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»Wir sollten noch einmal rekapitulieren, was wir bisher in Erfahrung gebracht haben«, sagte Kate nach dem Frühstück am folgenden Morgen. Jon war bereits zur Arbeit gegangen.

»Vor allem, was wir über die Humes erfahren haben.« Craig nickte. »Ist noch Kaffee da?«

»Noch eine Tasse von dem starken Zeug, das ich immer für mich mache«, erwiderte Kate und holte eine Espressotasse nebst Untertasse aus dem Schrank. »Reicht das?«

»Vielleicht gibt das Gebräu meinem Hirn den nötigen Kick.«

»Sozusagen als geistiges Überbrückungskabel.« Kate grinste und reichte Craig die Tasse. »Hast du irgendwelche Schlussfolgerungen aus den Informationen gezogen, die wir gestern bekommen haben?«

»Für mich ist Myles durchaus ein möglicher Verdächtiger, was Estelles Entführung betrifft. Seine Freundin wohnt in der Nähe von North Parade, was bedeuten könnte, dass sie ein möbliertes Zimmer in Jericho hat. Wenn er von ihr kam und in sein Büro wollte, hätte er die Walton Street entlangfahren müssen. Mit Sicherheit hätte er Estelle auf dem Weg zum Bahnhof erkannt.«

»Aber halb acht ist ziemlich früh, um ins Büro zu gehen, oder?«

»Bis er Estelle traf, könnte es durchaus schon zwanzig oder sogar zehn vor acht gewesen sein. Außerdem ist das bei weitem nicht zu früh, wenn man um neun Uhr ein Meeting mit einem Klienten hat und noch etwas vorbereiten muss. Und Estelle hätte sich sicher nicht lang geziert. Bestimmt war sie erleichtert, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Immerhin ist er ihr Schwager. Sie wäre garantiert sofort zu ihm ins Auto gestiegen.«

»Und wo hätte er sie hingebracht?«

»An den Ort, an dem er gerade lebte.«

»Also zu seiner Freundin? Und was ist mit dem Meeting um neun?«

»Vielleicht wohnt er ja auch vorübergehend in der Kanzlei. Möglicherweise hat er Estelle einen Kaffee und ein frisches Croissant angeboten, das er sich gerade zum Frühstück gekauft hatte. Vermutlich ist er ein guter Zuhörer. Mit ihm konnte sie wahrscheinlich über Peter reden, wie sie es mit einem Außenstehenden nie gewagt hätte.«

»Klingt logisch. Aber was ist sein Motiv?«

»Peter hat seinem Bruder von dem möglicherweise bombigen Geschäft mit den Büchern erzählt, aber auch, dass Austin Estelle entführt hat und den Gewinn von ihm einfordert. Was auch immer Austin uns erzählt hat, so wie es aussieht, braucht er mehrere hunderttausend Pfund, um die Wohnungen fertigzustellen. Und dieses Geld wollte er von Peter.«

»Aber warum hat er Estelle dann gehen lassen?«

»Weil er kalte Füße bekommen hat. Er ist im Grunde kein schlechter Kerl, nur ist er felsenfest davon überzeugt, dass Peter ihn um sein rechtmäßiges Erbe gebracht hat.«

»So weit wäre der Ablauf klar. Und wie kommt nun Myles ins Spiel? Warum hält er Estelle jetzt fest?«

»Auch er hat ein gewisses Anspruchsdenken. Sein Leben lang hat Peter immer wieder für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt. Inzwischen hat Myles hohe Spielschulden, und seine Frau hat ihn vor die Tür gesetzt. Während Estelle bei Austin war, konnte er nicht an Peters Geld heran. Aber dann entdeckt er Estelle plötzlich auf der Straße und beschließt, da weiterzumachen, wo es Austin an Mut fehlte.«

»Ich hätte noch eine andere Theorie anzubieten: Könnte es nicht sein, dass Cathy Estelle auf ihrem Weg zum Bahnhof aufgegabelt hat? Wenn Myles von Adelas Büchern wusste, dann sicher auch Cathy. Und die Sache mit Austin wird ihr ebenfalls bekannt gewesen sein.«

