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Bei ihrer Rückkehr freute sich Estelle schon auf den Gin, den ihr Peter sicherlich bereits eingeschenkt hatte. Doch das Wohnzimmer war leer, und auch aus der Küche kam ihr kein appetitlicher Duft entgegen. Dafür hörte sie aus dem grünen Schlafzimmer in der oberen Etage Schritte.

»Was machst du da oben, Peter? Komm und leiste mir Gesellschaft bei einem Drink.«

Estelle schenkte sich ein großzügiges Glas ein. Peters Anteil fiel etwas weniger generös aus. Allmählich gewöhnte sie sich daran, die Freude und den Ärger ihres Arbeitstages mit jemandem zu teilen und vermisste Peters Anwesenheit und Aufmerksamkeit. Was machte er bloß dort oben? Nachdem er zehn Minuten später immer noch nicht aufgetaucht war, ging sie nachsehen.

»Bin schon unterwegs«, sagte Peter, ohne aufzublicken, als sie das Zimmer betrat.

»Ich wundere mich nur ein bisschen.«

»Ja?«

»Über die Holzkästen unten im Flur. Die können wirklich nicht dort bleiben.«

»Schon klar. Ich wollte sie im großen Schrank im grünen Schlafzimmer unterbringen.«

»Das halte ich für keine gute Idee. Das Zimmer soll doch zu einem Ankleidezimmer mit angeschlossenem Bad für dich umgebaut werden.«

»Ist das denn unbedingt notwendig?«

»Aber sicher. Die Pläne sind längst fertig. Der Umbau beginnt innerhalb der nächsten vierzehn Tage. Es ist dir bestimmt angenehmer, exakt eingepasste Regale und eine sinnvolle Aufhängevorrichtung für deine Kleidung zu haben. So kannst du viel leichter Ordnung halten.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich meine Bürosachen fürs Erste trotzdem gern hier oben unterbringen.«

»Aber höchstens für ein, zwei und auf keinen Fall mehr als drei Tage.«

»Einverstanden«, sagte Peter.

Sie sah, dass er den kleinen Beistelltisch als Schreibtisch benutzte. Er saß auf einem so niedrigen Hocker, dass seine Knie beinahe sein Kinn berührten, und durchstöberte eine ganze Sammlung von Katalogen und Indexkarten. Auf seinem Laptop flimmerte eine langweilige Website, und er machte sich Notizen auf einem linierten Schreibblock.

»Was machst du da?«, erkundigte sie sich neugierig.

»Ich arbeite.«

»Gut«, gab sie zurück, obwohl ihre Neugier längst noch nicht gestillt war. »Aber bitte, in Zukunft möchte ich keine alten Holzkästen mehr hier im Haus sehen. Wir sind hier schließlich nicht in einer Lagerhalle. Und wo wir gerade dabei sind: Wie lange fährst du deinen Wagen eigentlich schon?«

»Den Peugeot? Höchstens zehn Jahre«, antwortete er. Estelle bemühte sich, ihn ihre Bestürzung nicht merken zu lassen. »Er war damals ein echtes Schnäppchen: drei Jahre alt, keine Hunderttausend auf dem Tacho und groß genug, um einen ganzen Kleiderschrank zu transportieren.«

»Sag bitte nicht, dass du vorhast, auf Flohmärkte zu gehen.«

»Aber nein, natürlich nicht.«

Jetzt hatte sie ihn verärgert, das spürte sie und wollte die Scharte wieder auswetzen. »Würde es bei deinen Kunden nicht einen besseren Eindruck machen, wenn dein Auto ein wenig neuer und sauberer wäre?«

»Sie würden denken, dass ich zu viel Profit aus meinen Büchern schlage. Aber ich kann den Wagen gerne um die Ecke parken, wenn es dir unangenehm ist, dass er vor dem Haus steht.«

»Nun sei doch nicht gleich beleidigt. Ich dachte nur, du würdest dich über ein etwas schickeres Auto freuen. Einen Neuwagen zum Beispiel.«

Während sie noch sprach, dämmerte es Estelle, dass Peter wohl noch nie einen Neuwagen gekauft hatte. Und nach seinem trotzigen Gesicht zu schließen, hatte er auch nicht die Absicht, es je zu tun.

»Wenn es dich glücklich macht, fahre ich ihn gern durch die Waschanlage.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu.

