11

»Und das war’s dann«, endete Kate, nachdem sie Jon abends von ihrem Ausflug nach London berichtet hatte. »Mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehen.«

»Und welche Erklärung hast du mit deiner blühenden Fantasie für die Vorgänge gefunden?«

»Ich bin verwirrt. Ich habe keine Ahnung, was da los sein könnte, spüre aber ein deutliches Unbehagen. Und du?«

»So, wie es sich anhört, ist sie am Samstag freiwillig mit diesem unbekannten Mann weggegangen. Warum sie das tat und mit wem sie wohin verschwunden ist, geht uns nichts an. Wenn der besagte Mann allerdings der gleiche war, der Peter heute Morgen angerufen hat, dann ist es sehr merkwürdig, dass sie erneut verschwunden sein soll. Wohin ist sie gegangen, nachdem sie seine Wohnung verlassen hat? Und warum hat sie sich nicht gemeldet?«

»Vielleicht hat sie ihre Pläne geändert und ist zu diesem Mann zurückgekehrt.«

»Warum hätte sie ihn dann zunächst verlassen? Außerdem hat er vier Stunden später bei ihr zu Hause angerufen und wollte sie sprechen. Vielleicht wollte sie allein sein, um nachzudenken. Für mich wäre das die wahrscheinlichste Erklärung. Sollte meine Theorie stimmen, wird sie sicher bald wieder auftauchen und sich an ihre Arbeit machen. Du musst nur abwarten und dich noch ein wenig gedulden.«

»Und die SMS?«

»Du hast nur einen Teil von ihr gesehen, daher können wir uns kein Urteil erlauben. Sie könnte sogar von Estelle selbst gewesen sein.«

»Wieso hat er dann die Nummer nicht erkannt?«

»Sie könnte zum Beispiel ihr Telefon verloren und ein billiges Prepaid-Gerät gekauft haben.«

»Was ist mit den Dingen, die Peter davor gesagt hat? Dass es nicht seine Schuld wäre, sondern die seiner Eltern. Und wenn er sich nichts hat zuschulden kommen lassen, wieso wird dann Lösegeld von ihm gefordert?«

»Vielleicht meinte er das im übertragenen Sinn. Nach dem zu urteilen, was du mir erzählt hast, hat er seit Estelles Verschwinden zu Hause gesessen, zu viel getrunken und über sämtliche Ungerechtigkeiten nachgedacht, die ihm je im Leben widerfahren sind.«

»Bleibt immer noch die Tatsache, dass Estelle verschwunden ist und Peter sich weigert, etwas herauszurücken, was ihm offenbar nicht gehört. Und dass er sich mehr Sorgen um das Zweite als um das Erste zu machen scheint.«

»Kate, mehr kannst du wirklich nicht unternehmen. Hab Geduld. Bestimmt ist Estelle morgen früh schon wieder da. Aber nach einem so aufregenden Tag hast du sicher einen Riesenhunger. Soll ich das Essen auftragen?«

»Sehr gern. Eine Flasche Wein dazu?«

»Ich denke, die haben wir uns verdient.«

Als sie nach dem Essen bei einem Glas Wein im Wohnzimmer zusammensaßen, drehten sich Kates Gedanken erneut um ihre verschwundene Agentin.

»Ich glaube, dass Estelle nach Hause gehen wollte, als sie heute Morgen um halb acht die Wohnung dieses unbekannten Mannes verließ. Unverständlich ist allerdings, was anschließend geschah. Wir reden hier von Estelle, das dürfen wir nicht vergessen. Nach vier Tagen wird sie ein ausgedehntes Bad mit teurem Badeöl genießen, ihre edlen Gesichtscremes benutzen und sich endlich umziehen wollen. Und sicher steht ihr der Sinn nach einem großen Gin Tonic. Wo gibt es das alles? Natürlich bei ihr zu Hause.«

Jon seufzte. »Vielleicht hat sie einen Freund oder eine Freundin getroffen und ist mit ihm oder ihr heimgegangen. Wir können nur spekulieren. Einfacher wäre es, wenn wir wüssten, wo sich diese Wohnung befindet, in der sie war.«

