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»Sollen wir zuerst klingeln und dann einbrechen, oder betätigen wir uns sofort kriminell?«, fragte Kate kurz vor Estelles Haustür.

»Wenn sie einen Schlüssel unter der Fußmatte oder in einem Blumentopf hat, brechen wir doch nicht wirklich ein, oder?«

»Hoffentlich hast du recht.«

»Hauptsache es sieht alles möglichst unverfänglich aus, falls uns irgendwelche Nachbarn beobachten.«

»Wir sehen doch beide aus wie ganz normale Mittelklassebürger, also alles andere als verdächtig.«

»Glaubst du nicht, dass jeder Einbrecher, der etwas auf sich hält, heutzutage so aussieht?«

»Sollen wir es mit diesem Blumentopf versuchen?« Kate zeigte auf eine blattlose, dürre Pflanze, deren kümmerliche Existenz keinen anderen Zweck zu haben schien, als einen Schlüssel zu verbergen. Und wirklich – als Kate die Pflanze aus dem Topf hob, fand sie einen Schlüssel.

»Das ist eine wirklich schlechte Angewohnheit von Estelle«, brummte Craig und steckte den Schlüssel ins Schloss. »Jemand sollte ihr das einmal sagen.« Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür, zwei Sekunden später waren sie im Haus.

»Die Vorhänge der Nachbarn haben sich nicht bewegt«, verkündete Kate.

Der Gestank war noch schlimmer als beim letzten Mal und kam offenbar von alten Essensresten, die Peter hatte herumliegen lassen.

Sie sahen sich um, fanden aber nichts, was auf Estelles oder Peters Verbleib hätte schließen können. Schließlich war es Craig, der vorschlug, das Telefon zu überprüfen.

»Sechs Nachrichten«, sagte er nach einem Blick auf die blinkende Anzeige. Er drückte auf den Abspielknopf.

Die ersten beiden Nachrichten boten nichts Interessantes, die dritte fesselte jedoch sofort ihre Aufmerksamkeit.

»Estelle? Hier ist Tracy.« Die Stimme klang jung und rauchig, der Dialekt stammte aus dem Südwesten. »Ich dachte, es wäre gut, wenn Sie Bescheid wüssten: Heute Morgen erhielt ich einen ziemlich merkwürdigen Anruf. Es war irgendein Verrückter, der sich über einen illegalen Bücherverkauf ausließ. Bestimmt hat er sich geirrt, und doch hat der Anruf mir große Angst gemacht. Das wollte ich Ihnen nur sagen.« Die Nachricht war am dreizehnten Januar um zwei Uhr fünfzehn nachmittags aufgezeichnet worden.

Kate und Craig sahen sich an. »Das war bestimmt die Tracy aus Estelles Büro«, stellte Kate fest.

»Und es ging um den Verrückten, den sie schon auf der Haftnotiz an Fiona erwähnte.«

»Ich wünschte, sie hätte sich ein wenig genauer ausgedrückt. Zum Beispiel wäre es hilfreich zu erfahren, ob dieser Verrückte ein Mann oder eine Frau ist.«

»Und um welchen Bücherverkauf es geht.«

Craig drückte erneut auf die Pfeiltaste.

»Pete? Hier ist Cathy. Bist du schon auf dem Weg zu uns? Ich weiß, ich habe dir versprochen, dass du die Scheune benutzen kannst, aber Myles will das Haus verkaufen. Er scheint ziemlich viele Schulden zu haben, und offenbar sind ihm deshalb ein paar üble Burschen auf den Fersen. Du musst also demnächst dein Zeug wieder abholen. Entweder das, oder du einigst dich mit Myles. Allerdings glaube ich, dass du ihn nur mit einer großzügigen Geldspritze umstimmen kannst. Melde dich doch bitte bei Gelegenheit.«

»Was mag er in ihrer Scheune abgestellt haben?«

Sie blickten einander an. »Das ist es, nicht wahr?«, fragte Craig.

»Das bekommen wir nur auf eine einzige Weise heraus. Cathys Adresse steht bestimmt in Estelles Adressbuch«, meinte Kate.

»Was glaubst du, sind wir hier fertig?«, wollte Craig wissen.

»Ich denke schon.«

Sie schlossen die Haustür ab und versteckten den Schlüssel wieder im Blumentopf.

»Seltsam, dass Estelle so vertrauensselig ist«, sagte Kate, während sie den Topf wieder so hinstellte, als wäre er nicht berührt worden.