»Aber sie braucht kein Geld. Sie hat doch diesen sagenhaft reichen Freund.«

»Aber selbst Charley wird von der Vorstellung eines bis zum Dachfirst mit Hypotheken belasteten Hauses nicht gerade begeistert sein. Hinzu kommen das ausstehende Schulgeld für die Töchter und die kurz vor der Zwangsvollstreckung stehende Baustelle. Ganz zu schweigen von den Kreditkartenabrechnungen der gnädigen Frau.«

»Woher willst du wissen, ob das alles stimmt?«

»Du hast doch gesehen, wie viel Cathy trinkt, und das mitten am Tag. Sicher versucht sie so, etwas Unangenehmes zu vergessen. Zum Beispiel ihre Geldsorgen.«

»Du hast recht, die Humes passen wirklich ins Bild. Sie könnten Estelle gekidnappt haben, nachdem sie von Austin kam. Trotzdem glaube ich nicht, dass Estelle bei Cathy festgehalten wird – dort haben wir sogar die Scheunen durchsucht –, und auf Charleys Anwesen halte ich es ebenfalls für unwahrscheinlich. Auch in Peters Cottage haben wir kein Lebenszeichen von ihr gefunden.« Craig blickte Kate an. Plötzlich fiel beiden eine andere, sehr viel schlimmere Möglichkeit ein.

»Sie werden sie doch nicht ermordet haben?«, sprach Kate ihre Befürchtungen schließlich aus. »Was glaubst du? Eigentlich macht es keinen Sinn. Denn dann hätten sie kein Geld von Peter erpressen können.«

»Stimmt«, meinte Craig. »Aber was, wenn es ein Unfall war.«

»Schluss damit. Ich weigere mich einfach, so etwas in Betracht zu ziehen. Wir müssen einfach weitersuchen. Vielleicht besitzen die Humes ja noch ein anderes Haus. Austin hat sie schließlich auch nicht in seinem Zuhause, sondern in seiner Musterwohnung festgehalten.«

»Aber Austin ist Bauunternehmer. Die Humes hingegen stecken finanziell in der Klemme und leben von der Hand in den Mund.«

Kate brühte einen weiteren Becher Kaffee auf. »Damit dein Gehirn in Bewegung kommt«, sagte sie zu Craig und schaltete den Lokalsender des Radios ein. Gerade begannen die Nachrichten. Verdutzt lauschten sie und Craig dem ersten Beitrag und starrten einander an.

»Der Name des Opfers wurde nicht erwähnt«, stellte Craig fest. »Es war nur von einer Leiche die Rede.«

Die Stimme des Nachrichtensprechers wurde nur vom regelmäßigen Tropfen des Wasserhahns am Spülbecken unterbrochen. Kate ging zur Spüle und drehte den Hahn fester zu.

»Wahrscheinlich mit Rücksicht auf die Familie. Die soll so etwas schließlich nicht aus dem Radio erfahren. So wird es doch immer gemacht, oder?«

»Stimmt. Aber dann erfahren wir frühestens um die Mittagszeit, wer gestorben ist und unter welchen Umständen.«

»Immerhin wissen wir, dass das Opfer in einer Anwaltskanzlei an der North Parade gefunden wurde.«

»Vielleicht gibt es dort mehrere Kanzleien.«

»Wir haben aber nur ein Schild gesehen.«

»Selbst wenn es in dieser Kanzlei passiert ist, könnten immer noch Haffney oder John betroffen sein«, meinte Craig. »So hießen die Partner doch, nicht wahr? Vielleicht war es ja auch ein Mandant. Oder jemand, der zufällig zu Besuch war.«

»Ich wünschte, wir wüssten, ob das Opfer ein Mann oder eine Frau ist.« Kate brauchte nicht hinzuzufügen, dass sie neugierig war, ob es sich um Myles oder Estelle handelte.

