15

Gegen zehn Uhr gingen Craig und Kate die Woodstock Road hinauf zum Cornbury House. Unmittelbar nachdem Kate geklingelt hatte, wurde die Tür geöffnet, aber es war nicht Adela Carston, die vor ihnen stand. Die Dame zählte etwa fünfzig Jahre, war größer und stämmiger als Adela und wirkte recht herrisch. Sie musterte Craig und Kate sehr genau.

»Ja bitte?«

Kate setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Wir wollen Mrs Carston besuchen. Mein Name ist Kate Ivory, ich bin eine Freundin.«

»Sie hat meines Wissens noch nie von Ihnen gesprochen. Warten Sie bitte hier, ich muss meine Mutter fragen.«

»Sagen Sie ihr, dass ich erst vor wenigen Tagen hier bei ihr war. Wir haben uns auf Estelle Livingstones Hochzeit kennengelernt und unsere gemeinsame Liebe zu Büchern entdeckt.« Kate hatte das Gefühl, dass Adela einen Anhaltspunkt brauchte, wenn sie sich an sie erinnern sollte.

»Bücher?« Die vierschrötige Gestalt drehte sich mit neuem Argwohn um. »Sind Sie etwa an den Büchern meiner Mutter interessiert?« Sie fixierte Kate aus kurzsichtigen grauen Augen. Sie hat absolut nichts von ihrer Mutter, dachte Kate. Eher ähnelt sie dem Foto von Victor. »Wollen Sie etwa welche mitnehmen?«

»Um Himmels willen nein. Ich habe zu Hause selbst genug Bücher, von denen viele noch darauf warten, gelesen zu werden. Ich brauche wirklich nicht noch mehr.«

Die Tür wurde vor ihrer Nase geschlossen. Kate und Craig mussten mehrere Minuten warten, ehe sie hörten, wie sich entschlossene Schritte näherten. Als die Tür erneut geöffnet wurde, schoss eine rote, ziemlich feuchte Katze zwischen ihren Beinen hindurch ins Haus. Ein Schwall warmer Luft schlug ihnen entgegen.

»In Ordnung, treten Sie ein. Ist das Ihr Freund?«

»Darf ich vorstellen? Craig Jefferson, ebenfalls ein Büchernarr.«

Die Frau nahm Craig noch einmal intensiv in Augenschein. »Mein Name ist Diana Brande«, stellte sie sich schließlich vor. »Wie schon gesagt bin ich Mrs Carstons Tochter. Nennen Sie mich bitte Diane.« Ihre Prüfung schien befriedigend ausgefallen zu sein, denn sie lächelte ihnen zu und trat einen Schritt zurück, um sie einzulassen.

Mit einem gewissen Gefühl des Triumphs hatte Kate den Familiennamen der Frau registriert: Brande. Ihre Vermutung war also richtig gewesen: Austin Brande, der Bauherr der verlassenen Baustelle in Jericho, war Adelas Enkel.

»Ist Mrs Carston da?«, erkundigte sie sich. »Geht es ihr gut?«

»Hallo, meine Liebe«, ertönte in diesem Augenblick eine vertraute Stimme hinter Diane Brandes breitem Kreuz. »Mir geht es sehr gut. Diane, würdest du diese netten Leute bitte ins Wohnzimmer bitten? Ich kenne sie gut, und ich habe dir schon früher gesagt, dass du nicht immer so misstrauisch sein sollst.«

Dianes Stirn kräuselte sich kurz, doch schon war der Moment vorüber. Sie führte die Gäste ins Wohnzimmer.

»Ich muss mich entschuldigen«, sagte Adela freundlich. »Meine Tochter hat einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, wenn es um mich geht. Wie geht es Ihnen, Kitty?«

»Kate«, korrigierte Kate sie sanft. »Darf ich Ihnen einen Freund vorstellen? Craig Jefferson.«

Sie setzten sich. Clement war ins Katzenzimmer verschwunden, und Kate war froh, dass ihr der Anblick des Katzengewusels dieses Mal erspart blieb.

»Ich habe gerade Tee für meine Mutter gemacht. Möchten Sie auch eine Tasse?« Sowohl Kate als auch Craig lehnten ab. Diane setzte sich neben ihre Mutter und wandte sich an die Besucher. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragte sie.

