31

Als Kate nach Hause kam, arbeitete Craig an seinem Artikel. Genau wie sie selbst es häufig tat, hatte er es sich am Küchentisch bequem gemacht.

»Gibt es Neuigkeiten?«, erkundigte sie sich, um den Moment, in dem sie ihm vom Haus der Akins erzählen musste, noch ein wenig hinauszuschieben.

»Gibt es. Möchtest du ein Sandwich?«

»Ja, gern.«

»Mit Schinken?«

Kate nickte. Craig schenkte zwei Becher Kaffee ein, ohne sich die Mühe zu machen, vorher zu fragen, und schob den Teller mit den Broten über den Tisch. »Ich fürchte, du hattest recht«, sagte er schließlich.

»Also nicht Estelle?«

»Nein. Myles. Es tut mir leid. Du hast ihn ganz gut gekannt, nicht wahr?«

»Eigentlich nicht. Ich habe ihn nur einmal kurz auf Estelles Hochzeit getroffen. Da kann man nicht behaupten, dass ich ihn kannte. Aber er gehört zu Estelles und Peters Familie, und das ist bestimmt ein schwerer Schlag für sie. Und erst recht für Cathy und ihre Töchter. Die Mädchen sind erst sieben und acht Jahre alt.«

»Oh ja, ein gewaltsamer Tod ist immer eine ganz besondere Tragödie«, pflichtete Craig ihr bei. »So ein Ereignis verfolgt die Hinterbliebenen für immer.«

Auf seinem Gesicht lag ein so merkwürdiger Ausdruck, dass Kate vermutete, er müsse früher einmal etwas ähnlich Schreckliches erlebt haben. Schon jetzt empfand sie tiefes Mitleid mit den Betroffenen, mit Peter, mit seiner Mutter Pamela, mit Cathy und den beiden Mädchen. Und natürlich mit Estelle, falls Estelle noch … Nein, daran wollte sie nicht denken!

»Es gibt da eine Verbindung zu Estelles Verschwinden«, erklärte sie.

»Wenn Myles aus finanziellen Motiven getötet wurde, und danach sieht es im Augenblick aus, dann hat es vermutlich mit seinen Spielschulden zu tun und nicht mit Estelle.«

»Vielleicht gab es auch Ärger bei seiner Arbeit. Selbst Familienanwälte haben hin und wieder mit zwielichtigen Gestalten zu tun.«

Wieder kam ihr der Liberty-Schal in den Sinn. Sollte sie Craig erzählen, was sie gesehen hatte?

»Woran denkst du?«, fragte Craig.

»Ich habe auf meinem Spaziergang etwas entdeckt.«

»Und das wäre?«

»Ich bin zum Haus der Akins gelaufen, weil ich es mir einmal ansehen wollte.«

»Das dachte ich mir bereits.«

»Es ist ein großes, dreistöckiges, viktorianisches Haus mit einer Tür in der Mitte, Erkerfenstern auf beiden Seiten und einem ungepflegten Garten. Du weißt sicher, was ich meine. Wahrscheinlich ist es ein Vermögen wert, dabei sieht es so heruntergekommen aus, als ob kein Geld für seine Instandhaltung vorhanden wäre.«

»Die Akins haben erst kürzlich eine Menge Geld in ihren Laden gesteckt, nicht wahr?«

»Ja, nachdem sie die alte Buchhandlung verkauft hatten. Trotzdem wird ihnen das sicher nicht leichtgefallen sein.«

»Sicher nicht.« Er wartete.

»Es sieht aus, als hätten sie das Haus in der Mitte geteilt und dann ausgebaut. Es gibt eine Eingangstür, aber zwei Klingeln. Das ganze Gebäude wirkt irgendwie geheimnisvoll.«

Craig blickte Kate zweifelnd an, unterbrach sie aber nicht.

»Vor allem auf der rechten Seite gibt es überall Vorhänge, Rollläden und Blenden. Ich wünschte, ich wüsste, welche Seite wem gehört, aber ich habe keine Anhaltspunkte gefunden.«

»Du meinst so etwas wie rosa Blümchenvorhänge?«

»Die würden ohnehin nicht dem Stil von Frances entsprechen. Nachdem ich mir von vorn alles angesehen hatte, bin ich nach hinten gegangen. Zwischen den Gärten in der Straße der Akins und denen der Parallelstraße verläuft ein schmaler Pfad. Du kennst das sicher: Links und rechts gibt es hohe Zäune und verschlossene Gartentüren. Eigentlich kann man nichts sehen.«

»Darf ich raten? Das Tor der Akins war nicht verschlossen.«

»Knapp daneben. Ich musste ein wenig nachhelfen, bis der Riegel nachgab.«

»Ich hatte mich bereits gewundert, woher der Staub und das Moos an deiner Schulter stammen. Du hast dir hoffentlich nicht wehgetan?«

»Nicht sehr. Auf jeden Fall bin ich so in den Garten gelangt. Von den Nachbarn war übrigens nichts zu sehen und zu hören. Wahrscheinlich waren die meisten auf der Arbeit.«

