen, es ist ein gemütliches, kleines Apartment. In sich abgeschlossen. Eigentlich wollte ich es an eine berufstätige Einzelperson vermieten, aber mir widerstrebt die Vorstellung, dass ein Fremder morgens und abends über meine Treppe geht, fernsieht, Radio hört, vielleicht Freunde einlädt – und das alles nur ein paar Meter über meinem Kopf.«

Sie waren vor einer weiteren dunkelgrünen Tür angelangt, die über ein solides Schloss verfügte und deren Farbe in den 1970er Jahren modern gewesen sein musste.

»Hier, nehmen Sie den Schlüssel, schließen Sie auf, und gehen Sie hinein. Aber denken Sie daran: Ich bin unmittelbar hinter Ihnen, und dieses Messer hat eine lange, dünne, sehr scharfe Klinge. Ich benutze es normalerweise, um Schinken zu schneiden, allerdings können mein Bruder und ich uns so etwas in letzter Zeit kaum noch leisten.«

Kate fand sich in einem Flur wieder, von dem vier Türen abgingen. Hier waren die Türen weiß, die Tapete war beigefarben und der Fußboden mit einem langweiligen grünen Teppich ausgelegt.

»Legen Sie Ihr Handy auf den Tisch, und treten Sie einen Schritt beiseite«, befahl Frances.

Kate gehorchte. Frances griff mit der freien Hand nach dem Telefon und ließ es in ihre Tasche gleiten.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, forderte sie Kate ohne die geringste Ironie auf. »Ich muss jetzt wieder ins Geschäft, aber ich komme später wieder. Dann werden wir entscheiden, was ich mit Ihnen anfange.«

Kate spielte kurz mit dem Gedanken, sich auf Frances zu stürzen und nach dem Messer zu greifen. Doch die Klinge war scharf genug, um gleich mehrere Finger abzutrennen, und Frances passte auf wie ein Schießhund.

»Aber was wollen Sie tun? Sie können mich nicht hierbehalten. Jon und Craig werden sich fragen, wo ich bin, und die Polizei informieren. Und die wird im Handumdrehen hier sein.« Ihre Stimme klang gleichzeitig angespannt und zittrig. Sie wusste, dass sie nicht überzeugend wirkte.

»Glauben Sie das wirklich? Also ich nicht!«

Und damit ging Frances. Sie knipste die Lichter aus und schloss die Tür hinter sich ab.

Sofort wurde es im Flur stockfinster. Kate tastete sich an den Wänden entlang, bis sie einen Schalter fand. Erleichtert stellte sie fest, dass sich das Licht einschalten ließ, auch wenn es nur eine kümmerliche 40-Watt-Birne war. Wie sehr habe ich mich doch in dir getäuscht, Frances, dachte sie. Aber jetzt weiß ich, wie du wirklich tickst.