»In Jericho«, antwortete Kate.

»Wie genau kommt es zu Ihrem Interesse an Büchern?«

»Ich lebe davon«, antwortete Kate.

»Ach wirklich? Dann sind Sie also im An- und Verkauf tätig?«

»Nein, darum kümmere ich mich nicht persönlich.«

»Mir scheint, Sie hatten in letzter Zeit Probleme mit aggressiven Händlern«, mischte Craig sich nun ein.

»Es gibt Leute, die der Meinung sind, meine Mutter wäre ein leichtes Opfer für Betrüger«, sagte Diane. »Aber dass sie allmählich in die Jahre kommt, heißt noch lange nicht, dass sie schutzlos ist. Immerhin hat sie mich.« Sie legte eine kurze Pause ein, um Kate und Craig Gelegenheit zu geben, ihre respekteinflößende Autorität zur Kenntnis zu nehmen. »Dann sind da noch ihr Enkel sowie einige weitere Familienmitglieder.«

Mrs Carston lächelte und nickte. »Diane kann sehr ungehalten werden, wenn sie glaubt, dass jemand an mein Geld will. Und Austin ist ein wirklich schlauer Junge. Er kauft und verkauft Häuser. Viele Häuser. Unsere Familie ist zwar nicht besonders groß, aber wir stehen einander sehr nah. Erst kürzlich hat sich Diane die Leute von der Stromversorgung vorgeknöpft, nicht wahr, Liebes?«

»Ja«, bestätigte Diane.

»Und jetzt macht sie sich Sorgen wegen dieses netten Herrn. Peter Hume. Sie erinnern sich doch sicher an ihn, nicht wahr, Kitty? Er hat die Tochter meines Freundes Matthew geheiratet. Estelle.«

»Oh ja, ich erinnere mich sehr gut.«

»Er mag ja sehr charmant sein, aber abgesehen von der Tatsache, dass er Matthews Tochter geheiratet hat, weißt du nichts über ihn«, wandte Diane ein.

»Aber Matthews Familie ist sehr respektabel und nicht unvermögend. Estelle würde sich keinesfalls mit einem zweifelhaften Menschen einlassen.«

»Du hast mir selbst erzählt, dass er Lederflicken an den Ellbogen seines Blazers hat. So etwas tragen nur Glücksritter«, begehrte Diane auf.

Kate konnte der Logik dieser Bemerkung nicht folgen. »Ich kenne Peter Hume ebenfalls und halte ihn für absolut integer. Er verdient sich seinen Lebensunterhalt mit dem An- und Verkauf von Büchern. Und ich glaube, es gibt Tweedjacken, bei denen Lederflicken einfach dazugehören.«

»Kennen Sie ihn gut?« Dianes Stimme wurde eine Spur schärfer.

»So gut auch wieder nicht.«

»Aber Sie wissen, wo er wohnt?«

»Er und Estelle besitzen ein Haus in London.«

»Hat er noch weitere Immobilien?«

»Das weiß ich nicht.«

»Wo wohnte er vor seiner Ehe?«

»Soweit ich weiß, in einem Cottage in den Chilterns.«

»Warum interessieren Sie sich so für ihn?«, wollte Craig von Diane wissen. »Will er Ihrer Mutter etwa ein ganz besonders wertvolles Buch abkaufen?«

»Aber nein«, mischte sich Adela ein, ehe Diane antworten konnte, »das ist längst alles unter Dach und Fach.«

»Damit habe ich nichts zu tun«, grummelte Diane.

»Ich habe eben seinen dritten und letzten Scheck bei meiner Bank eingelöst«, sagte Adela. »Jetzt gehören alle Bücher ihm. Ich brauche mich nie mehr um sie zu kümmern und kann auch meine Stromrechnung endlich bezahlen.«

»Aber er hat nicht ansatzweise genug bezahlt«, erklärte Diane.

»Er hat nicht nur das bezahlt, was ich gefordert habe, sondern sogar noch etwas draufgelegt, weil die Preise seit Victors Tod gestiegen sind.«

»Sie sprechen von allen Büchern. Wie viele waren es überhaupt?«, fragte Craig.

»Eine ganze Menge. Ich habe vergessen, wie viele genau. Ich bin nicht mehr die Jüngste, wissen Sie.« Traurig starrte sie in ihre Teetasse.