»Vielleicht ist das die Erklärung«, grübelte Craig. »Als Agentin mag sie knallhart sein, aber wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen geht, ist sie naiver, als wir dachten. Sie hat Peter blind vertraut, als sie ihn heiratete. Ich glaube nicht, dass sie auch nur ahnte, wie er in Wirklichkeit ist. Sie hat Austin vertraut, als er mit ihr in die Chilterns fuhr, und auf dem Weg zum Bahnhof hat sie offenbar noch jemandem vertraut, dessen Namen wir bisher nicht kennen. Jedenfalls stieg sie in sein Auto, vielleicht, weil er ihr einen Kaffee und ein heißes Bad versprach.«

»Für den letzten Teil gibt es allerdings keine Bestätigung«, meinte Kate.

»Aber ich bin mir fast sicher, dass es der Wahrheit ziemlich nahe kommt.«

In der U-Bahn zum Bahnhof Paddington sagte Craig plötzlich: »Wir haben noch immer nicht darüber nachgedacht, was wir Jon sagen wollen.«

»Können wir das nicht noch ein paar Tage verschieben?«

»Aber sicher.«

Auf dem Rückweg im Zug war Kate ungewöhnlich schweigsam, was Craig Gelegenheit verschaffte, über ihre letzten Entdeckungen nachzudenken.

Inzwischen lehnte er es ab, Kates Sorgen wegen Estelle herunterzuspielen, wie Jon ihn eigentlich gebeten hatte. Estelle war tatsächlich entführt worden. Zunächst nur halbherzig von Austin Brande, aber dann war sie auf dem Weg nach London erneut spurlos verschwunden. Jeder vernünftige und liebevolle Ehemann hätte längst die Polizei alarmiert, vor allem, wenn er tatsächlich eine Lösegeldforderung bekommen hatte. Doch Peter schien viel zu sehr damit beschäftigt, seine zweifelhaften Machenschaften zu verbergen, als dass er um Hilfe gebeten hätte. Was war das für ein Mann, der offenbar das Leben seiner Frau riskierte, um ein paar mehr oder weniger wertvolle Bücher zu verkaufen?

Vielleicht liegt genau darin unser Denkfehler, sinnierte er. Waren die Bücher möglicherweise doch deutlich zahlreicher und kostbarer, als sie bisher vermutet hatten? Was, wenn sie mehrere Hunderttausend Pfund wert waren? Welchen Preis würde Peter für Estelles Rückkehr zahlen?

Gab es vielleicht noch einen anderen Grund als einen vorübergehenden finanziellen Engpass, der Peter dazu bewegte, den warmen Geldregen auf jeden Fall mitzunehmen? Kate und er würden die Humes noch einmal genauer beobachten müssen, wenn sie Peters Motive verstehen wollten. Aber was auch immer dabei herauskam – Fakt blieb, dass Estelle unter ziemlich mysteriösen Umständen verschwunden war. Und diese Tatsache entsprang nicht nur einer von Kates fantasievollen Launen. Niemandem hatte Estelle eine geplante Abwesenheit angekündigt. Und alles, was er bisher über sie erfahren hatte, zeigte ihm, dass ihr ein solches Verhalten absolut nicht entsprach.

Zu Hause trennten sie sich. Kate ging in ihr Arbeitszimmer, Craig in sein Schlafzimmer. Später trafen sie sich in der Küche wieder.

»Ehe Jon zurückkommt, haben wir noch eine Stunde, in der wir uns ungestört unterhalten können«, sagte Kate.

»Okay.«

Craig hatte sein MacBook mitgebracht, legte es auf den Tisch und zeigte Kate, was er gefunden hatte.

»Wie zu erwarten enthält Estelles Adressbuch jede Menge beruflicher Kontakte«, begann er. »Aber es gibt auch ein paar persönliche Einträge. Sie hat das Adressbuch in unterschiedliche Rubriken aufgeteilt: Verleger, Autoren und zum Beispiel auch eine Liste für Weihnachtsgrüße. Manchmal hat sie alle Einzelheiten notiert, also Postadresse, E-Mail-Kontakt und Handynummer, und manchmal hat sie nur E-Mail-Adresse oder Telefonnummer aufgeführt. Todd Erwin habe ich leider nicht finden können.«

Kate blickte ihm über die Schulter. »Wenn wir seine Adresse brauchen, bekommen wir sie bestimmt über das Literaturcafé. Falls das überhaupt nötig sein sollte. Schauen wir uns doch einmal die Liste für Weihnachtsgrüße an«, fuhr sie fort. »Ich könnte mir vorstellen, dass Estelle dort sowohl ihre wichtigsten Geschäftsadressen als auch ihre Freunde abgespeichert hat.«

Craig klickte die Liste an.