Der Nachrichtensprecher berichtete inzwischen über die Schließung einer Fabrik in Banbury. Kate schaltete das Radio aus und sagte: »Komm, lass es uns im Internet versuchen. Vielleicht finden wir dort mehr Einzelheiten.« Sie holte ihr MacBook aus dem Arbeitszimmer, platzierte es auf dem Tisch zwischen sich und Craig und klickte auf den Browser.

»Hier sind die Lokalnachrichten.«

»Da steht auch nicht mehr, als wir aus den Nachrichten wissen«, meinte Craig. »Fällt dir niemand ein, der mehr darüber wissen könnte?«

»Nun, ich kann ja schlecht Peter anrufen und ihn fragen, ob zufällig seine Frau ermordet wurde, oder? Das Gleiche gilt für seinen Bruder.«

»Was ist mit den Akins? Oder deiner Freundin Emma?«

»Ich glaube kaum, dass sie mehr wissen als wir.«

»Aber du könntest es doch zumindest versuchen!«

»Wenn wir uns schon danebenbenehmen wollen, dann können wir auch gleich zur Kanzlei gehen und nachschauen. Es ist ja nicht weit.«

»Aber die Polizei hat das Gebäude sicher abgeriegelt.«

»Dann wissen wir wenigstens, ob es sich tatsächlich um das Haus handelt, so wie wir vermuten.«

Sie hüllten sich in Schals und Jacken und zogen ihre Mützen bis zu den Augenbrauen hinunter, um später in der Menge der Schaulustigen nicht erkannt zu werden. Dann gingen sie zur Banbury Road und wandten sich nach Norden.

North Parade war eine schmale Einbahnstraße. Es gab einen Pub, eine Galerie, einige Boutiquen und eine Hand voll Büros, die alle auf der linken Straßenseite lagen.

Wie sie bereits vermutet hatten, wurde die Straße von Polizeifahrzeugen blockiert. Trotzdem waren noch einige Passanten unterwegs.

»Es ist tatsächlich das Haus mit dem Messingschild«, sagte Kate und zeigte auf das Absperrband. »Myles’ Büro wird von der Polizei abgeriegelt.«

»Was nicht unbedingt heißt, dass die Tat etwas mit Myles oder Estelle zu tun haben muss«, meinte Craig, klang aber nicht sehr überzeugend.

»Sie haben also auch davon gehört«, sagte eine Stimme hinter Kate. Sie drehte sich um.

Hinter ihr standen die Geschwister Akin und starrten auf die Tür. »Wir haben es eben in den Nachrichten gehört und sind sofort hergekommen, weil wir wissen wollten, ob es jemand ist, den wir kennen«, erklärte Ben.

»Estelle Livingstone? Myles Hume?«, fragte Kate.

»Estelle ganz bestimmt nicht. Myles wäre eine Möglichkeit. Wir hatten viele Jahre unser Geschäft in der North Parade und kennen eine Menge Leute hier. Jeder von ihnen könnte es sein«, antwortete Frances.

»Ich weiß, es ist furchtbar, aber wir konnten der Versuchung nicht widerstehen, auf diesem Weg nach Jericho zu gehen. Man will es einfach mit eigenen Augen sehen. Ich glaube, das ist nur menschlich«, redete Ben sich heraus.

»Aber wir sollten nicht länger hier herumstehen«, fügte Frances hinzu. »Komm, Ben.«

Ben sah nicht so aus, als wolle er schon gehen. »Wenn sich eine solche Tragödie ereignet, muss man mit anderen Menschen darüber reden, findest du nicht? Es ist so, als brauchte man eine Bestätigung dessen, was geschehen ist. Man will seine Gefühle mit anderen teilen.«

»Ich finde, du wirst sentimental«, meinte Frances knapp. Ganz offensichtlich missbilligte sie das Teilen von Gefühlen jeglicher Art. »Die meisten Leute hier haben einfach nur nichts zu tun und sind neugierig.«

»Wahrscheinlich weiß hier ohnehin niemand, wer das Opfer ist«, stellte Kate fest.