»Ich würde gern mit Peter Hume darüber sprechen«, sagte Diane. »Aber der Mann scheint vom Erdboden verschwunden zu sein.«

Nun nahm auch Adela wieder am Gespräch teil. »Victor hat mir gesagt, wie viel die Bücher wert sind. Er hat es mir sogar aufgeschrieben. Aber Mr Hume erklärte mir, dass die Preise in letzter Zeit gestiegen wären und dass er es für richtig hielte, mir mehr dafür zu geben. Er hat mir mein Leben sehr erleichtert.«

»Das sagst du jedes Mal«, wendete Diane ein. »Aber solche Art von Betrügern sind immer nette Männer. Damit verdienen sie ihr Geld. Sie beschwatzen Leute wie dich mit viel Charme, ihnen wertvolle Dinge für ein Taschengeld zu überlassen.«

»Sie haben ihm einen Brief geschrieben, nicht wahr, Mrs Carston?«, fragte Kate. »Haben Sie ihn eingeladen, einen Blick auf Ihre Bücher zu werfen?«

»Ja, und er kam sofort. Ich fand es sehr freundlich von ihm.«

»Durchtrieben, würde ich sagen«, konterte Diane. »Er hat sich hier eingeschlichen und meine Mutter überzeugt, ihm die Bücher für einen Bruchteil ihres tatsächlichen Wertes zu verkaufen.«

»Aber gerade das hat Peter Hume doch offenbar nicht getan«, meldete sich Craig mit seiner milden Gelehrtenstimme zu Wort. »Wenn ich alles richtig verstanden habe, hat Ihre Mutter die Bücher Ihres Vaters an einen seriösen Händler verkauft, der ihr mehr als den geforderten Preis dafür gab. Er hat zu keinem Zeitpunkt versucht, sie in irgendeiner Weise zu nötigen. Er kam auch nicht unaufgefordert, sondern auf Einladung Ihrer Mutter und war kein Klinkenputzer. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum Sie so gereizt auf ihn reagieren.«

»Das haben Sie alles ganz richtig gesagt«, lobte Mrs Carston.

»Hast du auch andere Händler eingeladen, sich die Bücher anzuschauen?«, wollte Diane wissen.

»Aber natürlich, Liebes. Aber einer hat überhaupt nicht geantwortet, und die anderen haben sich erst gemeldet, als es schon zu spät war. Ich sagte ihnen, dass die Bücher bereits verkauft wären, und es schien sie nicht weiter zu ärgern.«

Diane beruhigte sich. »Vielleicht hast du ja recht«, sagte sie deutlich sanfter. »Vielleicht waren diese Bücher ja auch nicht besonders interessant für Händler. Trotzdem würde ich mich gern mit Peter Hume über den genauen Ablauf des Geschäfts unterhalten.

»Ein solches Treffen können wir leicht in die Wege leiten«, meinte Kate.

»Sagen Sie. Ich fürchte nur, dass es nicht ganz so einfach ist. Er gab meiner Mutter zwar eine Visitenkarte, aber er geht seit zwei Tagen nicht ans Telefon. Wir haben keine Ahnung, wo er sich aufhält.«

»Ist er verschwunden?«, fragte Kate bestürzt.

»Sie sagen zwei Tage? Dann ist er vielleicht auf Geschäftsreise. Sagen Sie, Mrs Carston, hat er alle Bücher mitgenommen, oder sind noch einige hier, die er später abholen wollte?«

»Erst hat er nur einige mitgenommen. Und das Register natürlich.« Sie versuchte, aus ihrem Sessel aufzustehen, und fuhr aufgeregt fort: »Nach Weihnachten kam er wieder und nahm weitere Bücher mit. Ich glaube, jetzt sind alle fort. Für mich ist es eine wahre Erleichterung. Ich weiß genau, dass seine Visitenkarte auf meinem Schreibtisch liegt.«

»Bleiben Sie sitzen. Ich hole sie Ihnen.« Nun stand Craig auf.

»Beruhige dich, Mutter«, beschwichtigte Diane die alte Dame. »Hast du heute schon deine Tabletten genommen?«

»Ich glaube schon, Liebes.«

»Nun, auf deine Erinnerung allein können wir uns nicht verlassen. Ich sehe mal eben in deinem Pillenspender nach.« Damit verließ Diane den Raum.