»Sie muss nicht einmal unbedingt in London sein.«

»Du könntest Peter morgen noch einmal anrufen. Falls Estelle dann immer noch nicht zurück ist, fragst du ihn, ob er nach dem Anruf daran gedacht hat, die 1471 für die Rufnummernrückverfolgung anzurufen.«

»Wird gemacht. Es gibt auch noch eine andere Spur, der ich nachgehen möchte. Auf dem Couchtisch lag ein Brief, den Peter vor mir zu verstecken versuchte, aber ich habe genug erkennen können, um zu wissen, dass er von Adela Carston stammt. Erinnerst du dich an sie? Sie saß beim Essen mit uns am Tisch. Ich werde sie ausfindig machen und sie fragen, um was es geht.«

»Aber das muss nicht unbedingt mit Estelle zu tun haben. Würdest du auf mich hören, wenn ich dich bäte, die Sache endlich auf sich beruhen zu lassen?«

»Ehrlich gesagt: eher nicht.«

Am Donnerstagmorgen kam die Post etwas früher als gewöhnlich. Jon wollte gerade zur Arbeit aufbrechen. Er trug sie ins Wohnzimmer, zog einen blauen, handbeschriebenen Umschlag aus dem Stapel, öffnete ihn und überflog den Inhalt des Briefes.

»Der ist von meinem Freund Craig«, sagte er zu Kate. »Er will uns für ein paar Tage besuchen.«

»Ach ja? Und wann?«

»Er kommt am Montag.«

»Für wie lange?«

»Ich habe jetzt keine Zeit, dir alles zu erzählen. Lass uns heute Abend darüber sprechen.«

Mit diesen Worten verließ er das Haus.

Weil es keinen Sinn machte, sich über diesen Besuch den Kopf zu zerbrechen, vergaß Kate ihn kurzerhand und wählte stattdessen Estelles Privatnummer. Insgeheim erwartete sie fast, dass Estelle selbst abheben und sich maßlos über Kates Besorgnis wundern würde. Doch es war Peter, der den Anruf entgegennahm. Nein, er hatte nichts von Estelle gehört, und die 1471 hatte er auch nicht angerufen. Wie hätte er auch daran denken sollen? Er hatte schließlich ganz andere Dinge im Kopf gehabt. Seine Erklärungen konnten Kate nicht wirklich überzeugen, aber sie drängte nicht weiter.

»Gab es vor Estelles Verschwinden merkwürdige Anrufe?«, fragte sie schließlich. »Oder irgendetwas anderes, was Ihnen aufgefallen ist?«

»Während unseres Weihnachtsurlaubs wurde in unser Haus eingebrochen, aber nichts gestohlen. Eine ziemlich seltsame Aktion. Ach ja, Estelle ist auch davon überzeugt, dass irgendjemand heimlich während einer Mittagspause in ihrem Büro gewesen ist. Allerdings glaube ich, dass sie sich das nur einbildet.«

»Ist sie da sicher?«

»Ziemlich sicher.«

»Neue SMS?«

»Nein.«

Kate war mit dem Ergebnis des Gesprächs alles andere als zufrieden und machte sich auf die Suche nach Adela Carston. Im hellen Tageslicht erschien die Spur längst nicht so vielversprechend wie am Abend zuvor. Hätte Peter den Brief nicht so hastig gefaltet und wieder in den Umschlag gesteckt, wäre Kates Neugier wohl gar nicht erst geweckt worden. Sie kramte in ihren Erinnerungen nach Adela Carston. Die alte Dame war klein, ein bisschen verwirrt und sprach entweder über ihre Romanze in London während des Krieges oder über die Bücherleidenschaft ihres verstorbenen Mannes.

Kate begann mit dem Telefonbuch. Glücklicherweise war Carston kein sehr häufiger Name. Unter den wenigen Trägern fand sich tatsächlich der Eintrag Carston, A. Die zugehörige Adresse lautete: Cornbury Close, Oxford. Kate googelte und stellte fest, dass es sich um eine Sackgasse in der Nähe der Woodstock Road in North Oxford handelte. Sie konnte von Jericho dorthin laufen.