»Du liebe Zeit, das sind ja Hunderte von Namen!«, rief Kate. »Verschickt sie wirklich so viele Karten?«

»Am besten, ich drucke sie aus. Dann können wir sie zwischen uns aufteilen. Darf ich den Drucker in deinem Arbeitszimmer benutzen?«

Mit zwei Listen machten sie es sich wieder am Küchentisch bequem und überprüften schweigend die Namen. Die interessanten Einträge markierten sie. Zehn Minuten später fragte Kate: »Hast du etwas gefunden?«

»Nicht viel. Von den meisten Leuten habe ich noch nie im Leben gehört. Sicherlich kennst du mehr von ihnen als ich.« Sie tauschten die Listen.

»Estelle und ich stehen uns nicht sonderlich nah. Aber ich kenne die Namen ihrer Autoren.« Sie schob ihre Liste in die Mitte, sodass beide sie einsehen konnten. »Peter, Cottage. Das sollten wir uns ansehen, meinst du nicht?«

»Unbedingt. Leider gibt es keine Telefonnummer. Und Peters Handynummer haben wir auch nicht.«

»Wahrscheinlich kennt Estelle sie auswendig und hat sie auf eine Kurzwahl gelegt.« Kate zeigte auf den nächsten Eintrag. »Myles und Cathy. Das sind Peters Bruder und seine Schwägerin.«

»Dachte ich mir.«

»Pamela Hume ist die Mutter von Peter und Myles. Allerdings glaube ich nicht, dass sie mehr weiß als wir.«

»Aber vielleicht versteckt Peter sich bei ihr.«

»Gut, behalten wir das im Hinterkopf. Bei dem Eintrag da unten, Matthew und Esmée, handelt es sich um Estelles Eltern.«

»Ah, das könnte uns weiterbringen. Ich wusste nicht, dass es sich um ihre Eltern handelt, weil kein Nachname dabeisteht.«

»Hast du zufällig eine passende Fiona gefunden? In der Weihnachtsliste war zwar eine, aber die wohnt in Hereford.«

»Wie wäre es mit dieser hier? Fiona Ellis. Sie steht in der allgemeinen Liste und wohnt in Westlondon. Mit der U-Bahn braucht sie bestimmt nicht lang bis zur Agentur.«

»Sollen wir sie anrufen?«

Kate griff bereits zum Telefon und wählte. »Hallo? Ist da Fiona Ellis? Guten Abend.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich an Craig. »Es war tatsächlich die richtige Nummer. Fiona befindet sich noch im Skiurlaub. Für diese Zeit gibt es eine Aushilfe, und soweit ihre Mutter informiert ist, wollte Estelle währenddessen in der Agentur sein.«

»Das stimmt mit dem überein, was wir vermutet haben.« Craig griff erneut zu seinem Notebook. »Ich habe eine Liste der Leute gemacht, mit denen wir morgen Kontakt aufnehmen sollten. Charley Hisper steht ganz oben, weil sein Name immer wieder auftaucht und er gerade einmal dreißig Kilometer entfernt wohnt. Danach könnten wir zu Peters Cottage fahren und nachsehen, ob er sich dort verkrochen hat. Von dort aus fahren wir die paar Kilometer zu Myles und Cathy Hume und schauen nach, ob Peter seinen Katalog dort untergebracht hat. Danach habe ich noch Matthew und Esmée auf der Liste. Sie wohnen nicht weit entfernt von Myles. Wenn uns Zeit bleibt, können wir auch dort vorbeischauen.«

»Super. Aber jetzt sollten wir alles schnell wegräumen. Jon kann jede Minute hier sein.«

»Dann öffne doch schon mal den Wein und schenk ein.«

An diesem Abend sprachen Craig und Kate nicht über Estelle. Sie waren übereingekommen, Stillschweigen über ihren Ausflug nach London und die Raubkopie von Estelles Adressbuch zu bewahren. Als Jon fragte, womit sie sich an diesem Tag die Zeit vertrieben hatten, geriet das Gespräch kurzfristig ins Stocken. Beide hielten »Nichts Besonderes« für die beste Antwort. Kate war nicht ganz sicher, ob die schwammige Auskunft Jon wirklich zufriedenstellte.