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, spürte Kate, wie die Atmosphäre sofort unbeschwerter wurde. Sie lächelte Adela an. »Ich bin sicher, dass alles in Ordnung ist. Machen Sie sich bitte keine Sorgen.«

»Diane nimmt alles so ernst, und ich kann mich nicht immer an alle Leute erinnern, mit denen ich in der letzten Zeit gesprochen habe.«

»Hier ist Peter Humes Karte«, sagte Craig, der an Adelas Schreibtisch stand. »Handynummer und Adresse stehen darauf. Ebenso wie die Festnetznummer. Mal sehen, ob wir ihn für Sie finden können.«

Er schien sich alle Daten aufzuschreiben, obwohl er wissen musste, dass Kate sie bereits besaß. Aber Adela schien erfreut, dass er sich so viel Mühe machte, und Kate ging davon aus, dass Craig genau das beabsichtigte.

Diane kam wieder ins Zimmer. In der Hand hielt sie eine Plastikdose. »Alles in bester Ordnung. Du hast deine Tabletten genommen«, sagte sie. »Ich lege die Dose jetzt in die Küche, gleich neben den Wasserkessel. Dann vergisst du sie auch morgen nicht.«

Kate spürte, dass sie allmählich gehen sollten. Trotzdem gab es noch etwas, was ihr auf der Seele brannte. »Wissen Sie, ob unter den Büchern, die Peter mitgenommen hat, eine Ausgabe von Der Herr der Ringe war?«

»Ich weiß nicht recht.« Dianes Anwesenheit hatte die alte Dame wieder ängstlicher werden lassen.

»Denk doch mal nach, Mutter. Es könnte sehr wichtig sein.«

»Ich weiß es nicht.« Dianes herrischer Tonfall machte es Adela unmöglich, sich zu erinnern.

»Das Werk ist von J. R. R. Tolkien«, half Craig ihr sanft auf die Sprünge. »Und es sind drei Bände.«

»Früher wurde doch alles in drei Bänden geschrieben, oder?«, meinte Adela. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich von diesem Buch je gehört habe.«

Die blauen Augen wurden trüb, und ihre Augenlider senkten sich. Kate begriff, dass Adela Carston sehr müde war. Sie war nicht daran gewöhnt, so viel Besuch zu haben.

»Das ist nicht weiter schlimm«, sagte Craig. »Aber wir müssen jetzt wirklich gehen.«

»Ich fände es schrecklich, wenn Mr Hume etwas Unangenehmes zugestoßen wäre. Aber heutzutage gibt es so viele böse Menschen, dass man sich nie sicher sein kann.«

»Ich bin sicher, dass es ihm gut geht.«

»Und wenn Sie ihn finden, richten Sie ihm doch bitte aus, dass er hier jederzeit willkommen ist. Jederzeit! Ich habe sogar einen Vorrat seiner Lieblings-Ingwerplätzchen angelegt.«

Diane begleitete sie zur Haustür. »Ich hoffe, Ihre Vermutung ist richtig, und er kommt zurück«, sagte sie. »Was glauben Sie, wie lang sollen wir ihm noch geben, ehe wir weiterreichende Maßnahmen ergreifen?«

»Zwei Wochen sollten Sie schon noch warten«, antwortete Craig.

Jetzt war sicher nicht der richtige Augenblick, Diane mitzuteilen, dass Peter Humes Frau ebenfalls verschwunden war, und daher hielt Kate den Mund.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich mich immer so aufrege«, entschuldigte sich Diane. »Aber ich werde wirklich ärgerlich, wenn die Leute meine Mutter ausnutzen wollen. Sie ist ein ausgesprochen vertrauensseliger Mensch und auf mich angewiesen, wenn es um praktische Dinge geht. Ich werde die Sache jedenfalls mit meinem Sohn besprechen und hören, was er dazu sagt.«

»Kate und ich halten Ausschau nach Peter Hume. Falls wir irgendetwas hören sollten, lassen wir es Sie sofort wissen.«

Kate und Craig schlenderten die Woodstock Road hinunter und dachten über die Dinge nach, die sie gerade gehört hatten.