Zunächst überlegte sie, ob sie sich telefonisch anmelden sollte, ehe sie bei Adela klingelte, doch dann entschloss sie sich dagegen. Die alte Dame erinnerte sich vielleicht nicht, oder sie würde Kate aus irgendeinem Grund nicht sehen wollen. Kate war sicher, dass sie bei einem persönlichen Treffen größere Chancen hätte, ins Haus gelassen zu werden. Zu einer Zeit, von der sie annahm, dass alle Damen in Adelas Alter den Wasserkessel aufsetzten, um sich eine Tasse Tee zu machen, zog sie sich um. Sie entschied sich für ihre konservativste schwarze Hose, einen hochgeschlossenen Pullover und eine dicke Jacke und machte sich auf den Weg zur Woodstock Road.

Cornbury House 17 war ein weiß verputztes Puppenhaus mit bleigefassten Bogenfenstern, einem Ziegeldach und vielen Sträuchern im Vorgarten, das aus den zwanziger oder dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts zu stammen schien. Eine rote Katze mit einem zerfledderten Ohr kam aus einem Schneeball-Busch, begrüßte Kate und begleitete sie zur Haustür. Kate klingelte. Die Katze schmiegte sich an ihre Beine und hinterließ ganze Büschel rötlicher Haare an der schwarzen Hose.

»Clement, du schlimmer Junge! Hast du dich wieder draußen herumgetrieben?«

Die Katze schoss an ihr vorbei ins Haus. Kate stand vor einer kleinen, weißhaarigen Person, die sie fragend anblickte.

»Guten Tag, Mrs Carston.«

»Guten Tag, meine Liebe. Kennen wir uns?« Ihre Stimme klang fragend. Sie schien daran gewöhnt zu sein, manchmal sowohl Namen als auch Gesichter zu vergessen.

»Mein Name ist Kate Ivory. Wir saßen bei Peters und Estelles Hochzeit am gleichen Tisch. Vielleicht erinnern Sie sich.«

»An Estelle erinnere ich mich natürlich. Ihr Vater ist ein sehr lieber alter Freund von mir. Wir haben uns während des Krieges kennengelernt. Estelles Ehemann scheint ein wirklich sympathischer Mann zu sein. Bei dieser Hochzeit wurden mir sehr viele Menschen vorgestellt, daher muss ich leider gestehen, dass ich nicht alle Namen und Gesichter behalten habe.«

»Wir haben uns am Tisch hauptsächlich über Bücher unterhalten. Wir waren drei Autoren, ein Geschwisterpaar, das eine Buchhandlung betreibt, und Sie, die uns von der Büchersammlung Ihres Mannes erzählten. Irgendwann im Lauf des Tages schlugen Sie vor, ich solle doch einmal auf eine Tasse Tee bei Ihnen vorbeischauen. Und da bin ich nun.«

Adela blickte sie zweifelnd an.

»Du liebe Zeit, Sie haben mich vergessen, nicht wahr? Soll ich lieber wieder gehen?«

»Ich fürchte, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher.« Sie warf einen prüfenden Blick in Kates Gesicht. Offenbar fand sie dort nichts Beunruhigendes, denn sie fuhr fort: »Kommen Sie doch ins Haus. Hätten Sie denn Lust auf eine Tasse Tee?«

»Sehr gern«, antwortete Kate und folgte ihr in den Hausflur. Clement, der rote Kater, kratzte an einer der cremefarben lackierten Türen. Mrs Carston öffnete sie einen Spalt breit und ließ ihn hinein. Kate erhaschte einen Blick auf ein pelziges Gewimmel. Ein Katzenzimmer.

Mrs Carston öffnete eine weitere Tür, die in ein Zimmer mit Sesseln und Sofas mit fadenscheinigen Chintzbezügen führte. Auf sorgfältig polierten Tischen standen Porzellanfigürchen und kleine Emailledosen. An den Wänden hingen Landschaftsaquarelle, und auf den Sofas lagen bestickte Kissen. Aus einem Silberrahmen blickte ein erfolgreich aussehender Mann mittleren Alters. Sein Haar war dicht und leicht ergraut, die Nase sprang fast aggressiv aus seinem schroffen Gesicht, und seine Augen hatten einst genau in die Kamera gestarrt.

»Das ist mein verstorbener Mann Victor«, erklärte Adela.