»Und was hast du gesehen? Ich nehme doch an, dass du etwas entdeckt hast.«

»Zunächst einmal probierte ich die beiden Hintertüren aus, doch sie waren beide abgeschlossen.«

»Jetzt sag bloß nicht, dass du eine davon eingeschlagen hast!«

»Natürlich nicht. Dann starrte ich auf die Fenster mit den schweren Vorhängen. Eines von ihnen, das sich ganz oben gleich unter der Dachrinne befindet, ist doppelt verglast und hat Innenblenden aus Holz. In einem solchen Zimmer um Hilfe zu rufen, macht absolut keinen Sinn, denn niemand würde es hören. Ich hatte keine Möglichkeit, festzustellen, ob sich jemand in diesem Raum befand. Allerdings habe ich zwischen Glas und Blende etwas Farbiges gesehen. Das Licht war nicht gut – hast du bemerkt, wie düster es draußen ist? –, aber dann kam plötzlich für ein paar Sekunden die Sonne heraus, und ich erkannte einen von Estelles Lieblingsschals. Jedenfalls sah der Stoff ihm sehr ähnlich«, ruderte sie ein Stück zurück.

Craig reagierte nicht gerade überwältigt.

»Das ist aber nicht mehr als eine Vermutung, oder?«, wandte er ein.

»Das Tuch ist sehr groß und quadratisch. Ein feiner Wollstoff, impressionistische rote Blumen auf einem neutralen Hintergrund mit blauem und grünem Paisleymuster am Rand.«

»Hört sich ganz hübsch an, aber wenn der Schal aus einem Kaufhaus stammt, gibt es davon Tausende über das ganze Land verteilt.«

»Estelle? Kaufhaus? Dieser Schal ist ein Designerstück und kostet gut und gern vierhundert Pfund.«

»Um Himmels willen! Bist du sicher? Ich wusste nicht, dass man so viel für ein Schultertuch hinblättern kann.«

Kate seufzte. »Die meisten von uns können es nicht und würden es wahrscheinlich auch dann nicht tun, wenn sie es könnten. Aber Estelle schuftet hart für ihr Geld und gibt es auch für Tücher aus, wenn ihr danach ist.«

»Es sei ihr gegönnt. Und du glaubst, dass du diesen seltenen Schal in einer Ecke des Dachfensters eines Hauses in North Oxford gesehen hast, das einem alteingesessenen und angesehenen Geschwisterpaar gehört?«

»Ich weiß allerdings nicht, in wessen Hälfte, und ich weiß auch nicht, ob beide wissen, dass Estelle dort ist.«

»Darüber muss ich einen Moment nachdenken.«

»Für mich sah es wie ein Hilferuf aus«, sagte Kate. »Ein kleines, mutiges Signal, das in der Hoffnung gesetzt wurde, dass jemand kommt und sie rettet.«

»Es könnte aber auch deine Fantasie sein, die mit dir durchgegangen ist.«

»Aber ich kann dieses Zeichen nicht einfach ignorieren, oder? Zumal seit Myles …«

»Seit Myles tot ist?«

»Ganz genau.«

»Ich bin zwar noch immer nicht überzeugt, dass es da einen Zusammenhang gibt, aber wenn doch, ist wohl eine gewisse Dringlichkeit geboten.«

»Dringlichkeit ist genau das richtige Wort.«

»Hast du das Gartentor gelassen, wie es ist? Können wir noch einmal hinein?«

»Bestimmt. Du meinst also, wir sollten hingehen und die Sache noch einmal genauer in Augenschein nehmen?«

»Ich dachte, ich nehme für alle Fälle meine Kamera mit.«

»Ich hole meine Jacke.«

»Als Erstes müssen wir ganz sicher sein, dass es sich tatsächlich um das Haus der Akins handelt und dass sie dort auch wohnen. Hast du schon mal daran gedacht, dass sie es vermietet haben könnten? Falls nicht, wäre es sinnvoll, herauszufinden, wer auf welcher Seite lebt.«

»Und was schlägst du vor?«

»Wir sehen zu, dass wir um kurz vor eins dort sind, verbergen uns im Gebüsch und beobachten, wer kommt.«

»Ehrlich gesagt missfällt mir die Aussicht, mich an einem eisigen Januartag in einem Gebüsch verstecken zu müssen.«

»Hast du eine bessere Idee?«

»Wir nehmen den Wagen und parken irgendwo in der Nähe, wo wir einen guten Blick auf das Haus haben.«

»Und wenn sie uns sehen?«

»Wir nehmen einfach eine große Landkarte mit, hinter der wir uns verstecken können. Jeder wird denken, dass wir Touristen sind, die sich verirrt haben.« Sie registrierte den zweifelnden Ausdruck auf Craigs Gesicht. »Und wage es nicht, mir zu erklären, dass im Januar nicht gerade viele Touristen unterwegs sind.«