»Ich glaube, Diane hat den Bericht über den Verkauf der Tolkien-Ausgabe gelesen«, sagte Kate. »Sie wollte jedenfalls wissen, ob ihre Mutter die Bücher an Peter Hume verkauft hat und wie viel er dafür bezahlt hat. Mich hingegen interessiert, wer die anderen Händler waren? Leute aus der Gegend vielleicht?«

»Ich habe ihre Namen und Adressen in meinem Notizbuch«, entgegnete Craig. »Einer kommt aus Gloucestershire, einer aus North Oxford und der dritte aus der Innenstadt. Mit den Namen kann ich natürlich nichts anfangen, aber du kennst sie vielleicht.«

»Also das war es, was du dir bei der Suche nach Peters Visitenkarte aufgeschrieben hast.«

»Ich muss zugeben, dass ich mir recht genau angesehen habe, was sich auf ihrem Schreibtisch sonst noch befand.«

»Ausgezeichnet. Hast du noch mehr nützliche Dinge gefunden?«

»Einen Haufen Rechnungen, die Adela handschriftlich als bezahlt gekennzeichnet hat. Das passt zu dem, was sie erzählt hat.«

Als sie die Walton Street erreichten, fiel Kate etwas ein.

»Lass uns einen anderen Weg gehen. Ich möchte mir noch einmal ein Namensschild ansehen, das mir vor ein paar Tagen aufgefallen ist.«

Sie gingen noch ein Stück weiter Richtung Innenstadt und bogen dann nach rechts in eine schmale Straße ab. An der nächsten Ecke waren sie am Ziel.

»Sieh dir das an«, forderte sie Craig auf.

Sie standen vor einer verschlossenen Baustelle. Eines der davor hängenden Schilder war größer als die anderen: Austin Brande, Bauunternehmer.

»Und Dianes Sohn heißt Austin«, stellte Craig fest.

»Adela sagte, dass ihm viele Häuser gehören. Ich denke, sie meinte dies hier.«

»Wohnungen«, sagte Craig, der über den Zaun spähte. »Allerdings ist auf der Baustelle alles ruhig. Viel wird hier nicht gearbeitet.«

Sie gingen um den Zaun herum und fanden eine Lücke, die zwar zu schmal war, um hindurchzusteigen, aber groß genug, um eine bessere Sicht auf die Baustelle zu bekommen. Warnschilder mit Hinweisen auf Wachhunde hingen herum, aber man sah und hörte nichts von ihnen. Trotzdem hatte Kate nicht die Absicht, es darauf ankommen zu lassen.

»Aufgegeben. Allerdings wächst noch kein Gras durch den Beton. Allzu lang kann es nicht her sein, dass hier gearbeitet wurde.«

»So, wie es aussieht, ist nur die Musterwohnung fertig. Ich denke, er hat gehofft, mehrere Wohnungen noch während der Bauphase zu verkaufen, um so an Geld für die restlichen Arbeiten zu kommen.«

»Offenbar ist Austin Brande in ziemlicher Geldnot.«

»Und weil die Banken ihm keinen Kredit eingeräumt haben, hoffte er wahrscheinlich auf eine großzügige Leihgabe seiner Großmutter.«

»Er bat um einen Vorschuss auf sein Erbe, und zwar mit einem so selbstverständlichen Anspruchsdenken, dass Adela ärgerlich wurde.«

In diesem Augenblick begann es zu regnen. Kate und Craig schlugen die Mantelkrägen hoch, senkten die Köpfe und liefen hastig zur Cleveland Road. Beide ärgerten sich, dass sie nicht an einen Schirm gedacht hatten.

»Ich hole uns ein paar Handtücher«, sagte Kate, während sie kurz darauf im Flur die Schuhe auszog und ihren triefenden Mantel in die Küche hängte.

Nachdem sie sich einigermaßen abgetrocknet hatten, setzten sie sich mit einem heißen Kaffee ins Wohnzimmer.

»Lass uns einen Blick auf die Notizen werfen, die du dir zu den Buchhändlern gemacht hast«, schlug Kate vor.