»Er sah sehr gut aus«, meinte Kate. Aber sein Gesicht war nicht freundlich. Hatte Edgar Livingstone nicht gesagt, er sei ein Tyrann gewesen? Nun, dem Foto nach zu urteilen konnte er damit durchaus richtigliegen. Ein gewisser Zug um Victors Mund und die Geringschätzung der Welt, die aus seinen Augen sprach, verrieten ihn.

»Sehr hübsch hier«, lobte Kate. »Von hier aus hat man einen guten Blick in Ihren wunderbaren Garten.« Der Garten mochte einst tatsächlich schön gewesen sein, aber jetzt hätten die Pflanzen dringend eines Rückschnitts bedurft. Der Rasen war im Oktober offenbar nicht mehr gemäht worden. Zerrupfte Büschel wuchsen bis zu einer hohen Buchenhecke an der Grundstücksgrenze. »Die Katzen sind sicher gern dort draußen«, fügte Kate hinzu.

»Mag sein, aber ich sehe zu, dass sie die meiste Zeit im Haus bleiben. Der freche Clement entwischt mir manchmal, wenn ich ihnen ihr Futter bringe.«

Sie gingen weiter in die Küche. Kate sah, dass ein Teetablett für eine Person vorbereitet war. Mrs Carston schaltete den Wasserkessel noch einmal ein, holte eine Tasse nebst Untertasse aus dem Schrank und öffnete eine Dose mit losem Tee. Teebeutel kamen für Mrs Carston nicht infrage.

»Ich bin so weit«, sagte sie, als der Tee fertig war. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Tablett zu nehmen? Ich öffne Ihnen die Türen.«

Sie machten es sich im Wohnzimmer bequem, und Kate überlegte, wie sie den Brief an Peter am besten ansprechen könnte.

Mrs Carston nahm auf der Kante eines Sessels Platz und betrachtete ihre Besucherin.

»Entschuldigen Sie, meine Liebe, wie heißen Sie noch?«

»Kate. Kate Ivory. Wir haben uns bei der Hochzeit von Estelle und Peter kennengelernt. Haben Sie die beiden seither wiedergesehen?«

»Estelle hat immer viel zu tun, aber Peter hat mir sehr geholfen. Er ist sehr zuverlässig, auch wenn Austin etwas anderes behauptet.«

»Austin?«

»Mein Enkel. Ich finde, er ist nur eifersüchtig. Dabei hat er nichts zu befürchten. Er sollte sich nur allmählich darauf konzentrieren, ein nettes Mädchen zu finden und sesshaft zu werden. Diane wünscht sich schon lange ein Enkelchen.«

»Wer ist Diane?«

»Meine Tochter. Austins Mutter. Sie hat sich große Mühe gegeben, ihn allein großzuziehen. Ich glaube, Austin hat es Victor nie gedankt, dass dieser sich nach Olivers Tod so für ihn einsetzte.«

»Oliver?«

Langsam verlor Kate den Überblick über Adelas Familie.

»Dianes Mann. Mein Schwiegersohn. Austins Vater.«

»Ah, ich glaube, ich verstehe. Dann ist Oliver also gestorben, als Austin noch ein Kind war, und Victor ist sozusagen als Vater eingesprungen.«

»Er hat dem Jungen in seinem Testament auch eine gewisse Summe vermacht.«

»Was Austin aber nicht genügte.« Allmählich blickte Kate durch. »Sammelt Ihr Enkel ebenfalls Bücher?«

»Oh nein. Austin ist im Immobiliengeschäft, allerdings habe ich den Eindruck, dass es im Augenblick finanziell nicht so gut läuft.«

»Ist er Makler?«

»Er nennt sich Bauunternehmer, was immer das bedeuten mag. Wenn er tatsächlich so viele Immobilien besäße, wie er immer behauptet, müsste er mich nicht ständig um Geld angehen.«

»Wohnen sie hier in Oxford?«

»Wen meinen Sie, meine Liebe?«

»Diane und Austin.«

»Ja, aber natürlich nicht zusammen. Trotzdem bin ich froh, sie in meiner Nähe zu haben. Erst kurz vor Weihnachten waren sie hier bei mir. Ich hatte sie eingeladen. Das tue ich jedes Jahr. Aber ich habe Austin erklärt, es würde allmählich Zeit für ein paar Kinder. Dann könnte ich zu Weihnachten wieder Plätzchen backen. Aber er war schlecht gelaunt und hat überhaupt nicht zugehört. Er sprach immerzu nur von Victor und davon, dass man ihm noch etwas schulde. Ganz anders als sonst.«