Seltsam, wie schnell das Internet zu einer Art Sucht werden kann, dachte Estelle. Kaum fängt man an, nach etwas zu googeln, wird man von einem Link zum anderen geführt, und im Handumdrehen ist ein Nachmittag vorüber, ohne dass man etwas zu Ende gebracht hat. Im Gegensatz zu Peter war sie sehr konsequent im Umgang mit dem Internet, sah nur alle zwei Stunden nach neuen E-Mails und googelte höchstens einmal am Tag. Sie würde bei Gelegenheit mit ihm reden müssen, um ihm klarzumachen, dass die intensive Nutzung des Netzes der Konzentration abträglich und unterm Strich reine Zeitverschwendung war. Außerdem war die Bildschirmarbeit nicht gut für die Haut und sorgte für steile Falten zwischen den Augenbrauen, aber das würde sie für sich behalten.

»Bleib nicht zu lange hier oben«, sagte sie.

»Bin schon unterwegs«, entgegnete Peter und gab einen neuen Suchbegriff ein.

Zwei Tage später kam Estelle von der Arbeit heim und fand das Haus in tiefster Dunkelheit. Es war weder das Klirren von Eiswürfeln in Gläsern zu hören, noch war gekocht worden, denn Peter war überhaupt nicht zu Hause.

Das setzte dem Ganzen nun wirklich die Krone auf! Estelle gönnte sich einen besonders großen Gin Tonic. Sollte sie etwa nach einem harten Arbeitstag auch noch selbst für ihr Abendessen sorgen? Plötzlich musste sie unwillkürlich lächeln. Schließlich zeigte ihre Reaktion, wie sehr sie sich seit ihrer Hochzeit bereits an Peters Kochkünste gewöhnt hatte. Sie beschloss, ihm noch zwanzig Minuten zu geben, ehe sie den Notstand ausrufen und sich in der Gefriertruhe auf die Suche nach einem Fertiggericht machen würde.

Gerade als sie die traurigen Relikte in der untersten Schublade der Tiefkühltruhe durchforstete, hörte sie den Schlüssel im Haustürschloss. Peter rief: »Bin wieder da!«

Sie lief ihm entgegen und fragte: »Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Wirklich?« Er klang erfreut. »Es wird dir gefallen zu erfahren, dass ich den ganzen Tag hart gearbeitet habe, um nicht zu sagen: Ich habe richtig rangeklotzt.«

»Hätte ich mir ja eigentlich denken können.« Sie hielt inne und hauchte einen flüchtigen Kuss in Richtung seines Gesichts. »Magst du einen Gin?«

»Gern, aber lieber nur einen kleinen. Wenn ich es richtig einschätze, erwartet mich noch Arbeit an der Küchenfront.«

Sie betrachtete sein staubverschmiertes Gesicht. »Du solltest dir vorher lieber kurz Hände und Gesicht waschen.«

»Ehrliche Arbeit, ehrlicher Schweiß.« Er grinste.

Der ereignisreiche Tag hatte ihn ganz offensichtlich in beste Laune versetzt.

»Wie wäre es mit einem schnellen Omelett?«, schlug er vor. »Im Kühlschrank ist noch ein Rest Cheddar, den könnte ich darüberreiben. Und alles Nötige für einen Salat haben wir auch im Haus.«

Estelle sah enttäuscht aus.

»Wir könnten italienisches Brot toasten und mit Biobutter dazu essen«, bot er an.

Als Estelle an ihrem dritten Gin nippte, drangen zwar Düfte aus der Küche, doch sie waren weniger einladend als gewöhnlich.

»Mist!«

Es war Samstagmorgen. Peter und Estelle saßen am Frühstückstisch. Peter las die Zeitung.

»Was ist los?«, fragte Estelle. Sie aß ihr Brot ungetoastet, weil Peter in letzter Zeit nur noch wenig Zeit für die Küchenarbeit erübrigte.

»Diese blöden Zeitungsfritzen! Hier steht ein fehlerhafter Bericht über etwas, worüber man am besten überhaupt nichts geschrieben hätte«, schimpfte er. »Wie zum Teufel haben die Kerle Wind davon bekommen?«

»Leider habe ich keine Ahnung, worum es geht, und kann dir daher auch nicht weiterhelfen.« Estelle strich noch etwas mehr Butter auf ihr Brot und spülte den Bissen mit köstlich duftendem weißen Tee hinunter.

»Ich muss herausfinden, wie das passieren konnte«, grummelte Peter, stand auf und nahm seine Kaffeetasse und ein Marmeladenbrot mit.

»Bitte nicht krümeln!«, rief Estelle hinter ihm her.