»Hier.« Craig griff nach dem Block. »Sie sind zwar ein bisschen feucht, aber noch lesbar.«

»Mich würde interessieren, wer von ihnen welcher ist.«

»Wie meinst du das?«

»Einer antwortete gar nicht, die anderen zu spät. So ähnlich drückte es Adela aus.«

Craig reichte ihr seine Aufzeichnungen.

»Oh, diesen hier kenne ich!«, rief Kate aus, als sie die Namen las. »Ben Akin und seine Schwester führen ein Antiquariat und saßen bei Estelles Hochzeit mit uns am Tisch. Soweit ich mich erinnere, fragte einer der beiden Adela nach den Büchern ihres Mannes. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich kannten.«

»Wie sind sie so?«

»Groß, blond, gebildet, altmodisch. Sehr englisch.«

»Wie ich sehe, befindet sich ihr Geschäft auch hier in Oxford.«

»Ich hätte gedacht, dass sie geantwortet hätten, selbst wenn sie nicht interessiert waren.«

»Und was ist mit den anderen Namen?«

»Diesen hier kenne ich nicht. Der Laden ist in Worcestershire. Dieser hier ist zwar in Oxford, aber der Besitzer hat sich im vergangenen Jahr zur Ruhe gesetzt. Das Geschäft ist seitdem geschlossen. Das würde erklären, warum er nicht geantwortet hat. Ich denke, die Akins sind unsere beste Option.«

»Es sei denn, sie wussten, dass die Bücher in einem feuchten Keller aufbewahrt und von Adelas Katzen als Toilette missbraucht wurden.«

»Hast du die Katzen gesehen?«

»Das nicht, aber es roch eindeutig nach ihren Hinterlassenschaften.«

»Ich habe mich wahrscheinlich bei meinem letzten Besuch schon daran gewöhnt. Dieses Mal ist mir kaum etwas aufgefallen.«

»Man fragt sich, in welchem Zustand die Bücher von Adelas Mann sind. Wann ist er gestorben?«

»Ich glaube, das ist schon eine Weile her. So etwa zehn, elf Jahre.«

»Ganz gleich, wie gut die Sammlung war, inzwischen hat sie sicher ziemlich gelitten.«

»Glaubst du, dass wir mit Adela auf der falschen Spur sind?«

»Ich fürchte ja. Sie hat sich weder mit Peter noch mit Estelle gestritten. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie bei den beiden in London aufkreuzt und Estelle überredet, mit ihr wegzugehen. Kannst du es?«

»Nein. Außerdem war der Anrufer, den ich mitbekommen habe, eindeutig männlich.«

»Hast du seine Stimme gehört?«

»Nein, aber Peter hat gesagt …«

»Ganz richtig. Und wie groß ist unser Vertrauen in Peter?«

»Aber selbst wenn es eine Frau war, kann es kaum Adela gewesen sein. Kannst du dir vorstellen, dass sie jemanden anruft und bedroht?«

»Nein, das ist richtig. Also sollten wir uns möglichst bald diesen Ben Akin vorknöpfen.«

»Gute Idee. Wir können jetzt gleich hingehen. Das Geschäft ist in Jericho, gerade mal fünf Minuten von hier.«

»Hier steht, dass von ein bis zwei Uhr geschlossen ist. Uns bleibt also noch etwa eine Stunde«, sagte Craig.

»Aber wir müssen auch unbedingt bei Austin Brande vorbeischauen. Ich habe ihn bei Estelles Hochzeit kennengelernt und würde ihn mir gerne noch einmal näher ansehen.«

»Wie war dein erster Eindruck von ihm?«

»Eigentlich ganz positiv. Er liebt seine Großmutter und ist ihr gegenüber offenbar sehr aufmerksam: Er hat ihr Komplimente gemacht und ihr gesagt, wie gut sie aussieht. Mehr habe ich in den zehn Sekunden, die ich ihn gesehen habe, nicht erfahren können.«

Craig lachte. »Das ist aber gar nicht schlecht, selbst für dich.«

Mein Vater. Im Grunde war nichts Besonderes an ihm – nichts, was ihn zum Opfer gemacht hätte. Er war einfach nur ein ganz normaler Mann, der in einer ganz normalen, ruhigen, baumbestandenen Straße wohnte, in der Autos parkten. Die Häuser lagen ein Stück zurück und versteckten sich hinter wuchernden Gärten vor den Blicken neugieriger Nachbarn.