»Haben Sie Peter in letzter Zeit noch einmal gesehen? Ich spreche von Estelles Ehemann.«

»Das ist wohl schon eine Weile her.«

»Kam er Ihnen irgendwie besorgt vor?«

»Nein, meine Liebe. Wieso?«

»Ach, nichts Besonderes.«

So würde Kate nicht weiterkommen. Sie blickte sich um und stellte fest, dass zwar sämtliche freien Oberflächen mit Nippsachen vollgestopft waren, überall Kissen herumlagen und ein ganzes Regal vor Zeitschriften fast überquoll, aber dass es nirgends Bücherregale gab und sich auch sonst kein einziges Buch im Raum befand. Sie dachte an ihr eigenes Haus, wo die Wände mit Bücherregalen geradezu tapeziert waren und neben jeder Sitzgelegenheit Bücherstapel lagen.

»Wo bewahren Sie Ihre Bücher auf?«, erkundigte sie sich.

»Das Buch, das ich mir gerade aus der Bibliothek geliehen habe, liegt auf meinem Nachttisch«, sagte Adela.

»Hatten Sie nicht erwähnt, dass Ihr Ehemann ein Sammler war?«

»Victor hätte mir nie gestattet, seine Bücher zu lesen.«

»Tatsächlich? Wie merkwürdig!«

»Er war sehr penibel damit.«

»Ich hatte Vitrinenschränke voll ledergebundener Bücher erwartet.«

»Nein, sie werden im Keller aufbewahrt.«

»Ich würde sie sehr gern einmal sehen.«

»Leider können wir nicht hinuntergehen. Meine Knie machen das nicht mehr mit.«

Wenn es dort unten wirklich wertvolle Bücher gab, hoffte Kate, dass sie sich außer Reichweite der Katzen befanden. Kate mochte Katzen, aber nicht in Rudeln. Sie dachte an die zierliche, rote Susanna, die auf ihren Knien gesessen und freundschaftlich geschnurrt hatte, die abends miauend ins Arbeitszimmer gekommen war und sich die Krallen an ein paar wichtigen Manuskriptseiten geschärft hatte, wenn sie fand, dass es Zeit für ihr Abendessen war – diese Katze hatte sie wirklich geliebt. Die Vorstellung, dass ganze Bücherberge in einem feuchten Keller vor sich hin moderten und von einem Trupp Katzen als Toilette benutzt wurde, verursachte ihr jedoch Unbehagen. Bücher waren dazu da, unter Menschen gebracht und gelesen zu werden.

»Peter ist sicher wegen dieser Bücher bei Ihnen gewesen?«

»Wie bitte?« Adela warf Kate einen misstrauischen Blick zu. »Warum stellen Sie mir diese Fragen? Haben Sie es etwa auf meine Bücher abgesehen? Anscheinend will sie jeder in seinen Besitz bringen, aber das lasse ich nicht zu!« Ihre Hände zitterten, und auf ihren Wangen zeichneten sich rote Flecke ab.

»Aber nein, alles ist in bester Ordnung. Ich habe weiß Gott genug Bücher und denke nicht im Traum daran, Ihnen Ihre zu nehmen.«

Zeit zu gehen, dachte Kate.

Auf dem Heimweg machte sie einen kleinen Umweg, kaufte griechische Oliven und eine Flasche Wein und kehrte auf einer anderen Strecke nach Hause zurück. Auf der North Parade fiel ihr eine glänzende, schwarze Tür mit einer polierten Messingplatte und der Aufschrift Anwaltskanzlei John, Haffney & Hume auf. Ein paar Hundert Meter weiter kam sie an einem noch unfertigen Neubau vorbei, der offenbar aufgegeben worden war. Sie blieb stehen. Das Namensschild hatte sie neugierig gemacht. Austin Brande, Bauunternehmer. Hume? Brande? Diese Leute schienen sie ja geradezu zu verfolgen! Oder war das nur ein Zufall? Aber warum sollte Austin Brande nicht Adelas Enkel sein? Zu dumm, dass sie Adela nicht nach seinem Nachnamen gefragt hatte.