Sie griff nach der Zeitung, weil sie wissen wollte, was ihn derart aufgebracht hatte, fand aber nichts von Bedeutung und wandte sich daher den Buchbesprechungen zu. Hier gab es einen Grund zur Freude: einen Artikel über das letzte Werk einer ihrer Autoren.

Am gleichen Abend wandte sich Gaby an Austin: »Bist du damit durch?«, fragte sie und zeigte auf die letzte Wochenausgabe der Oxford Times.

»Ich hatte zu viel um die Ohren und bin nicht zum Lesen gekommen. Aber gib sie her, dann werfe ich einen kurzen Blick hinein, ehe du sie wegwirfst.«

Beinahe wäre ihm die kurze Nachricht entgangen.

»50 000 Pfund!«, rief er verblüfft.

»Wie bitte?«

»Hier steht es: fünfzig Mille für ein Buch!«

»Hat jemand seinen Roman für so viel Geld verkauft? Mensch, du könntest als Jackson Cutter vielleicht ein Vermögen verdienen!«

»Nein, jemand hat 50 000 für ein altes Buch bezahlt.«

»Bei dem Preis muss es sich ja um eine echte Antiquität handeln«, meinte Gaby.

»Eigentlich war es gar nicht mal so alt«, sagte Austin. »Es geht um eine Ausgabe von Der Herr der Ringe. Wurde die Geschichte nicht sogar verfilmt?«

»Das würde einiges erklären. Hollywood zahlt doch horrende Summen für Schauspieler, Drehbücher und so etwas. War Der Herr der Ringe nicht dieser Film, bei dem ich nach zwanzig Minuten eingeschlafen bin, und als ich nach einer Stunde wieder wach wurde, hatte ich nichts verpasst?«

»Kann schon sein«, erwiderte Austin.

Und wie Gaby feststellen musste, blieb er während des restlichen Abends sehr nachdenklich.

Am Tag vor den Weihnachtsferien freute sich Estelle, dass sie im Büro bereits um drei Uhr Schluss machen konnte. Zu Hause war noch eine Menge vorzubereiten, ehe sie und Peter am nächsten Morgen in die Karibik fliegen würden. Als sie ihren Mantel holte, war ihr Schreibtisch tatsächlich leer. Da klingelte das Telefon. Haben die Leute eigentlich kein Zuhause, schimpfte sie innerlich und warf einen Blick auf die Uhr. »Estelle Livingstone«, bellte sie in den Hörer.

»Oh ja, hallo! Hier ist Todd Erwin. Ich möchte mit Ihnen über meinen Roman sprechen.«

»Müsste ich Sie kennen? Haben Sie mir ein Manuskript geschickt?«

»Ja, und zwar im November, als Sie mich am Telefon darum baten.«

»Richtig, jetzt fällt es mir wieder ein. Sie wollten, dass ich Ihren Erstlingsroman beurteile.«

»Man hatte mich im Vorfeld bereits gewarnt, dass Agenten neue Autoren manchmal etwas kühl behandeln. Ich nehme es Ihnen nicht übel, Mrs Livingstone.«

»Und warum rufen Sie jetzt an?«

»Ich wollte mich lediglich vergewissern, dass mein Werk nicht unter die Räder gekommen ist, wenn Sie den Ausdruck gestatten. Ich hatte gehofft, schon längst wieder von Ihnen zu hören.«

»Wie lautet der Titel?«

»Das Buch heißt Die Drehung der Daumenschraube und ist von mir. Von Todd Erwin.«

»Ging es nicht darum, wie Sie richtig reich werden wollen?«

»Ich? Oh, ich bin alles andere als reich. Nein, es geht um einen jungen, dreiundzwanzigjährigen Mann, der von seinen Eltern nie richtig verstanden wurde und …«

»Ja, auch das klingt vertraut. Ja, da ist es. Das Manuskript trägt den Eingangsstempel vom zwölften November. Heute kann ich leider nichts mehr für sie tun, aber nach Neujahr melde ich mich bestimmt.«

»Können wir nicht am Telefon kurz das Wichtigste besprechen?«

»Dazu habe ich jetzt leider keine Zeit, Mr Erwin. Aber wie gesagt: Nach Neujahr melde ich mich.«

»Das, was ich geschrieben habe, ist um Längen besser als der Mist, den man im Fernsehen vorgesetzt bekommt«, bemerkte Todd Erwin mit anklagender Stimme.

»Nun, wir werden sehen. Aber ich muss jetzt weitermachen, und Ihnen geht es sicher ähnlich. Auf Wiederhören. Und frohe Weihnachten!« Damit legte Estelle auf.