Er war kein Mann, der tiefe Gefühle besaß, oder sie zeigte, falls es doch so war, aber es gab einen Gegenstand, dem er eine wahrhaft leidenschaftliche Liebe entgegenbrachte: sein Auto. An Sonntagen verbrachte er die Zeit, die andere dem Lob Gottes widmeten, mit dem Waschen und Polieren seines Wagens. Er erlaubte mir nie, ihm dabei zu helfen, denn ich war noch zu jung und hätte dem Schmutz, der sich seit dem letzten Sonntag angesammelt hatte, meine Fingerabdrücke hinzufügen können. Den Sommer hindurch beobachtete ich meinen Vater vom Garten aus bei seinen geheiligten Riten, im Winter stand ich am Fenster, weil die Sicht nicht mehr durch Blätter eingeschränkt wurde.

Sein geliebtes Auto. Er fuhr mit einem weichen Tuch über die Windschutzscheibe, er reckte sich über das Dach und bemühte sich, die schwarzen Flecke zu entfernen, die von der Linde darüber stammten und wie Klebstoff am Lack hafteten. Niemals putzte er heftig. Er war so sanft wie eine Mutter zu ihrem Baby, streichelte jede Rundung, wischte vorsichtig über jeden Schmutzfleck und hinterließ eine saubere, spiegelglatte Oberfläche. Ich sah zu, wie er die Dose mit der Chrompolitur schüttelte und von den Stoßstangen sorgfältig die kompakten Überbleibsel von Fluginsekten beseitigte. Er putzte Front-und Heckscheinwerfer, polierte Nummernschilder und wienerte die Seitenspiegel.

Mein Vater fegte das Wageninnere, nahm die Fußmatten heraus und entfernte Schmutz und welke Blätter, die sich im Fußraum angesammelt hatten. Ich sah, wie er mit einem feuchten Tuch über das Armaturenbrett wischte, das Lenkrad desinfizierte und den Schaltknüppel polierte. Mir widmete er sich nie mit so viel Hingabe, und ich bezweifele, dass er meiner Mutter so viel Liebe entgegenbrachte wie seinem Auto. Sein sonst strenges, ja hartes Gesicht, dessen Linien nie von einem Lächeln gemildert wurden, schien bei der Berührung von schimmerndem Metall und Chrom sanft zu schmelzen. Um seine Augen und seinen Mund lag dann ein Ausdruck, den ich sonst nie bei ihm erlebte. Ich nehme an, es war Liebe – reine, vollkommene Liebe, die keine Bedingungen stellt.

Aber was geschah später an diesem Tag? Was sah ich, als ich die Vorhänge zur Seite schob und in den dunklen Samstagabend hinausspähte? Vielleicht haben Sie es schon erraten. Es war eine Gruppe von Jugendlichen, die das einzige Objekt der Begierde meines Vaters zerstörte. Auf der einen Seite stand dieses Auto, auf der anderen befanden sich fünf junge Männer, die mein Vater sicher als Rowdys bezeichnet hätte. Er hasste lange Haare bei Männern, und beim Anblick von Militärutensilien, die als Modeaccessoire in Secondhandläden verkauft wurden, traf ihn fast der Schlag. Mein Vater differenzierte nicht. In seinen Augen handelte es sich samt und sonders um Hippies und Rowdys.

Wo sie herkamen? Sie hatten ein Auto gestohlen und waren in unserer Straße gelandet. Sie leerten ein paar Flaschen billigen Schnaps und sahen sich anschließend nach etwas Unterhaltung um. Dabei entdeckten sie das frisch polierte Auto meines Vaters, dessen Windschutzscheibe im Licht der Straßenlaterne wie ein Diamant funkelte.

Die Liebe, die mein Vater all die Jahre hindurch seinem Wagen gewidmet hatte, interessierte sie nicht. Für sie zählte nur die Freude an der Zerstörung mit einer Brechstange. Und dann kam mein Vater dazu. Kein Wunder, dass ich jemanden schreien hörte. Nachdem sie getan hatten, was sie offenbar tun mussten, drängten sie sich alle in den gestohlenen Wagen und fuhren davon. Das Auto fand man später auf einem Rastplatz etwa anderthalb Kilometer entfernt. Es war angezündet worden, um alle Spuren zu verwischen.