»Und das war alles«, beendete Kate ihren Bericht. Sie hatte Jon von ihrem nachmittäglichen Ausflug erzählt. »Ich habe nichts Wissenswertes erfahren und glaube auch nicht, dass Adela Carston etwas mit Estelles Verschwinden zu tun hat. Sie sagt, dass Estelle immer beschäftigt ist und dass sie sie seit der Hochzeit nicht mehr gesehen hat. Allerdings brachte sie auch Ereignisse der jüngeren Vergangenheit durcheinander. Man darf ihre Worte also nicht unbedingt auf die Goldwaage legen.«

»Du hast wirklich alles getan, was möglich ist, Kate. Du solltest jetzt aufhören.«

»Aber warum verschwindet Estelle ohne ein Wort?«

»Nicht einmal eine kleine Notiz?«

»Nichts.«

»Wenn sie nichts hinterlassen hat, geht sie wahrscheinlich davon aus, dass Peter weiß, wo sie ist und warum sie sich dort aufhält.«

»Ich bin ganz sicher, dass er es nicht weiß. Sie verschwand an einem Samstag. Sie hätte ihren Koffer packen und einen Brief mit einer Erklärung schreiben können, warum sie geht, wohin sie geht und wann sie wiederkommt. Das hätte zu Estelle gepasst. Da sie es nicht getan hat, gehe ich davon aus, dass irgendein Fremder sie überredete oder zwang, mit ihm zu gehen. Er rief Peter an und sagte ihm, er solle sich keinesfalls einmischen – okay, das ist jetzt reine Spekulation –, und ein paar Tage später rief er erneut an, um sich zu erkundigen, ob Estelle wieder zu Hause angekommen sei. Hört sich das für dich nach Ehekrach an?«

»Warum gehst du von einem fremden Mann aus? Es könnte doch auch jemand gewesen sein, den Estelle kennt und dem sie vertraut. Stell dir vor, Estelle wäre freiwillig gegangen. Zum Beispiel mit einem alten Freund aus früheren Tagen oder sogar einem ehemaligen Liebhaber, der möglicherweise ihre Hilfe braucht. Vielleicht hat Peter nur voreilige Schlüsse gezogen, als er sich in seiner Wohnung vergraben, betrunken und die schlimmsten Sachen ausgemalt hat. Er glaubt, Estelle habe ihn betrogen, und sie will nicht nach Hause zurückkehren, ehe er sich nicht entschuldigt hat. Möglicherweise hatte auch einer ihrer Autoren ein Problem, oder es gab irgendeinen Notfall.«

»Welche Art von Notfall? Eine Schreibblockade? Ein Streit über eine Passage in einem Vertrag?«

»Ich habe gehört, dass Autoren manchmal sehr launisch sein können.«

»Aha!«

»Es muss ja kein Autor gewesen sein. Es könnte ja auch ein – ich weiß auch nicht, irgendwer anderes gewesen sein.«

»Adela kam übrigens wieder vom Hölzchen aufs Stöckchen und sprach über ihren Enkel – erinnerst du dich, wie sie bei der Hochzeitsfeier war? Jedenfalls habe ich den Enkel kurz gesehen, als er gegen Ende der Veranstaltung kam und seine Großmutter und deren Freundin abholte. Eigentlich ein ganz normaler Typ, der sehr nett mit ihr umging. Allerdings scheint Adela zu glauben, dass er hinter irgendetwas aus ihrem Besitz her ist. Es hat wohl mit den Büchern ihres verstorbenen Mannes zu tun.«

»Handelt es sich dabei um die ganz normalen Wahnvorstellungen älterer Herrschaften?«

»Schon möglich. Aber stell dir doch einmal vor, Adela hätte ein Buch – ein wertvolles Buch, falls sie so etwas überhaupt besitzt – an Peter verkauft. Austin jedoch ist der Meinung, dass das Buch ihm gehöre und dass sie es nicht hätte verkaufen dürfen. Er will das Buch zurückhaben. Er ruft Peter an, der aber nicht mit sich handeln lässt. Also wendet er sich an Estelle.«