»Die Einzelheiten werden erst publik gemacht, wenn die Familie Bescheid weiß.«

»Aber das hier ist doch die Kanzlei von Myles, oder?«

»Schon«, bestätigte Frances. »Aber seit er auf dem Land lebt, arbeitet er oft von zu Hause aus.«

Kate überlegte, ob sie erwähnen sollte, dass Myles nicht mehr mit Cathy in den Chilterns wohnte, doch dann entschied sie sich dagegen. Nur allzu gern hätte sie Frances gefragt, ob sie wusste, dass Myles eine Freundin hatte, und ob sie vielleicht zufällig deren Adresse in der Nähe der Kingston Road kannte. Doch sie war sich sicher, dass Frances es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht wusste. Eine Klatschtante war sie wirklich nicht.

»Los, Ben«, wiederholte Frances gereizt. »Wir können schließlich nicht ewig hier herumstehen. Erstens ist es kalt, und zweitens müssen wir den Laden öffnen.«

»Du hast natürlich recht«, antwortete Ben lustlos. »Obwohl ich zu bezweifeln wage, dass an einem derart kalten Morgen viele Kunden kommen werden. Wenn Sie wollen, Kate, können Sie ja später noch bei uns vorbeikommen. Schließlich geht man nach einem solchen Vorfall nicht einfach zur Tagesordnung über. Ein Gewaltverbrechen in unserem Viertel – so etwas berührt einen schon!«

»Wieso fühlst du dich derart betroffen?«, fragte Frances kühl. »Du weißt doch nicht einmal, wer das Opfer ist.«

»Wenn es jemand aus dieser Kanzlei ist, dann kennen wir ihn«, entgegnete Ben. »Unsere Familie lässt sich schließlich seit über siebzig Jahren von John, Haffney & Hume vertreten.«

Immer noch streitend machten sich Bruder und Schwester auf den Weg nach Jericho.

»Ich glaube, wir sollten auch verschwinden«, schlug Craig vor. »So wie es aussieht, erfahren wir hier nichts Neues.«

»In gewisser Weise hat Ben recht. Der Mensch ist ein Herdentier, und deshalb sind wir nicht gern allein, wenn so etwas passiert. Wir wollen unbedingt über den Vorfall reden und uns eine gemeinsame Meinung bilden«, sinnierte Kate. Sie folgten den Akins die Straße hinunter.

»Also, ich kann nicht behaupten, dass ich mich gern in einer Menschenmenge aufhalte.«

»Falls es tatsächlich Myles sein sollte, der getötet wurde – was ist dann mit Estelle?«

»Ich habe eben im Getümmel gehört, dass es eine Männerleiche sein soll.«

»Aber Estelle ist seine Schwägerin. Wenn er tot ist und sie vermisst wird, was könnte das bedeuten? Sie könnte …«

»Ich glaube, wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir müssen erst mit Sicherheit wissen, wer das Opfer ist.«

Aber Kate ließ sich nicht überzeugen. Schweigend gingen sie nach Hause.

»Ich muss unbedingt etwas überprüfen«, sagte sie, nachdem sie ihre Mäntel ausgezogen hatten.

Fünf Minuten später saßen sie am Küchentisch. Kate schob ihr Notebook zu Craig hinüber.

»Ja und?«, fragte er.

»Die Akins. Eine Adresse, zwei Telefonnummern.«

»24A und 24B. Ich würde sagen, das sind Nachbarwohnungen.«

»Trotzdem merkwürdig, findest du nicht?«

»Wieso? Sie scheinen einander nahezustehen und sind vermutlich beide unverheiratet. Warum sollen sie nicht nebeneinander wohnen?«

»Würdest du gern unmittelbar neben deiner Schwester wohnen?«

»Ich habe keine. Und du?«

»Ich bin Einzelkind.«

Craig lachte. »Wir taugen also beide nicht dazu, ihr Verhalten zu beurteilen.«

Kate antwortete nicht. Sie trank ihren Kaffee aus und sagte schließlich: »Ich mache einen Spaziergang.«

»Aber das Wetter ist scheußlich: nass, neblig und eiskalt.«

»Trotzdem. Ich brauche Bewegung.«

Aber eigentlich brauchte sie Zeit zum Nachdenken.