Die jungen Männer wurden nie gefunden und deshalb auch nicht zur Rechenschaft gezogen.

Der Gedanke, dass solch verabscheuungswürdige Menschen das Werkzeug der Gerechtigkeit sein könnten, ist merkwürdig.

Rowdybanden gelten generell als bösartig. Dem würden Sie doch sicher auch zustimmen, oder? Ich jedoch, das kleine Kind, sah sie als meine Retter und meine Helden. Sie kämpften gegen die Ungerechtigkeit, die den Kleinen, Hilflosen und Unschuldigen widerfährt. Sie behandelten meinen Vater so, wie ich es getan hätte, wäre ich nur stark genug gewesen, um eine Brechstange zu schwingen.

Sicher fragen Sie sich, wo meine Mutter während dieser Zeit war. Nun, sie werkelte in der Küche, und das Summen, Fauchen und Pfeifen ihrer Küchengeräte hinderte sie daran, zu hören, was auf der Straße vor sich ging. Ich glaube, es war ihr ganz recht so. Die Küche war ihr Königreich und der einzige Ort, wo sie Macht besaß und Entscheidungen treffen durfte. Bis heute weiß ich nicht, ob sie ahnte, was draußen vor sich ging, und ob sie für die Erlösung aus ihren Fesseln eine Art Dankbarkeit verspürte. Ich habe sie nie danach gefragt.

Die Schreie, das wilde Gebrüll – sie hörte es nicht. In ihrem Gedächtnis würde nicht das Bild des großen, jungen Mannes eingebrannt sein, der beim Zertrümmern der Windschutzscheibe aufblickte, mit seiner Brechstange ausholte und sie auf den Schädel meines Vaters niedersausen ließ.

Gleich danach war alles vorbei. Die Jugendlichen verschwanden und ließen meinen reglosen Vater in einer Blutlache liegen, die sich immer weiter ausbreitete.

Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie losgelöst von allem, ehe mich ein wahres Hochgefühl erfasste. Ich war der Junge, der die Brechstange geschwungen hatte. Endlich war mir die Kraft vergönnt, die ich brauchte. Mein Vater hatte bekommen, was er verdiente, und er war für das, was er mir angetan hatte, bestraft worden.

Sie finden das zu hart? Nicht in den Augen eines Kindes, das kann ich Ihnen versichern. In meinem Kopf war beides ebenbürtig. Die Ungerechtigkeit, die mir durch meinen Vater widerfahren war, beschäftigte mein gesamtes Denken. An etwas anderes konnte ich nicht denken. Er hatte mich geschlagen – sie schlugen ihn. Jetzt war die Welt zur Normalität zurückgekehrt, und mir war Gerechtigkeit zuteilgeworden. Der Ernst dessen, was ich beobachtet hatte, war mir natürlich nicht klar. Ich erwartete, dass sich mein Vater nach einer Weile erheben und reuevoll und gedemütigt ins Haus zurückkehren würde. Als er dies nicht tat, verließ ich meinen Posten und ging in die Küche. »Mama, komm«, sagte ich und zerrte sie in Richtung Eingangstür. Seufzend legte sie die Kartoffel weg, die sie gerade schälte, und folgte mir.

An der Tür blieb ich stehen und sah ihr nach, wie sie durch das Gartentor trat. Ich lauschte. Zunächst geschah nichts. Vielleicht ging es meinem Vater wieder besser, und meine Mutter half ihm auf die Füße. Ich wusste noch nicht, dass der Tod immer von Dauer ist.

Doch dann begann meine Mutter zu schreien. Der Schrei wurde immer schriller, bis ich das Gefühl hatte, er wäre eine Stahlklinge und bohre sich in meinen Schädel. Und er dauerte an, nur dann und wann unterbrochen von einem japsenden Luftholen.

Die Häuser in unserer Straße lagen ein Stück zurück, und niemand hatte den Angriff gesehen. Doch jetzt traten unsere Nachbarn an Fenster und Gartentore, und schon bald rief jemand einen Krankenwagen.

Mein Vater lag fünf Tage im Koma, ehe er starb.

»Wie tapfer du bist«, sagten die Leute, weil ich nicht weinte. »Ein wirklich braves Kind!«