»Na ja, könnte sein. Kennst du seinen Nachnamen?«

»Nein, aber auf dem Heimweg kam ich an einer Baustelle vorbei. Auf dem Schild Stand Austin Brande, Bauunternehmer. Adela hat mir erzählt, dass er beruflich etwas in der Richtung macht.«

»Warum sollte er sich für alte Bücher interessieren, wenn er mit Immobilien zu tun hat?«

»Auf der Baustelle wurde nicht gearbeitet. Sie sah verlassen aus. Vielleicht will er sich verändern.«

»Du wirst mir doch jetzt nicht erzählen, dass du Austin Brande anrufen und ihn fragen willst, ob er Estelle entführt hat?«

»Ich muss zugeben, dass sich eine solche Frage nur sehr schwer in einem zwanglosen Telefonat unterbringen lässt.«

»Mir scheint, Estelles Verschwinden hat nichts mit deiner zerstreuten alten Dame zu tun. Und nachdem wir weder wissen, warum Estelle weg ist, noch wo sie ist oder ob sie allein ist, weiß ich nicht, wo du anfangen willst, nach ihr zu suchen.«

»Was sollte ich deiner Meinung nach als Nächstes tun?«

»Da gibt es nicht mehr viel zu tun.«

»Vielleicht fahre ich noch mal nach London und versuche, mehr aus Peter herauszubekommen. Er weiß ganz bestimmt mehr, als er mir gesagt hat.«

»Pass bloß auf. Nicht, dass du auch noch verschwindest wie Estelle. Außerdem glaube ich nicht, dass er dich nach eurer letzten Begegnung noch einmal ins Haus lässt.«

»Da magst du wohl recht haben. Ich kann ihn mir genau vorstellen, wie er in diesem Ungetüm von Lehnstuhl kauert, auf die Türklingel horcht und sich nicht von der Stelle rührt. Der Mann kann ganz schön störrisch sein.«

»Dann hast du ja dein Pendant gefunden.«

»Ich gebe trotzdem nicht auf.«

»Wie sieht es übrigens mit Abendessen aus?«

»Es brutzelt im Backofen. Das Gemüse habe ich auch schon vorbereitet. Wenn du magst, bin ich in zehn Minuten fertig.«

»Dann haben wir ja noch Zeit für ein Glas Wein zur Entspannung.«

»Stimmt. Wenn du das Gemüse aufsetzt, schenke ich ein.«

»Erzähl mir doch von deinem Freund Craig«, sagte Kate, als sie am Tisch saßen. »Ich kann mich nicht erinnern, dass du ihn früher schon einmal erwähnt hast. Ist er einer deiner Segelkumpel?«

»Das nicht. Wir waren zusammen auf der Schule und haben seither losen Kontakt gehalten.«

»Was macht er beruflich?«

»Er ist im Lehrkörper einer Universität im Norden. Er gönnt sich gerade ein Sabbatjahr und will einige der Oxforder Bibliotheken besuchen. Es hat irgendetwas mit einer Abhandlung zu tun, an der er zurzeit arbeitet.«

»Was für eine Abhandlung?«

»Etwas Juristisches. Kriminologie, soviel ich weiß.«

»Und wie lang wird er bleiben?«

»Höchstens eine Woche. Er kann im Gästezimmer schlafen. Ich glaube nicht, dass er stören wird.«

»Gut. In Ordnung.« Solange Estelle nicht wieder auftauchte, konnte sie sich ohnehin nicht auf ihre Arbeit konzentrieren. »Was ist er für ein Typ?«

»Ziemlich ruhig und schrecklich intelligent. Er schafft das Kreuzworträtsel im Guardian in weniger als fünf Minuten.« Kate gähnte demonstrativ. »Tut so, als hätte er mit Sport nichts am Hut, ist aber ein ausgezeichneter Squash-Spieler. Er ist ein zuverlässiger Freund, jemand, den man bei Streitigkeiten gern an seiner Seite weiß.«

»Also eine Mischung aus Clark Kent und Superman«, stellte Kate fest. »Aber er kehrt doch hoffentlich irgendwann an seine Uni zurück, oder?«, hakte sie nach. Plötzlich fürchtete sie, dieser Craig könne sich monatelang bei ihnen einnisten, sich auf ihre Kosten durchfuttern und einfach immer da sein.

»Ja, natürlich. Ich muss ihn noch anrufen. Wäre dir recht, dass er schon morgens kommt?«

»Nicht zu früh, wenn es geht«, sagte Kate, die keine Lust hatte, den gesamten Tag mit einem Unbekannten zu verbringen. Aber vielleicht dachte sie dann wenigstens nicht ständig an Estelle. Und möglicherweise konnte sie ja seinen hochgelobten Intellekt anzapfen. Zumindest hätte sie jemanden, mit dem sie reden und ihren Ideen freien Lauf lassen konnte. Unter Umständen hätte er für ihre Sorgen sogar mehr Verständnis als Jon. Es sei denn, er verschwand sofort in die Bibliothek und tauchte erst zum Abendessen wieder auf.

»Ich habe Peter heute Morgen noch einmal angerufen«, erzählte sie.

»Und? Gibt es Neuigkeiten?«

»Er behauptet nein, aber irgendwie kann ich ihm nicht ganz glauben. Ich habe ihn gefragt, ob es vor Estelles Verschwinden merkwürdige Anrufe oder SMS gegeben habe – oder sonst irgendetwas, was ihm außergewöhnlich vorkam. Angeblich wurde zweimal bei ihnen eingebrochen, ohne dass der Einbrecher etwas mitgenommen hätte, und Peter schien sich sicher, dass das nichts mit Estelle persönlich zu tun hat. Ich wünschte, ich hätte ihn gefragt, wie ich seinen Bruder kontaktieren kann, und was es mit Charley Hisper auf sich hat.«

»Mit wem?«

»Das war der Mann, der auf der Hochzeit so betrunken war und Myles beleidigt hat.«

»Ich wage zu bezweifeln, dass dieser Vorfall etwas mit Estelle zu tun hat. Der Kerl kann sich inzwischen sicher nicht mehr an seinen Fauxpas erinnern. Und warum willst du wissen, wo Peters Bruder wohnt?«

»Ich würde gern mit Myles Hume und seiner Frau sprechen. Wenn es nämlich ein Familienstreit war, wissen die beiden vielleicht, um was es ging und wohin Estelle verschwunden sein könnte. Möglicherweise löst sich die ganze Sache dann sehr schnell in Wohlgefallen auf.«

»Sicher nicht. Ich halte das für keine gute Idee.«

»Was ist daran nicht gut?«

»Ich fürchte, es bringt mehr Schaden als Nutzen, wenn du in Peters Familienangelegenheiten herumstöberst. Und woher willst du überhaupt wissen, wie Myles auf eine solche Einmischung reagiert? Hast du bei der Hochzeit mit ihm gesprochen?«

»Nein.«

»Nun, er wird wohl kaum mit einer völlig Fremden über das Familienleben seines Bruders reden.«

Dem konnte Kate kaum widersprechen. »Aber vielleicht weiß seine Frau mehr als die beiden Männer.«

»Estelle macht mir nicht den Eindruck, als hielte sie gern ab und zu bei Kaffee und Kuchen ein Schwätzchen mit ihrer Schwägerin.«

»Aber ich muss etwas tun, um sie zu finden, sonst werde ich noch verrückt. Gleich morgen früh mache ich einen Plan.«

»Morgen? Ich dachte, du bereitest das Gästezimmer für den Besuch von Craig vor, denkst dir ein paar ausgesuchte Gerichte aus und gehst zum Covered Market, um die Zutaten zu kaufen.«

»Frische Handtücher hinzuhängen und ein kurzer Einkaufstrip kosten mich höchstens eine Stunde. Aber danach konzentriere ich mich darauf, meine Agentin ausfindig zu machen.«

»Eine Sache wundert mich allerdings«, sagte Jon plötzlich nachdenklich.

»Was denn?«

»Wenn Estelle tatsächlich freiwillig mit diesem mysteriösen Unbekannten weggegangen ist, hätte sie nicht ihre Autoren wissen lassen, dass sie ein paar Tage nicht erreichbar ist?«

»Ganz genau. Das ist eine der Fragen, die mir Kopfzerbrechen bereiten.«